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UTOPIE Verkehrswende
Hypermobilität: Die Verkehrsexplosion
Mobilität

Hypermobilität: Die Verkehrsexplosion 

Nicht weniger Verkehr, sondern mehr. Nicht weniger Autos, sondern mehr. Nicht kleinere Fahrzeuge werden gekauft, sondern größere. Nicht geringere Geschwindigkeiten werden angestrebt, sondern höhere. Rekordgewinne bei Airlines und Flugzeugbauern, bei Reedereien und in der globalen Logistikbranche. Es wuchert die Mobilität auf der ganzen Welt. Es ist das Gegenteil dessen, was wir uns für eine nachhaltige und klimaneutrale Gesellschaft der Zukunft wünschen sollten, und wohl Zeit, sich einzugestehen, dass die Verkehrswende unter diesen Voraussetzungen nicht stattfinden wird.

Nicht mit dieser Bevölkerung, nicht mit diesen Unternehmen und nicht mit diesem politischen System, nicht mit dieser Mobilitätskultur. Dennoch drängt die Erderwärmung immer dringlicher zur Reduktion statt zur Expansion und zugleich zur Anpassung und zur Resilienz-Steigerung der Mobilität gegenüber den heute schon nicht mehr verhinderbaren Klimafolgen und anderen existentiellen Risiken der Gegenwart. Ein Zielkonflikt bahnt sich an zwischen den gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen der Vermeidung von Emissionen und Ressourcenverbräuchen und denen der Vorsorge und Anpassung zugunsten einer sicheren und stabilen Funktionalität des Verkehrssystems.

Global betrachtet stehen wir statt vor einem Mobility Peak wohl eher vor dem Beginn der eigentlichen Mobilisierung und Entgrenzung dieser Welt. Der Dynamik der Zahlen nach sind wir von der Verkehrswende weiter entfernt als je zuvor. Was bleibt, ist der Versuch einer realistischen Verkehrspolitik, die die enorme Persistenz der überkommenen Auto- und Mobilitätskultur für den Moment wohl oder übel akzeptiert, ohne aber aufzugeben, an ihrer mittel- und langfristigen Entschleunigung und Ökologisierung weiterzuarbeiten. Was dann noch möglich erscheint, ist politisch noch immer schwierig genug umzusetzen.

Dieser Beitrag versucht, auf der Folie dieser Situationsbeschreibung ein knappes und doch hinreichendes Bild der zukünftigen globalen Mobilitätsentwicklung zu entwerfen und ebenso das einer realistischen Verkehrspolitik, die trotz allem auf die zentralen Herausforderungen der ­Klimaanpassung und Krisen-Resilienz der Mobilität angemessen zu reagieren vermag. Sicher ist heute selbst das nicht.

Warum wir erst am Anfang einer globalen Mobilitätsexplosion stehen

Verkehr sei ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der er stattfindet, befand der Soziologe Dieter Claessens in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungsdynamiken spiegeln sich in den entfalteten und weiterhin zunehmenden Mobilitätsmustern wider. Diese sind ein „Guckloch“, durch das betrachtet wir die Grundströmungen unserer Zeit illustrieren und verstehen können. Zugleich wirkt der Verkehr ständig auf seinen gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurück. Ausgehend von dieser Wechselwirksamkeit habe ich im Jahr 2001 in Anlehnung an Max Webers Auslegung des Begriffs der Wahlverwandtschaft die Metapher der „Wahlverwandtschaft von Moderne und Mobilität“ genutzt, um das enge und meiner Meinung nach politisch kaum oder nur mit sehr großem transformativen und dementsprechend konflikthaften Aufwand aufzulösende Verhältnis gegenseitiger Anziehung, Durchdringung und wechselseitiger Beförderung von Moderne und Mobilität zu benennen. In den seitdem vergangenen Jahren hat sich die Welt noch einmal rasanter und sprunghafter verändert, als dies in der von der Forschung zum Anthropozän so bezeichneten „Großen Beschleunigung“ aller sozio-ökonomischen, ökologischen und geografischen Messgrößen Mitte bis Ende des 20. Jahrhundert ohnehin schon zu beobachten war.

Beschleunigungsdynamiken, Bevölkerungszuwachs, Individualisierungseffekte

Der hier vorgeschlagene neue Begriff der Hypermobilisierung bezieht sich vor diesem Hintergrund nun im doppelten Sinne auf die Dimensionen einer weiteren quantitativen, quasi hypertrophen Steigerung des Verkehrs einerseits und der qualitativen Veränderungen andererseits, die die massive digitale Transformation der Mobilität mit sich gebracht hat und weiter mit sich bringen wird. Das hier ausgebreitete Szenario der Verkehrsentwicklung in der globalisierten Spätmoderne ist von enormem weiterem Wachstum, weiterer Beschleunigung und weiterer Interdependenzsteigerung der globalen Verkehrsinfrastrukturen und Verkehrsprozesse gekennzeichnet. Kürzliche Unterbrechungskatastrophen wie die Covid-19-Pandemie, der Ukraine-Konflikt oder endogene systemische Vulnerabilitäten der kritischen Verkehrsinfrastruktur wie die kriegs- und unfallbedingten Blockaden des Suezkanals erzeugen bislang jeweils eine nur temporäre Dämpfung der Dynamik, nicht aber eine dauerhafte Trendumkehr in der Verkehrsgenese.

Die postulierten Wachstums- und Beschleunigungsdynamiken sind vor allem dem bislang noch anhaltenden Bevölkerungszuwachs, weiteren Wohlstands- und Individualisierungseffekten, anhaltender kultureller Globalisierung, stark kostenreduzierenden und effizienzsteigernden Technologieeffekten, der enorm anwachsenden globalen Migrationsdynamik und der weiterlaufenden globalen Arbeitsteilung geschuldet. Dabei gibt es allerdings auch gegenläufige Entwicklungen, die aus den neuen technologischen Optionen in Verbindung mit den Lernerfahrungen der Pandemie (Homeoffice und Videokonferenzen) und zunehmenden Autarkiebestrebungen insbesondere in den westlichen Industrienationen bei zeitgleichem neo-imperialen Ausgreifen Chinas (zum Beispiel Neue Seidenstraße) resultieren und in die Analyse plausibel integriert werden müssen.

Belastungen von Infrastrukturen und Ressourcenverbräuchen

Auch die tiefgreifende geopolitische Reorganisation von strategischen Bündnissen und Kooperationen führt schon heute und auch zukünftig absehbar zu einer Neustrukturierung von Transportströmen. So ist es beispielsweise zu erwarten, dass der sehr wahrscheinlich längerfristige Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union und die damit ausbleibenden Transportströme (Pipelines, Rohstoffe, Vor-, Halb- und Endprodukte) durch eine Weiter- und Neuerschließung des sibirischen Verkehrsraumes im Rahmen einer verstärkten China-Russland-Kooperation kompensiert bzw. sogar überkompensiert wird. Auch die Neuerschließung von bislang unzugänglichen Ressourcenreservoirs wie der Tiefsee, dem Mond oder dem arktischen Wirtschaftsraum, der durch den beschleunigten Klimawandel nun rasant zugänglich wird, wird zu neuen Erschließungs- und Besiedlungsmustern und damit verbundenen zusätzlichen Verkehrsströmen führen. Schließlich wäre die im Zusammenhang der gegenwärtigen militärischen Konfrontation in der Ukraine zu beobachtende Verkehrsgenese als Resultat der militärischen Logistik eine eigenständige Analyse wert. Hier wird für den Moment angenommen, dass auch sie zu nicht unerheblichen Zuwächsen der Belastungen von Infrastrukturen und Ressourcenverbräuchen bzw. Emissionen führen. Die Konsequenzen dieser bislang in ihrem weiteren Verlauf in keiner Weise sicher absehbaren Prozesse wird zu beobachten sein.

Das sich aus diesen Entwicklungen ergebende Kräftefeld von gesellschaftlichen Treibern, neuen technologischen Optionen und langfristigen Anforderungen, wie die Klima-Adaption in bzw. die Klima-Mitigation durch die Mobilität, wird in den nachfolgenden Thesen zur Zukunft der Mobilität skizziert.

Digitalisierung der Mobilität

In der Epoche der Hypermobilisierung kommt es nicht nur zu einem übermäßigen Wachstum der Mobilität, sondern auch zu einer tiefen und umfänglichen digitaltechnischen Einbettung alltäglicher Mobilitätspraktiken. Diese Digitalisierung der Mobilitätsmärkte ist theoretisch unterreflektiert. Seit den relevanten Arbeiten soziologischer Verkehrsgenese-Analyse der späten 1990er- bzw. frühen 2000er-Jahre sind immerhin zwanzig Jahre vergangen. In dieser Zeit kam es zu einer massiven digitaltechnischen Innovationsspirale, deren Hauptanwendungs- und Experimentierfeld die Mobilitätsmärkte waren und weiterhin sind. Die Theoriebildung ist seitdem allerdings nicht maßgeblich weiter fortgeschritten. Das führt zum Befund eines anwachsenden Defizits der makro- und techniksoziologischen Analyse der Bedeutung der digitaltechnischen Einbettung und Beförderung der Verkehrsentwicklung in der Spätmoderne.

Reizt dieser „blinde Fleck der Digitalisierung der Mobilität“ für sich allein betrachtet schon zur weiteren Analyse, so kommen noch zwei Sachverhalte von möglicherweise sehr folgenreicher innovations- und verkehrspolitischer Bedeutung hinzu. Erstens könnte die Digitalisierung der Mobilität dazu beitragen, dass die Mobilitäts- und Verkehrswende weniger Dynamik entwickelt als bislang erhofft und erwartet. Die schrittweise informationstechnische Erneuerung und Optimierung wäre somit nicht nur ein vergeblicher Hoffnungsträger der Ökologisierung der Mobilität, sondern paradoxerweise zugleich ein zusätzlicher Beharrungsfaktor der enormen Pfadstabilität der gegebenen Verkehrssysteme und des gegebenen Modal-Splits. Hier habe ich mich in der früheren sehr positiven Bewertung der Potenziale digitaler Technologie für die Realisierung von starken Nachhaltigkeitspotenzialen in der Mobilität selbst zu hinterfragen und womöglich zu korrigieren. Zweitens steigen mit der Digitalisierung die Unterbrechungsrisiken enorm an, was zu den nächsten Kernbegriffen dieses Essays überleitet.

Was bleibt für den Moment?

Eine Politik, die stärker mit den Gegebenheiten arbeitet und vor allem also auf die Veränderung der Antriebe setzt. Die akzeptiert, dass nach wie vor sehr viele Menschen auf dem Land leben, die auf das Auto angewiesen sind. Es ist unrealistisch zu glauben, es könne der öffentliche Verkehr funktional äquivalent zur Automobilität in ländlichen Regionen schnell ausgebaut werden. Das wird momentan kaum gelingen – es fehlt an politischem Willen, an Geld, an Ingenieuren und Arbeitskräften. Angesichts der klimapolitischen Zeitnot wäre es deshalb sinnvoller, schnell auf Downsizing zu setzen, kleine Fahrzeuge mit verbrauchsarmen Verbrennungsmotoren zu optimieren. Ein-Liter-Autos für die Pendler auf dem Land zu entwickeln und deren Kauf zu fördern. Und in den urbanen Bereichen bis weit hinein nach Suburbia würde ich nach wie vor weiter auf ÖV, Downsizing bei der E-Mobilität und vor allem den (elektrifizierten) Radverkehr setzen.

Dieser Text erscheint erstmalig im ­Medienmagazin  Ν und wird in einem Buch veröffentlicht, an dem Prof. Dr. ­Stephan Rammler im Moment arbeitet.

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Prof. Dr. Stephan Rammler war von 2002 bis 2022 Professor für Transportation Design & Social Sciences, von 2018 bis 2023 Direktor am IZT- Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin. Heute arbeitet der studierte Politikwissenschaftler und Techniksoziologe als freier Wissenschaftler und Autor in den Themenfeldern der Zukunfts- und Transformationsforschung, Mobilität, ­Resilienz und Klimafuturologie.

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