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KRIEG UND FRIEDEN
Ein Held von Leipzig – Künstler und Fotograf Martin Neuhof
Foto: © Bernd Lammel für NITRO
30 Jahre Mauerfall

Ein Held von Leipzig – Künstler und Fotograf Martin Neuhof 

Die Bilder gingen um die Welt: Im Oktober 1989 riefen die Leipziger „Wir sind das Volk!“ und demonstrierten gegen das DDR-Regime. Viele Fotografen dokumentierten die Montagsdemos auf dem Leipziger Augustusplatz. ­Einer von ihnen war der ADN-Fotograf Friedrich Gahlbeck. 30 Jahre später nutzt die AfD eines seiner Fotos für ihre Wahlwerbung zur Kommunalwahl in Leipzig und plakatiert es mit den Worten: „Wende für Leipzig“. Gahlbeck kann sich gegen die Verwendung nicht mehr wehren, er ist mittlerweile verstorben. Sein Enkel Martin Neuhof, ebenfalls Fotograf, nimmt den Kampf mit der rechtsorientierten Partei auf. Nicht sein einziges Werk, der Leipziger ist ein kreativer Kopf …

 

? Sie sind Fotograf wie Ihr Großvater geworden. Er war zur DDR-Zeiten Fotoreporter beim Allgemeinen Deutscher Nachrichtendienst (ADN) und fotografierte vor 30 Jahren die Montagsdemos in Leipzig. Haben Sie an diese Zeit noch Erinnerungen?

! Nicht so viele Erinnerungen. Ich war 1989 fünf Jahre alt und erinnere mich eher an die Jahre nach dem Mauerfall. Mein Großvater nahm mich mit in die Dunkelkammer, wenn er Fotos vergrößert hat, und das war natürlich spannend für mich. Einmal standen wir auf einem Feld und haben den Mond fotografiert. Diese Kindheitserinnerungen sind mir geblieben. Als er starb, war ich 14 Jahre alt, und kurz danach bekam ich meine erste Digitalkamera.

? Sie sind gleich digital eingestiegen, haben nicht erst analog fotografiert?

! Ich habe nie analog fotografiert, sondern bin mit einer Olympus C860 mit 1,3 Megapixeln und einer 8-Megabyte-Speicherkarte eingestiegen (Markteinführung Januar 2000; Anm. d. Red.). Damals war das für mich und mein Umfeld sensationell, dass man das Bild sofort sehen konnte.

? Sie haben sofort losgelegt mit dem Fotografieren?

! Ich habe meine ganze Jugend in Digitalbildern festgehalten, und all diese Bilder sind noch heute auf Festplatten gespeichert.

? Sie haben Ihre komplette Jugend in Bildern dokumentiert?

! Jede Party, jeden Geburtstag, meine Freunde, meine Familie, besondere Ereignisse, einfach alles. Wenn ich mir die Fotos heute ansehe, finde ich es immer wieder schade, dass ich mit meinem Großvater nie über meine Bilder reden konnte. Ich würde viel dafür geben, mal zwei Stunden mit ihm meine Fotobücher durchzusehen und seine Meinung zu erfahren.

Großvater hätte es gefallen, dass seine Bilder „weiterleben“

? Die Fotos Ihres Großvaters liegen heute im Bundesarchiv?

! Nach seinem Tod hat meine Oma die Bilder, die bereits im Bundesarchiv lagen, für Veröffentlichungen freigegeben. Meinem Großvater hätte es gefallen, dass seine Bilder „weiterleben“. Es sind etwa 1 400 Bilder von unterschiedlichen Ereignissen – zum Beispiel von den Olympischen Sommerspielen in München 1972. Nach der Wende, Anfang der 1990er-Jahre, hat er sehr viel für den lokalen Sportteil der Leipziger Volkszeitung fotografiert.

? Ihr Großvater hätte sich gefreut, dass Sie Fotograf geworden sind?

! Ich war nicht von Anfang an Fotograf, sondern habe zwei Ausbildungen gemacht. Neben der Fotografie galt dem Computer und der Grafik mein größtes Interesse, deshalb habe ich eine Ausbildung zum Assistent für Wirtschaftsinformatik und Mediengestalter gemacht. Vor etwa zwölf Jahren fragte dann ein Fotograf, ob ich ihm eine Website gestalten könnte. Klar konnte ich das, aber ich wollte keine Bezahlung, sondern eine Spiegelreflexkamera. Es war der Startschuss für meine Arbeit als Grafiker und Fotograf, denn ich konnte beides sehr gut miteinander verbinden.

? Sie hatten gleich so viele Jobs, dass sie davon leben konnten?

! Ich bekam die Chance, bei der Leipziger Messe als freier Mitarbeiter in der Online-Kommunikation zu arbeiten. Gleichzeitig habe ich mich selbstständig gemacht – einerseits arbeitete ich für ein sicheres Einkommen und den Rest der Zeit habe ich Fotojobs übernommen. Inzwischen bin ich ausschließlich Fotograf.

? Zurück zu Ihrem Großvater. Er hat im Oktober 1989 ein Foto von den Montagsdemos auf dem Leipziger Ring gemacht. Dieses Foto hat die AfD in diesem Frühjahr für die Wahlwerbung zur Kommunalwahl verwendet. Wie haben Sie davon erfahren?

! Freunde, die die Wahlwerbung bei Facebook gesehen hatten, schickten mir eine Mail und fragten: Schau mal, die AfD Leipzig benutzt dieses Foto auf Facebook. Gehört das nicht deinem Opa?

Ich wollte, dass die Plakate verschwinden

? Es war das Foto Ihres Großvaters?

! Ja, und ich sah sofort, dass es ohne Bildnachweis veröffentlicht wurde. Alle Fotos, die im Bundesarchiv liegen, dürfen nur mit Copyright-Nachweis veröffentlicht werden. Ich habe das Bundesarchiv kontaktiert, die haben die AfD abgemahnt und erwirkt, dass das gelöscht wurde.

? Das ist aber nicht das Ende der Geschichte …

! Ich dachte, die Sache wäre damit aus der Welt, denn mein Großvater hätte nicht gewollt, dass eine Partei wie die AfD sein Foto verwendet. Eine Woche später schickte mir ein Journalist ein Foto mit der Bemerkung: Schau mal das Plakat, daran bin ich gerade vorbeigefahren. In Leipzig standen und hingen riesige AfD-Plakate mit dem Foto meines Großvaters.

? Sie haben Sie reagiert?

! Ich versuchte herauszufinden, wo die Plakate überall hingen, und wusste sehr schnell, dass es bis über 40 großflächige Plakate in ganz Leipzig gab.

? Wie haben Sie das so schnell herausgefunden?

! Ich habe über Twitter und Facebook einen Aufruf gestartet und die Leute gebeten, mir zu schreiben, wenn sie das AfD-Plakat mit dem Foto meines Großvaters irgendwo sehen. Das hat sich blitzschnell viral verbreitet, und die Reaktion war überwältigend. Dann ging es los mit Presseanfragen, die mich so überrollt haben, dass ich eine Woche nicht arbeiten konnte. Natürlich habe ich meinen Anwalt kontaktiert, denn ich wollte, dass die Plakate verschwinden. Vor dem Landgericht habe ich eine Unterlassung erwirkt. Das Landgericht hat entschieden, dass die AfD alle Plakate abnehmen muss. Viel geholfen hat es nicht, denn das Urteil kam am Freitag – und am Sonntag wurde gewählt. Ich wollte zeigen, dass man sich erfolgreich gegen die AfD wehren kann. 

Ich fotografiere Menschen an ihrem Lieblingsort

? Dazu braucht man Durchsetzungsvermögen. 

! Klar hätte ich mir viel Stress ersparen können, wenn ich die Postings bei Twitter und Facebook nicht veröffentlicht hätte. Ich hätte keinen Stress, sondern eine ruhige Woche gehabt, aber darum ging es mir nicht. Ich dachte die ganze Zeit an meinen Großvater. Der hätte das niemals gewollt.

? Gab es neben den vielen positiven Reaktionen auch Hasskommentare?

! Klar. Es gab Kommentare wie: „Dein Opa würde heute AfD wählen.“ „Dein Opa würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was du hier machst.“ „Wenn dein Opa wüsste, wie du gegen die AfD vorgehst, der würde dir den Arsch versohlen.“ „Du schmückst dich mit fremden Federn.“ Eigentlich hat mich der Kommentar, ich würde mich mit fremden Federn schmücken, am meisten geärgert. Ich habe mich nie mit „fremden Federn“ geschmückt. Ich wollte lediglich, dass die AfD nicht mit dem Foto meines Großvaters für sich wirbt. Aber solche Leute differenzieren nicht, die diffamieren, weil es ihnen nur um Hetze geht.

? Mit fremden Federn müssen Sie sich gar nicht schmücken. Sie haben viele eigene großartige Fotoprojekte, die Ihre Handschrift tragen und die sehr außergewöhnlich sind. Zum Beispiel das Projekt Herzkampf. Worum geht es dabei?

! Ich fotografiere Menschen an ihrem Lieblingsort beziehungsweise an einem Ort ihrer Wahl, der ihnen etwas bedeutet, und frage, wofür sie sich engagieren, wen sie unterstützen, wo sie sich politisch engagieren. Es geht um Menschen, die sich gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und für eine offene Gesellschaft einsetzen. 

No-Legida-Demo in Leipzig mehr als 30 000 Menschen

? Wer oder was hat Sie zu dieser Idee inspiriert?

! Ich bin in Leipzig Mitbegründer des Bündnisses „No Legida“ und ich glaube, das war die Initialzündung, die Inspiration für mein politisches Engagement. Leipzig ist mir wichtig, und was die Leute von Pegida in Dresden an Hass und Hetze schüren, hat mich sehr aufgebracht. Ich war geschockt, als sich in Leipzig Legida gründete, und da wurde mir klar: Ich möchte keine Dresdner Verhältnisse. Ich startete eine Facebook-Seite und habe alle meine Freunde eingeladen – am Ende des Tages hatte ich zehntausend Fans. Da war klar, ich brauche ein Team. Zusammen mit zwei anderen Leipzigern haben wir No Legida ins Leben gerufen und über zwei Jahre betreut. Es war eine sehr aufreibende Zeit, denn wir musste viel Hass aushalten. Aber wir konnten Proteste gegen Legida organisieren, und im Zusammenschluss mit anderen Gruppen mobilisierten wir bei der ersten No-Legida-Demo in Leipzig mehr als 30 000 Menschen. Das war ein starkes Zeichen und hat dazu geführt, dass es Legida in Leipzig seit 2017 nicht mehr gibt. 

? Zurück zum Fotoprojekt Herzkampf. Wann haben Sie das Projekt gestartet, und wie viele Menschen haben Sie bereits fotografiert?

! Ich versuche seit etwa einem Jahr, jede Woche einen engagierten Menschen zu fotografieren, und bin jetzt bei Nummer 50 angekommen. 

? Wie finden Sie diese Menschen?

! Am Anfang habe ich in meinem Freundeskreis und in meinem Netzwerk gefragt und dann Menschen angesprochen, die ich über No Legida kennengelernt hatte. Die Leipziger sind offen. Es gibt viele, die Gesicht zeigen wollen. Ich habe mit dem Herzkampf-Projekt ein Verbindungsstück zwischen Fotografie und politischem Engagement gefunden.

Fotos auf Twitter, Instagram und Facebook

? Ist das Herzkampf-Projekt auf Leipzig begrenzt?

! Nein. Der Hauptfokus liegt auf Sachsen und auf dem Osten Deutschlands, aber ich hatte auch schon Leute aus Köln vor der ­Kamera. 

? Wo sind die Fotos zu sehen?

! Das Projekt hat eine eigene Website (https://herzkampf.de/, Anm. d. Red.), und ich veröffentliche die Fotos auf Twitter, Instagram und Facebook. Ich möchte mich auch als Fotograf klar positionieren und sage immer, wofür ich stehe. Ich würde zum Beispiel nicht für Leute arbeiten, die mit der AfD sympathisieren.

? Sie haben ein zweites großes Fotoprojekt umgesetzt: „101 Helden“. Worum ging es dabei?

! 101 Helden war mein erstes Langzeitprojekt (von 2010–2013). Ich habe Menschen auf der Straße angesprochen und gefragt, ob ich sie für das Projekt 101 Helden fotografieren darf, damit wurden sie zu meinen Leipziger Helden.

Fotos aus der Vogelperspektive

? Helden aus der Heldenstadt Leipzig? 

? Genau. Helden deshalb, weil Leipzig im Volksmund Heldenstadt heißt. Es hat mich eine Menge Überwindung gekostet, denn ich musste lernen, Menschen auf der Straße anzusprechen, ob ich sie fotografieren darf. Das ist mir nämlich nicht so leichtgefallen. 

? Es sind tatsächlich 101 Leipziger Helden geworden?

! Mein Ziel war es, 101 Helden zu finden. Ich habe 100 Helden gefunden, danach war Schluss. Da habe ich mich entschlossen, die Nummer 101 zu werden, denn ich bin mit Leib und Seele Leipziger.

? Wo ist das 101-Helden-Projekt zu ­sehen? 

! 101 Helden hat ebenso wie Herzkampf eine eigene Webseite (http://101helden.de/, Anm. d. Red.)

? Sie setzen aber nicht nur politische Themen um, Sie fotografieren auch Menschen in ihren Milieus. Was hat es mit dem Projekt „Leipziger Bettgeschichten“ auf sich?

! Die „Leipziger Bettgeschichten“ war eine Idee, die ich zusammen mit einem Kollegen umgesetzt habe. Ich war immer schon von Fotos aus der Vogelperspektive fasziniert, und aus dieser Faszination entstand die Idee, Leipziger in ihren Schlafzimmern von oben zu fotografieren. Nichts Schmuddeliges oder Anstößiges. Die Menschen konnten im Bett lesen, mit den Kindern spielen, sich küssen oder einfach schlafen. Gestartet sind wir im Freundeskreis. Viele Leipziger haben wir über unsere Netzwerke gefunden. Am Ende haben wir in 77 Leipziger Schlafzimmern fotografiert und die Fotos in einer Ausstellung gezeigt.

Leipzig sollte weltoffen und menschlich bleiben

? Wo wurden die „Leipziger Bettgeschichten“ ausgestellt? 

! Die Fotos wurden im Leipziger Hauptbahnhof ausgestellt. Als wir nach einem Platz suchten, an dem möglichst viele Menschen vorbeikommen, fiel uns der Hauptbahnhof ein. Wir haben gefragt, ob wir unsere Ausstellung dort zeigen können, und es hat geklappt. Wir haben sogar einen Sponsor gefunden, der die Fotodrucke bezahlt hat. Das Interesse an den „Leipziger Bettgeschichten“ war enorm, denn offenbar steckt in vielen Menschen ein wenig Voyeurismus. 

? Was sind Ihre nächsten Projekte?

! Das Herzkampf-Projekt läuft weiter, da habe ich bis jetzt noch keinen Schlusspunkt gesetzt. Um die Miete zahlen zu können, übernehme ich Auftragsarbeiten, und ich mache mit Menschen, die ich interessant finde, freie Shootings. Außerdem arbeite ich an einem neuen Projekt: Unterwasserfotografie. 

? Was hat es damit auf sich?

! Im Sommer fahre ich oft an einen der vielen klaren Seen rund um Leipzig und fotografiere Menschen unter Wasser. Dabei entstehen tolle Motive. Die ziehe ich auf große Leinwände auf. So entstehen Leipziger Unterwasserkunstwerke, die mir eine ganz neue Perspektive der Fotografie eröffnen.

? Was würden Sie sich für Leipzig im 30. Jahr des Mauerfalls wünschen?

! Leipzig sollte weltoffen und menschlich bleiben, das hätte sich mein Großvater sicher gewünscht. Die Leipziger sollten sich aktiv gegen Rassismus zur Wehr setzen und der AfD zur Landtagswahl nicht ihre Stimme geben. Denn Leipzig ist nicht nur eine Heldenstadt, sie kann Inspiration für viele Menschen sein, egal woher sie kommen.  

Das Interview führte
Bettina Schellong-Lammel

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