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UTOPIE Verkehrswende
Reporter-Legende Wallraff über sein Undercover-Leben
Foto: Bernd Lammel
Interviews

Reporter-Legende Wallraff über sein Undercover-Leben 

Günter Wallraff. Undercover-Rollen sind sein Markenzeichnen. Seit Jahrzehnten deckt Wallraff Missstände und Skandale in der Gesellschaft auf. Seine größten Erfolge: Als Redakteur Hans Esser arbeitete er undercover bei BILD und machte deren fragwürdige Arbeitsweisen öffentlich. Das dazugehörige Buch „Der Aufmacher“ (1977) ist bis heute ein Millionenbestseller. Wenige Jahre später war er der „Türke Ali“ und schuftete, verdeckt und an seine Grenzen gehend, in den Stahlwerken von „Thyssen“. Seine Erfahrungen hielt er in „Ganz unten“ (1983) fest – gelebte Zeitgeschichte und zudem mit fünf Millionen Exemplaren das meisterverkaufte Sachbuch im Nachkriegsdeutschland, es wurde in 38 Sprachen übersetzt.

Günter Wallraff war und ist seit Jahrzehnten für viele Journalisten ein Vorbild – nicht nur in Deutschland. In Schweden setzte man ihm schon vor mehr als 30 Jahren ein sprachliches Denkmal. – So wie in der Medizin der Name Röntgen für medizinisches Durchleuchten steht, spricht man dort bei investigativen Recherchen, also dem gesellschaftlichen Durchleuchten, vom „wallraffen“.

NITRO traf den Vollblutjournalisten in den vergangenen 15 Jahren mehrfach zum Interview. Dieses Gespräch wurde im Juli 2020 in seinem Haus in Köln-Ehrenfeld geführt.

? Sie sind seit mehr als 50 Jahren einer der bekanntesten und couragiertesten Journalisten dieses Landes. Welche Bezeichnung trifft am genauesten auf Sie zu: Dokumentarschriftsteller, Investigativjournalist, Enthüllungsjournalist oder Undercoverjournalist?

! Es ist von allem etwas. Ich bin Reporter im ursprünglichen Sinne. Es gab Versuche, mich in den Bereich der Kunst zu verlagern, und ich wurde als Aktionskünstler bezeichnet. Das lehne ich ab. Das würde meine Arbeit eher verharmlosen.

? Mehr als fünf Jahrzehnte sind Sie in viele Rollen geschlüpft, um gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen. Sie haben in einer Zeit begonnen, als die Industriereportage kaum jemand auf dem Zettel hatte. Sind Sie von Anfang an ganz bewusst gegen den Strom geschwommen?

! Die Industriereportagen waren nicht der Anfang meiner Arbeit. Ich veröffentlichte schon früh in einer Zeitschrift für experimentelle Lyrik und hatte erste Erfolge mit abstrakter Kunst. Meine eigentliche Arbeit habe ich – rückblickend gesehen – der Bundeswehr zu verdanken. Ohne die damalige Bundeswehr wäre mein ganzes berufliches Leben sicher völlig anders verlaufen– vielleicht leichter.

? Also Sie wären jetzt wirklich der Letzte, von dem ich ein Lob auf die Bundeswehr erwartet hätte. Können Sie das erklären?

! Ich war Kriegsdienstverweigerer, habe mich unter anderem auf pazifistische Literatur, auf die Bergpredigt und auf Ghandi berufen. Ich wurde aber trotzdem eingezogen und zehn Monate lang deren Willensbrechungsmethoden ausgesetzt, weil man mich zur Räson bringen wollte. Die Bundeswehr war damals noch von alten Nazis durchsetzt, da wurden alte Wehrmachtslieder gegrölt, und an manchen Standorten wählte jeder dritte Berufssoldat die NPD. So habe ich zehn Monate lang eine meiner längsten Rollen durchgehalten. Allerdings musste ich mich nicht verstellen, denn ich war in dieser Rolle immer ich selbst, habe immer dagegengehalten.

? Haben Sie ein Beispiel?

! Ich weigerte mich strikt, ein Gewehr in die Hand zu nehme. Wenn wir durch Dörfer marschierten, wollte man mich der Lächerlichkeit aussetzen. Ich musste einen Tragestock schultern wie ein Kind, das Soldat spielt, und hinter den anderen hermarschieren. Ich habe mir dann einen Feldblumenstrauß an den Stock gebunden und hatte die Lacher auf meiner Seite. Anderes Beispiel: Durchsagen von Parolen. Eine ganz ernsthafte Angelegenheit, davon könnten Leben und Tod im Ernstfall abhängen, so der Hauptmann bei der Kompaniebelehrung am Vortag, bei der er uns auch Ratschläge für Maßnahmen nach einer Atombombenexplosion gab: „Schon eine vorgehaltene Zeitung schützt vor dem Blitzlicht, von einem Erdloch ganz zu schweigen. Sie wissen ja gar nicht, wie gut Erde isoliert.“ Wir saßen also im Schützengraben, einer musste dem Nächsten die jeweilige Parole durchflüstern. Die Parole war: „Sieben feindliche Panzer von Südsüdost auf eigene Stellung zubewegend. Fertig machen zum Sturmangriff!“ Als ich an der Reihe war flüsterte ich weiter: „Abwurf der A-Bombe hundert Meter östlich. Kopf in den Sand, Zeitung drauf.“ Der Letzte notierte es auf einem Zettel und überreichte es dem Ausbilder. Der warf mir einen wütenden Blick zu und drohte mir mit der Faust. Nach derartigen Vorfällen wurde ich in eine Strafkompanie versetzt. Über diese Erlebnisse führte ich Tagebuch und schickte Auszüge an Heinrich Böll und die Zeitschrift Twen.

? Wurde das in der Kompanie bekannt?

! Mein Spind wurde aufgebrochen und die Texte als Beweismittel sichergestellt. Der Kompaniechef zitierte mich zu sich, legte mir ein Revers vor und bot mir einen Deal an: „Sie unterschreiben, dass Sie Veröffentlichungen über die Bundeswehr unterlassen, dann werden Sie sofort entlassen und brauchen auch keinen Ersatzdienst mehr zu leisten.“ Acht Monate wären es noch gewesen. Ich entgegnete – und dabei schaute mir wieder mal Schwejk über die Schulter: „Wirklich sehr freundlich, aber dafür habe ich hier schon zu viel erlebt. Ich finde das alles sehr spannend und lehrreich. Ich würde mich doch sehr gerne bis zum Ende als Kompanieschreiber nützlich machen. Bitte geben Sie mir die Chance …“ Um mich und die geplante Veröffentlichung unglaubwürdig zu machen, wurde ich wenige Tage später in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts zu Koblenz eingewiesen. Nach einigen Wochen wurde ich mit dem Etikett oder besser mit dem Ehrentitel „abnorme Persönlichkeit, für Frieden und Krieg untauglich, Tauglichkeitsgrad sechs“ wieder in die Freiheit entlassen. Die Tagebuchaufzeichnungen aus der Bundeswehr erschienen kurz darauf in zwei Folgen in Twen und später erweitert als Buch mit einem Vorwort von Heinrich Böll.

? Wie ging es mit Tauglichkeitsgrad ‚sechs‘ weiter?

! Danach bin ich nicht in meinen erlernten Beruf des Buchhändlers zurückgekehrt, sondern zunächst ein halbes Jahr durch Skandinavien getrampt und habe das Leben mit Obdachlosen geteilt. Das war 1964. Danach habe ich bald die ersten Fabrikarbeiten angenommen – um Geld zu verdienen, aber auch, um darüber zu schreiben. Meine erste Industriereportage war „Das Fließband“ bei Ford. Dort hatte mein Vater in der Lackhölle seine Gesundheit ruiniert, weil es so gut wie keinen Gesundheitsschutz gab. Ich bewarb mich und wollte unbedingt am Fließband anfangen. Im Personalbüro meinte man es gut mit mir: „Sie haben doch das Gymnasium besucht, wieso wollen Sie ans Fließband? Sie können im Büro anfangen, dort werden Sie auch besser bezahlt, am Fließband arbeiten doch nur Ausländer.“ Damals hauptsächlich italienische „Fremdarbeiter“. Ich bestand auf den Job am Band und schrieb die erste Industriereportage.

? Wo haben Sie Ihre Industrierepor­tagen veröffentlicht?

! Zuerst in der Zeitschrift der IG Metall. Natürlich gab es entsprechende Reaktionen, es gab Prozesse und Versuche, die Veröffentlichungen zu verhindern. Mir wurde von Unternehmerseite vorgeworfen, es wäre Lug und Betrug an meinen Arbeitskollegen, aber die standen hinter mir und ermutigten mich.

? Springen wir ins Jahr 1983. Wie kamen Sie dazu, in der Rolle des Türken Ali für Ihr Buch ‚Ganz unten‘ malochen zu gehen?

! Ich wohne in Köln-Ehrenfeld, einem Viertel, in dem damals mehrheitlich ärmere Menschen wohnten und viele sogenannte Gastarbeiter. Mit einigen hatte ich Kontakt oder war befreundet. Ich hörte immer wieder von untragbaren Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und rassistischen Vorfällen. Diese Missstände wollte ich selbst erleben und dokumentieren. Ich hatte die Rolle vier Jahre lang intensiv vorbereitet, denn ich war damals schon über 40 Jahre und musste mich in einen Mitte-Zwanzigjährigen „verwandeln“, sonst hätte ich diese Jobs nicht bekommen.

? Wie haben Sie eine „Verjüngung“ um 20 Jahre geschafft?

! Ich war gut trainiert, nicht nur im Ausdauertraining, lief den Marathon damals in zwei Stunden fünfzig, und habe Krafttraining gemacht. Für die türkischen Kollegen in der Maloche war ich absolut authentisch.

? Ist die Undercover-Person ‚Türke Ali‘ die Rolle, die Ihnen am meisten gelegen hat?

! Es ist die Rolle, die mich wohl am meisten geprägt hat. Als Jugendlicher schrieb ich in mein Tagebuch: „Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner, warte darauf, die Maske zu finden, die sich mit meinem ursprünglichen Gesicht deckt.“ Das Verlangen, mich selbst in den Rollen, die ich annehme, neu zu finden, und das Bedürfnis, nicht mehr ohnmächtig zu sein, waren sicher auch Antrieb für meine Verwandlungen. In meinen längerfristigen Rollen, zum Beispiel als türkischer Arbeiter, habe ich geträumt, als wäre ich wirklich diese Person. Ich war Ali und ich war Günter, in manchen Situationen musste ich überlegen, wer ich gerade bin.

? Hätten Sie nicht jederzeit auffliegen können?

! Das war tatsächlich meine größte Angst. Hätte mich jemand erkannt, wäre alles umsonst gewesen. Hinzu kam, dass ich kein Türkisch sprach. Ich musste mir eine Legende ausdenken, die nachvollziehbar war. Meinen türkischen Kollegen habe ich gesagt, ich sei bei meiner griechischsprachigen Mutter aufgewachsen. Vater Kurde, die Ehe früh getrennt, deshalb hätte ich kein Türkisch gelernt. Einer der Kollegen war misstrauisch und forderte mich auf: „Ich will dich mal Griechisch sprechen hören.“ Zum Glück konnte ich noch den Anfang der Odyssee auf Altgriechisch aufsagen, weil ich auf dem Gymnasium in einer Altgriechisch-Klasse war – man lernt im Leben nie umsonst! Es hat geklappt, die Tarnung flog nicht auf.

? War die Industriereportage „Ganz unten“ Ihr Durchbruch als investigativer Reporter?

! Nein, bereits 1974 war „Ihr da oben, wir da unten“ zusammen mit Bernt Engelmann ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt, in dem ich unter anderem den Akkorddruck bei Fichtel und Sachs und die militärische Führungspraktiken bei Melitta dokumentierte oder als Portier und Bote im Kölner Gerling-Konzern arbeitete. Eine noch anhaltendere Wirkung erzielte ich mit drei Büchern über die BILD-Zeitung, vor allem als Bild-Reporter Hans Esser in „Der Aufmacher“ 1976/1977. Dieses Buch erreichte auch international hohe Auflagen.

? Wie sind Sie dazu gekommen, sich bei der BILD-Zeitung zu bewerben?

! Ich hatte zuvor schon immer wieder Geschichten der BILD-Zeitung nachrecherchiert und deren Lügen und Manipulationen veröffentlicht. Dadurch waren mir deren Rufmord-Methoden vertraut. Aber ich wollte sie mit meinen ureigenen Möglichkeiten überführen. Mir wurde klar, das kann ich nur erreichen, wenn ich vorübergehend Mittäter werde.

? Sie haben sich von Günter Wallraff in Hans Esser „verwandelt“ und fanden sofort „Einlass“ in der Redaktion von BILD?

! Ich „verwandelte“ mich mit einfachen Mitteln, etwa einer anderen Brille, Anzug und Krawatte, glattrasiert und ohne Schnauzbart – das war noch ein Relikt meiner Verkleidung als Bote im Gerling-Konzern – lieh mir Namen und Papiere meines Freundes Hans Esser aus und bewarb mich beim Redaktionsleiter.

? Mit welcher Legende?

! Ich beeindruckte den Redaktionsleiter, indem ich behauptete, ich hätte zuvor in der Werbung gearbeitet und sei Leutnant bei der psychologischen Kriegsführung gewesen. Da strahlte der und meinte: „Ja, so jemanden können wir hier gut gebrauchen, Sie sind unser Mann.“ Zum eigentlichen Einstellungsgespräch zitierte er mich am nächsten Tag zu sich nach Hause, verwandelte seine Penthouse-Wohnung in einen Schießstand und stellte ein Gewehr bereit.

? Wollte er, dass Sie Ihre Schießkünste unter Beweis stellen?

! Ja, und damit brachte er mich in Verlegenheit und größte Schwierigkeiten. Ich hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten, denn ich war und bin, wie schon gesagt, Pazifist. In äußersten Notlagen fällt mir oft spontan das Rettende ein. Ich sagte: „Es ist kein Zufall, dass ich bei der psychologischen Kriegsführung und nicht bei der kämpfenden Truppe gelandet bin, denn ich habe so einen Knick in der Optik.“ Beim nächsten Mal würde ich mein Spezialgewehr mitbringen, das hätte eine spezielle Vorrichtung, mit der ich zielgenau treffen könnte.

! Wie beurteilen Sie rückblickend die Arbeit bei BILD im Vergleich zum Malocher-Job bei Thyssen?

! „Ganz Unten“ hat mich körperlich geschädigt, weil ich, wie meine Kollegen die Leiharbeiter, unter schlimmen Arbeitsbedingungen, in Giftstäuben und ohne Schutzmaske, arbeiten musste. Aber die Rolle als BILD-Täter Hans Esser war die größere Schmutzrolle. Es war Verleugnung und Selbstverleugnung, und ich musste mich einer Art Gehirnwäsche unterziehen. Obwohl ich mich in der Redaktion oft rargemacht und versucht habe, die ganz schlimmen Aufträge zu verweigern, war ich anschließend psychisch ziemlich angeschlagen.

? Was war besonders schlimm?

! Das sogenannte Witwenschütteln oder wenn Kinder Opfer eines Sexualmordes wurden und die Eltern nicht bereit waren, einem Reporter der BILD ein Foto ihres Kindes herauszugeben. Dann hörten die Eltern den Standardsatz: „Wenn Sie uns das Foto nicht freiwillig geben, wir haben auch Fotos aus dem Leichenschauhaus, und das sieht dann gar nicht so gut aus.“ Ich bin in solchen Fällen heimlich zu den Eltern gegangen und habe ihnen geraten: „Weigern Sie sich unbedingt, ein Foto herauszugeben.“

? Die Rolle des Hans Esser hatte durchaus juristische Folgen …

! … ja, und zwar ganz massiv. Springer hat im ersten Schritt versucht, die Rechtskosten in die Höhe zu treiben. Die haben nicht einen Prozess geführt, sondern zahlreiche Prozesse in Salamitaktik stückchenweise. Ich habe dann natürlich nachgeschoben und immer wieder ein weiteres Buch neuaufgelegt. Ich hatte schließlich viel mehr erlebt und ausreichend Stoff – deshalb gibt es 16 verschiedene Ausgaben vom „Aufmacher“.

? Sie haben die ersten Prozesse alle verloren?

! Richtig. Das war allerdings von Anfang an zu erwarten, weil der vorsitzende Richter Engelschall in Hamburg immer wieder im Sinne von Springer argumentierte. In einer Verhandlung offenbarte er sich: „Das Buch ist ein Skandal, es hätte nie erscheinen dürfen.“ Er sprach in den Verhandlungen und Urteilsbegründungen vom „Tatbestand des Einschleichens“, obwohl ein solcher Tatbestand in keinem Gesetz existiert.

Interessant war auch, dass der Richter im Hause Springer verkehrte und seine einzige Tochter nach dem Prozess Redakteurin bei der BILD-Zeitung wurde. Jahre später gründete er zusammen mit Matthias Prinz, dem Sohn des ehemaligen Chefredakteurs der BILD-Zeitung und Springer-Verlags-Vorstands Günter Prinz, eine eigene Kanzlei unter dem Namen Prinz-Neidhardt-Engelschall.

? Sie sind immer in Berufung gegangen?

! Nach jedem verlorenen Prozess gegen Springer haben mein Verlag und ich Berufung eingelegt. Zu meiner großen Erleichterung hat der Bundesgerichtshof dann ein Grundsatzurteil im Sinne einer freien Presse gesprochen, auf das sich heute alle Journalisten berufen können …

? … und welches das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat.

! Seitdem existiert im Medienrecht der Begriff „Lex Wallraff“, der besagt: „Wenn es um gravierende Missstände geht, hat die Öffentlichkeit das Recht, darüber informiert zu werden, auch wenn die Informationen verdeckt, das heißt, unter Vortäuschung einer anderen Identität erlangt worden sind.“ Das Gericht sprach in der Urteilsbegründung von „Fehlentwicklungen eines Journalismus, der die Aufgabe der Presse und ihre Verantwortung aus dem Auge verloren“ habe. Vor diesem Hintergrund müsse meine Methode legitim sein.

? Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die BILD-Zeitung noch immer so viel Einfluss hat oder warum sie von Tagesschau bis FAZ immer noch zitiert wird?

! Erstens scheint BILD noch immer gute Kontakte zu haben, und sicher spielt auch die Verbreitung eine Rolle – obwohl die Auflage weiter sinkt, verbreitet BILD immer noch Angst und Schrecken. Und: Mit dem Weggang von Diekmann sitzt jetzt offensichtlich ein hartgesottener Hardliner auf dem BILD-Chefsessel.

? Der Spiegel titelte im Juni, in der Berichterstattung zum Virologen Drosten, dem BILD in üblicher BILD-Manier übel mitspielen wollte: „Reichelt und sein Fassbombenkommando“ – was nicht gerade schmeichelhaft ist.

! Reichelt hat zwar 2016, als Merkel die Devise „Wir schaffen das!“ ausgab, eine sehr eindringliche Reportage über die „vergessenen Kinder von Aleppo“ veröffentlicht. Nun, da er bei BILD das Sagen hat, rechtfertigt er noch die schlimmsten BILD-Exzesse der Vergangenheit.

? Stichwort Finanzierung des Journalismus. Nicht erst seit Corona wird die Situation für Journalisten in Deutschland immer prekärer. Viele können von ihren Honoraren nicht mehr leben und stehen vor der Wahl: raus aus dem Journalismus und rein in die PR. Welche Gefahren sehen Sie für die vierte Macht im Staat, wenn Journalisten nur noch gut bezahlte PR machen und den Finger nicht in die Wunde legen, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken, wie Sie das in den vergangen 55 Jahren getan haben und immer noch tun?

! Es ist natürlich ein Riesenproblem, und es ist gefährlich für die Demokratie, wenn Journalisten nach Pressesprecher-Jobs schielen, wenn Journalismus durch Zeitungssterben und Auflagenrückgang immer prekärer wird. So bleibt der Idealismus, den man für den Beruf eines investigativen Reportes braucht, auf der Strecke. Trotzdem gibt es keine Alternative. Es braucht unabhängigen und kritischen Journalismus. Viele, besonders Jüngere, suchen den Kontakt zu mir, weil sie sich aus idealistischen Motiven engagieren wollen, obwohl die Zukunftsaussichten düster sind.

? Idealismus zahlt die Miete nicht …

! Richtig. Deshalb sollten sich Journalisten untereinander vernetzen. Es gibt überall Missstände aufzudecken und spannende Geschichten zu erzählen, aber Journalisten müssen auch bereit sein, Risiken einzugehen. Natürlich weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es ein steiniger Weg ist, der viel Kraft und Durchhaltevermögen braucht. Wer es schafft, mit gut recherchierten Geschichten Unrecht aufzudecken, wird wahr- und ernst genommen. Vor über 50 Jahren, als ich mit meiner eigentlichen Arbeit begann, waren die Zeiten auf eine andere Art und Weise schwierig, aber ohne Durchhaltevermögen hätte ich nichts bewirken können. Anfeindungen und Prozesse sah ich als Herausforderung und empfand sie als Bestätigung, obwohl sie auch finanziell belastend waren und viel Zeit gekostet haben.

? Sichtwort Rassismus. In Deutschland gibt es zurzeit eine Rassismus-Debatte, ausgelöst durch die Polizeigewalt gegen George Floyd und die allgemeine Situation von Schwarzen in den USA – bei einem Präsidenten, der nicht anerkennt, dass es in seinem Land ein Rassismus-Problem gibt, …

! … weil er ein bekennender Rassist ist, und der Begriff ist fast noch zu harmlos. Er fällt in die Kategorie „gemeingefährlicher Irrer“, wie ihn jetzt auch seine Nichte, eine promovierte Psychologin, in ihrem Buch „Zu viel und nie genug …“ gekennzeichnet hat. Er appelliert an die niedersten Instinkte seiner Anhängerschaft. Erinnern wir uns an die Aussage vor etwa drei Jahren, als Trump sich brüstete: „Ich könnte quasi mitten auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen, und würde trotzdem keine Wähler verlieren.“ Der Mann zeigt Allmachtphantasien, die andere Rassisten unter seinen Anhängern dazu ermuntern, ebenso gemeingefährlich zu sein. Sollte er die nächste Wahl verlieren und seine Niederlage nicht anerkennen, besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs, weil seine Anhänger weitgehend bewaffnet sind. Schon jetzt schickt er hochgerüstete Bundespolizisten in einzelne demokratische Städte, etwa nach Portland, und droht, sie so lange dort einzusetzen, bis die lokale Polizei „die Reinigung“ der Stadt von „Anarchisten und Agitatoren“ beendet habe.

? Der rbb hat im Juni mit Andreas Kalbitz von der AfD ein Interview geführt, das von fast allen Medien massiv kritisiert wurde. Es gab diese harsche Kritik vor allem deshalb, weil sich Kalbitz in einem öffentlich-rechtlichen Sender keinen harten Fragen stellen musste, sondern sich als Opfer des Verfassungsschutzes inszenieren durfte. Macht eine solche Berichterstattung in einem öffentlich-rechtlichen Sender Leute wie Kalbitz salonfähig?

! Bisher konnte ich in den öffentlich-rechtlichen Sendern eine klare und kritische Berichterstattung gegenüber der AfD – besonders gegenüber dem sogenannten Flügel – beobachten. Natürlich braucht die AfD ein ganz klares demokratisches Stoppschild. Wehret den Anfängen, kann ich nur sagen, sonst werden Schleusen geöffnet und die Zuschauer könnten meinen: Schaut mal, die haben den so nett interviewt, so schlimm kann der nicht sein. Aber Kalbitz ist neben Höcke einer der Allerschlimmsten. Es ist nicht die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Anstalten, solche Politiker zu verharmlosen. Es stellt sich hier aber auch die Frage, ob die Journalistin, die das Interview geführt hat, überfordert war. Oder, was natürlich viel schlimmer wäre, war es Kalkül, mit dem Interview ein bestimmtes Publikum zu bedienen? Das wäre allerdings die schlimmste Variante. Und: Der rbb hätte warten können, bis die Frage geklärt ist, ob Kalbitz überhaupt Mitglied der AfD bleibt, bevor er ein Sommerinterview an einem See führt, in dem sich Kalbitz als harmloser Politiker inszenieren kann. Ein so unreflektiertes und unkritisches Interview legitimiert Rechtsradikale und macht sie populär.

? Haben Sie Ähnliches bei Ihren eigenen Recherchen erlebt?

! Ich werde hin und wieder von Journalistenschulen eingeladen und erlebe dort weitgehend aufklärerischen Unterricht. Aber es gab Ausnahmen. Ausgerechnet eine der größten Journalistenschulen, die von Gruner + Jahr, leitete ein Mensch, dessen Weltbild von reaktionärstem Gedankengut nur so triefte. Der höchstangesehene, hochgebildete, mit Preisen bedachte und als Talkshow-Moderator brillierende ehemalige Welt-Chefredakteur Wolf Schneider.

Der ließ seinen innersten Überzeugungen im Unterricht freien Lauf (mir liegen eidesstattliche Erklärungen einiger seiner Schüler vor) und dozierte: „Die Neger sind nun mal nicht so intelligent wie die Weißen, weil sie nur auf Körperkraft hin gezüchtet worden sind. Wenn der Schöpfer doch so offensichtlich alle Menschen äußerlich verschieden gemacht hat, was die Hautfarbe, Beinlänge, den Augenausschnitt usw. angeht, warum sollte er dann die Intelligenz auf einer Goldwaage abgemessen haben?“ Da läuft es einem kalt den Rücken runter. Ich habe etliche seiner Lehrsätze in mehreren Büchern mit hoher Auflage veröffentlicht, aber das hat seiner Popularität keinen Abbruch getan.

? Hans Esser und der Türke Ali sind zwei Figuren der Zeitgeschichte geworden. Welche Undercover-Rollen waren für Sie noch wichtig?

! Am prägendsten waren für mich die Erfahrungen, die ich 1974 als politischer Häftling in Griechenland machte. Um politische Gefangene aufzuspüren, die während der Militärdiktatur in Griechenland als verschollen galten, und um die Zustände im Land stärker ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, reiste ich nach Athen. Ich kettete mich auf dem Syntagma-Platz vor dem weggeputschten Parlament an einen Lichtmast und begann, Flugblätter zu verteilen. Sofort waren Geheimpolizisten da und schlugen mich noch an Ort und Stelle zusammen. In den Verhören wurde ich gefoltert. Mir war aber immer wichtig, Rollen und Themen aufzugreifen, in denen Missstände aufgedeckt werden.

Ich übernehme heute beim „Team Wallraff“ bei RTL aber seltener eigene Undercover-Rollen, wie zuletzt etwa in Alten- und Pflegeheimen, als Paketfahrer oder fürs ZDF in einer Großbäckerei, als Callcenter-Agent oder Obdachloser. Inzwischen arbeite ich im „Team Wallraff“ mit jüngeren, sehr engagierten Kollegen zusammen. Caro Lobig, eine junge Kollegin, hat sich zum Beispiel mit einem von mir finanzierten Stipendium bei Zalando eingeschleust, um die dortigen Arbeitsbedingungen zu dokumentieren. Sie hat drei Monaten ausgehalten und eine meisterhafte Reportage veröffentlicht und diese auch filmisch umgesetzt. Ihre Reportage ist neben Insider-Berichten von anderen Stipendiaten im Buch „Die Lastenträger“ erschienen, das ich herausgegeben habe.

? Eine letzte Frage noch, die viele ­Leser bewegt: Wie können Sie sich erklären, dass Sie in Ihren Rollen nie jemand erkennt?

! Vielleicht habe ich so ein Allerweltsgesicht und kann mich sehr zurücknehmen. In der jeweiligen Rolle ist die Enttarnung oft meine Hauptsorge. Das verfolgt mich bis in meine Träume. Gleich am ersten Tag der Recherche als Schwarzer – für meinen Film „Schwarz auf Weiß“ – die als einjährige Reise durch Deutschland geplant war, sagte mir ein Mann in Magdeburg auf den Kopf zu: „Herr Wallraff, ich kenne Sie.“ Da dachte ich: Jetzt ist alles zu spät. Der hatte mich tatsächlich an der Stimme erkannt. Aber er hat mich nicht auffliegen lassen. Sonst ist es – zu meiner eigenen Verwunderung – immer gut gegangen. Es gelingt mir immer wieder, durch äußerliche Veränderungen, unerkannt zu bleiben. Wenn man zum Beispiel eine Uniform trägt oder ein Kleidungsstück, das „entwertet“, dann schauen einem Menschen nicht mehr ins Gesicht. Dann ist man ein Anonymus.

Das Interview führte 
Bettina Schellong-Lammel

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