Das Desaster bei der Deutschen Bahn, mit dem Bahnreisende seit Jahren konfrontiert werden, sei kein Versehen, sondern ein Desaster mit Ansage, meint der Journalist und Buchautor Arno Luik. Seine harte Kritik bezieht sich aber nicht nur auf die bereits bekannten Bahn-Probleme, sondern auch auf die Millionengehälter der Bahnvorstände – bei immer schlechteren Angeboten – und die Schamlosigkeit, dafür Jahr für Jahr Millionen-Boni zu kassieren. Im Ν-Interview spricht der Autor über sein Buch „Schaden an der Oberleitung“, über die unselige Tradition nie eingehaltener Versprechungen von Politik und Bahnvorständen, und er erinnert daran, dass Deutschland mal ein Bahn-Land war, in dem das Sprichwort galt „Pünktlich wie die Eisenbahn“.
? Fast jeder von uns kann kuriose, ärgerliche oder dramatische Geschichten von Fahrten mit der Deutschen Bahn erzählen. Sie werden als Experte der Deutschen Bahn bezeichnet. Wann haben Sie begonnen, sich mit dem Konzern zu beschäftigen? Gab es einen Auslöser?
! Seit vielen, vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesem Konzern, aber besonders intensiv seit der angestrebten Privatisierung unter Bahnchef Hartmut Mehdorn in den frühen 2000er-Jahren. Er wollte die Bahn unbedingt an die Börse bringen. Dieser Bahnchef hatte den sinisteren Plan, die Deutsche Bahn für etwa acht Milliarden Euro zu verhökern. Acht Milliarden! Ein Unding, denn die Bahn mit ihrer Infrastruktur, ihrem immensem Landbesitz war damals gut 130 Milliarden Euro wert, mindestens. Ein Volksvermögen, das mehrere Generationen aufgebaut haben. Und das wollte dieser Bahnchef einfach so verschleudern! Es verschenken – an irgendwelche Investoren. Wenn man sich intensiv mit der Bahn beschäftigt, taucht man in eine Welt ein, die man nicht für möglich hält: in eine Welt des Wahnsinns.
? Sie haben über die Deutsche Bahn ein vielbeachtetes Buch mit dem provokanten Titel „Schaden in der Oberleitung“ geschrieben. Darin haben Sie nicht viel Schmeichelhaftes über den Zustand der Deutschen Bahn zusammengetragen. Was war der Auslöser für das Buch?
! Provokanter Titel? Er ist die nüchterne Zustandsbeschreibung einer Bahn, die innerhalb von wenigen Jahren nahezu zerstört wurde. Früher hieß es: „Pünktlich wie die Eisenbahn.“
Ein Auslöser, dieses Buch zu schreiben, war ein Lachanfall. Es war auf der Fahrt von meinem Heimatdorf auf der Schwäbischen Alb nach Ulm. Beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim krächzte es aus den Lautsprechern, der Zugchef meldete sich, um im breiten Schwäbisch Folgendes mitzuteilen: „Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!“
Da dachte ich: Das kann doch nicht wahr sein! Im 21. Jahrhundert, im Land nicht nur der Dichter und Denker, sondern der Techniker, Tüftler und Ingenieure, kommt so eine Durchsage. Ich sagte mir: Jetzt ist es höchste Eisenbahn, sich mit der Bahn anzulegen und mal ganz genau zu gucken, was da los ist.
Niedergang der Bahn begann mit der Bahnreform 1994
? Das Chaos bei der Deutschen Bahn, deren Züge jetzt nur noch zu 64 Prozent pünktlich ans Ziel kommen, hat eine längere „Tradition“ …
und dieses Chaos hat dramatisch zugenommen. Der normale Bahnalltag spiegelt sich in Redewendungen und Worten wider, die früher kein Mensch hierzulande kannte: Schaden in der Oberleitung. Aber auch: Störungen im Betriebsablauf, Zugausfall wegen Personalmangels. Die Deutsche Bahn ist in einem Lotterzustand. Wie strukturell unzuverlässig diese Bahn ist, zeigt sich auch daran: Die Schweiz lässt häufig die DB-Züge nicht mehr in ihr Land.
? Weshalb?
! Die Schweizer haben keine Lust mehr, sich ständig ihre perfekten Fahrpläne durch diese Lotterbahn kaputtmachen zu lassen. Der Stolz der Deutschen Bahn, ihre ICEs, müssen dann zum Beispiel in Basel umdrehen, statt bis nach Zürich zu fahren. Es ist eine unfassbare Leistung des Bahnmanagements, eine früher nahezu perfekte Bahn innerhalb von 30 Jahren so zu ruinieren, dass sie sich in einem wohl irreparablen Zustand befindet.
Der Niedergang der Bahn begann mit der Bahnreform 1994 – als die Bahn privatisiert werden sollte, zu einer Aktiengesellschaft wurde, um an die Börse zu gehen. Um für den geplanten Börsengang sexy zu werden, wurde an allem gespart. Ergebnis: Heute ist diese Bahn eine Zumutung für die Fahrgäste und für das Bahnpersonal.
? Der Bahnvorstand wird aber nicht gerade schlecht bezahlt …
! Die Chefs der Bahn erhalten gigantische Gehälter. Martin Seiler, der Personalvorstand, bekommt alles in allem 1,39 Millionen Euro Vergütung pro Jahr. Dazu noch einen dicken Bonus. Wofür? Bahnchef Lutz, ein Angestellter dieses Staates, verdient ungefähr das Dreifache des Bundeskanzlers und obendrauf noch einen Bonus von rund zwei Millionen Euro. Wofür? Eigentlich hat dieser Bahnchef einen Malus verdient, denn unter seiner Regentschaft ist die Bahn mit 35 Milliarden Euro in die Miesen gerattert. Sie ist also faktisch pleite. Doch die Täter für dieses Desaster – sie werden belohnt. Die neun Bahnvorstände bekamen neulich wieder Millionen Euro an Boni ausgeschüttet. Das lässt sich niemandem mehr vermitteln. Vor allem nicht den Bahnangestellten. Dieses Absahnen – es schafft Staatsverdrossenheit. Nochmals: Diese Bahn ist heute so verschuldet, dass sie, und das ist die traurige Wahrheit, den Staatshaushalt gefährdet.
Das Bahnnetz wurde auf 33 000 Kilometer zurückgebaut
? Die Bahn sollte eine tragende Säule der Verkehrswende sein, sie befindet sich aber, wie Sie sagen, in einem denkbar schlechten Zustand. Zugausfälle und Verspätungen, fehlende Gleise und Streit mit den Gewerkschaften führten im Jahr 2023 zu Rückzahlungsforderungen durch Fahrgäste von 133 Millionen Euro. Ist das ein Desaster mit Ansage?
! Na, klar. Die Politik redet schon seit vielen Jahrzehnten davon, dass mehr Güter auf die Schienen kommen und mehr Menschen Bahn fahren sollen. Aber mit dieser Bahn ist eine ökologische Verkehrswende nicht möglich.
Dass das keine Polemik ist, zeigen ein paar Zahlen: Das Bahnnetz wurde seit der Bahnreform von 1994 von über 40 000 auf 33 000 Kilometer zurückgebaut. Die Anzahl der Weichen und Kreuzungen wurde von 130 000 auf knapp 70 000 reduziert. Und jede herausgerissene Weiche, jede demontierte Schiene hat Folgen: Züge können sich nicht mehr überholen, können nicht auf Nebengleisen abgestellt werden. Verspätungen sind zwangsläufig. Ich habe mit Disponenten gesprochen, also jenen Leuten, die zunehmend verzweifelt versuchen, die Züge am Fahren zu halten, und die sagten: „Zwei Drittel der Züge verkraftet unser Gleisnetz noch, aber ein Drittel aller Züge müssen wir irgendwie, irgendwo hin- und herschieben, dafür müssen wir nach Nischen suchen.“
Noch eine Zahl, um zu zeigen, wie dramatisch die Lage ist: Die Bahn müsste, um auf den Zustand der Schweiz zu kommen, augenblicklich 25 000 Kilometer mehr Netzlänge bekommen. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn da, wo früher Gleise lagen, stehen heute Logistikzentren, Wohnungen, Supermärkte. Es fehlt der Deutschen Bahn aber nicht nur an Schienen und Gleisen, es fehlt auch an Lokomotiven, an Lokomotivführern und anderen Mitarbeitern. Vor allem aber fehlt es an Know-how.
? Ist der schlechte Zustand der Bahn auch ein Problem für die Industrie?
! Natürlich. Hatte die Bahn vor dieser unseligen Reform noch 12 000 Industriegleise, so sind es heute gerade noch 2 000, Außerdem: Über 100 Groß- und Mittelstädte sind seitdem vom Fernverkehr abgehängt worden, zum Beispiel Cuxhaven, Heilbronn, Gera, Jena und Potsdam. Dadurch wurde das Bahnfahren für Millionen Bundesbürger erschwert und unattraktiv. Das alles zeigt, dass die angestrebte ökologische Verkehrswende ein Traum ist. Hinzu kommt: Die Bahn steckt Milliarden Euro in Großprojekte, die alle unökologisch, unökonomisch sind – und dem Bahnverkehr sogar schaden. So kostet etwa Stuttgart 21 mit der großen Tunnelstrecke nach Ulm rund 15 Milliarden Euro. Dafür könnte man 1 500 Bahnhöfe à 10 Millionen bauen, also wirklich etwas für die Bürger und eine Verkehrswende tun.
Wie konnte die Bahn so verkommen?
? Sie sagten in einem Interview, „… dass die Bahn, die mal perfekt funktioniert hat, heute so kläglich dahinrumpelt, ist ein riesiger Politskandal …“ Der schlechte Zustand der Deutschen Bahn hätte also längst die Politik auf den Plan rufen müssen?
! Selbstverständlich. Aber hat die Politik überhaupt ein wirkliches Interesse an ihrer Bahn? Ich habe da meine Zweifel. Deutschland ist ein autoverrücktes Land. Franz Müntefering war in seiner langen SPD-Politkarriere Verkehrsminister von 1998 bis 1999, und er sagte mal: „Die Bahn ist das Resteverkehrsmittel für jene, die sich kein Auto leisten können.“ Das sagt im Grunde alles. Es kann kein Zufall sein, dass Deutschland fast das einzige Land in Europa ist, in dem die Bahn in einem derart deplorablen Zustand ist. Etwas zugespitzt formuliert: Der einzige Zug, der in Deutschland pünktlich losfährt, ist der Rosenmontagszug in Mainz.
Wie konnte die Bahn so verkommen? Dafür gibt es Täter. Sie sitzen im Berliner Bahntower, im Verkehrsministerium und im Kanzleramt. Seit den 1990er-Jahren, seit der Bahnreform, sind an der Spitze dieses so wichtigen Unternehmens Leute, die aus Konkurrenzfirmen kamen. Die zu Beginn ihrer Bahnkarriere Bahn-Azubis waren. Dürr: Autoindustrie. Mehdorn: Auto- und Luftfahrtindustrie. Grube: Autoindustrie. Schon verrückt. Der derzeitige Bahnchef, Richard Lutz, so heißt es oft, sei ein „echter Bahner“. Aber das stimmt so nicht. Er war Finanzkontrolleur, und er hat seit 2003 all die Sparprogramme seiner Chefs, die die Bahn in diesen desolaten Zustand brachten, abgenickt und exekutiert. Kann von ihm die Rettung kommen? Ich glaube nicht.
? Könnte man sagen, der deutschen Politik ist das Auto immer wichtiger als die Bahn?
! Das ist gar keine Frage. Seit 1994 ist das Bahnnetz um über 20 Prozent zurückgebaut worden. Wäre es möglich gewesen, im gleichen Zeitraum das Straßennetz und das Autobahnnetz um 20 Prozent zurückzubauen? Nein. Das totale Chaos wäre die Folge. Und dieses Chaos haben wir nun bei der Bahn. Es ist leider so: Volkswirtschaftlich wurde so viel zerstört, dass diese Bahn keine Alternative zum Individualverkehr ist und auf unabsehbare Zeit auch nicht sein wird.
Mehr Bürokratie und eine Bahn, die macht, was sie will.
? Um die Verkehrswende zu schaffen, wurde eine „Beschleunigungskommission Schiene“ gegründet – die ihren Abschlussbericht bereits vorgelegt hat. Was war das Ziel dieser Kommission?
! Solche Kommissionen, die Bürokratie abschaffen und die Bahnfinanzen transparent machen sollten, gab es schon häufig. Und was ist dabei herausgekommen? Noch mehr Bürokratie. Und eine Bahn, die macht, was sie will. Die ein Staat im Staat geworden ist. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat mal geschrieben, dass es ein Skandal sei, dass sich ein Staatskonzern nicht an die Vorgaben dieses Staates hält. Es gibt unendlich viele Polit-Versprechungen in Sachen Bahn, eine unendliche Geschichte von Versprechungen der Bahnchefs – ohne jeden Bezug zum tatsächlichen Handeln.
? Haben Sie ein Beispiel dafür?
! Bahnchef Heinz Dürr versprach einst, es werde einen „Ausbau der Schiene“ geben. Das ist nicht geschehen. Dürr versprach, die Bahn werde „einen Beitrag zu einer ökologisch ausgerichteten Verkehrspolitik leisten“. Auch das ist nicht geschehen. „Erstes Ziel ist: mehr Verkehr auf die Schiene!“, erklärte er. Und was tat er? 1997 schaffte er die Postzüge ab, und die Deutsche Post AG schaffte als Ersatz 6 000 Lkw an. Heinz Dürr versprach auch, dass die Bahnhöfe renoviert würden, dafür werde er Milliarden investieren. Er wolle Bahnhöfe „als Motor der Stadtentwicklung“ in neuer „Pracht“ aufblühen lassen, „Empfangssalons der Städte“ sollten sie sein. Mit seinem Programm „Freundlicher Bahnhof“ versprach er, die „5 179 Bahnhöfe und Haltestellen zu sanieren“. Was ist aus diesen Versprechungen geworden? Tausende von Bahnhöfen sind inzwischen verkauft oder Ruinen. Die Bahnhöfe in den Großstädten? Keiner bleibt in Erinnerung – weil die Kunden so schnell wie möglich weg wollen. Der ehemals schönste Bahnhof der Welt in Leipzig wurde zu einem riesigen Kaufhaus entstellt.
Bettina Schellong-Lammel
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