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UTOPIE Verkehrswende
Polarisierung, Spaltung, Protest – Bürgerkrieg?

Bernd Lammel

Interviews

Polarisierung, Spaltung, Protest – Bürgerkrieg? 

Leben wir in einer „gespaltenen Gesellschaft“? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen, und die Gebiete, auf denen sie eine Spaltung vermuten, werden immer umfangreicher. Seit Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine führt, tritt die Spaltung der Gesellschaft noch offener zutage, und Querdenker, Identitäre oder andere rechte Kräfte befeuern diese Spaltung, indem sie dem Westen die Schuld für Russlands Angriffskrieg geben und Verständnis für Putin äußern. Die Energiekrise, die der Krieg im Westen ausgelöst hat, befeuert bei linken und rechten Kräften zusätzlich die Forderungen nach einer „Einigung“ mit Putin, in der Hoffnung, dass der Gas- und Strompreis wieder sinken würde. NITRO hat mit dem Protestforscher und Soziologen Prof. Dr. Rucht darüber gesprochen, wie weit die Polarisierung der Gesellschaft fortgeschritten ist, ob die ultimative Zuspitzung einer Polarisierung in einer Spaltung enden kann und warum sich vermeintlich „vernünftige“ Menschen Querdenkern und Verschwörungstheoretikern und deren Protestbewegung anschließen.

? Nicht erst seit der Corona-Pandemie scheint sich die Gesellschaft immer weiter zu spalten. Zwischen Ost und West, Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet und zwischen Klimaleugnern und Klimaaktivisten polarisieren die Standpunkte und Sichtweisen. Wie nehmen Sie als Protestforscher und Soziologe die „Spaltung der Gesellschaft“ wahr, und wie groß ist Ihrer Meinung nach die Protestbewegung, die die Spaltung der Gesellschaft befeuert?

! Zunächst würde ich begrifflich zwischen Spaltung und Polarisierung unterscheiden. Hinter einer Spaltung steckt eine konkrete Vorstellung wie zum Beispiel das Spalten eines Holzklotzes. Das heißt, dass eine Einheit zerschlagen wird. Es gibt aber auch den Felsspalt, und hier bleibe ich erneut bei Bildern: Entlang eines Felsens verlaufen ein paar Spalten, aber der Fels als Ganzes ist immer noch relativ stabil. Das sind erstmal bildlich gefasst zwei Vorstellungen von Spaltung.

Polarisierung ist damit nicht deckungsgleich. Bei einer Polarisierung dünnt sich die Mitte aus, und Personen oder Gruppen wandern zu den Rändern. Diese Ränder werden als gegensätzlich gedacht: plus versus minus, links versus rechts, Arbeit versus Kapital oder Kommunitaristen versus Kosmopoliten.

? Wie weit ist die Polarisierung der Gesellschaft Ihrer Meinung nach fortgeschritten?

! Am besten kann man das anhand von Vergleichsfällen beurteilen. Ich denke an die Weimarer Republik, da haben sich die Leute in bestimmten Phasen buchstäblich auf der Straße bekriegt; es gab Mord und Totschlag. Oder denken wir an Bürgerkriege, historische und auch aktuelle Bürgerkriege – die ultimative Zuspitzung einer Polarisierung, die in einer Spaltung enden kann. Beispiele sind Länder, die vorher eine Einheit bildeten, wie der Sudan, wo sich jedoch in Folge einer Polarisierung ein Teil des Landes abgespalten hat.

Wenn wir aber über die Bundesrepublik, über das Hier und Jetzt sprechen, dann ist es sinnvoll, sich erst einmal den Maßstab zu vergegenwärtigen. Gemessen an diesem Extrembeispiel der Polarisierung im Bürgerkrieg und des Auseinanderfallens von Staaten sind wir meilenweit entfernt von einem solchen Zustand. Wenn wir aber, bezogen auf die heutige Zeit, Vergleiche ziehen wollen, dann sehen wir durchaus Länder mit einer sehr starken Polarisierung. Dazu könnte man vor allem die USA und Brasilien rechnen. Es gehören aber auch, wenngleich weniger deutlich, Polen, Italien oder Frankreich dazu. Dort gibt es deutliche Anzeichen einer, ich sage bewusst nicht Spaltung, sondern Polarisierung. Aber wir sehen auch Länder, in denen die Polarisierung äußerst schwach ausgeprägt ist. Dazu würde ich die skandinavischen Länder zählen. Vor diesem Hintergrund bewegt sich die Bundesrepublik eher im Mittelfeld.

? Wie fragil ist die Mitte in Deutschland heute?

! Betrachten wir die letzten zwei, drei Jahrzehnte, dann gibt es auch in Deutschland eine zunehmende Polarisierung. Aber das ist noch kein exorbitantes Ausmaß vor dem Hintergrund des Vergleichs mit anderen Ländern, die ich schon nannte.

? In der Silvesternacht 2022/2023 kam es in mehreren europäischen Städten zu Krawallen. In Berlin wurden Feuerwehrleute und Sanitäter gezielt mit Böllern und Steinen angegriffen wurden. Gibt es eine Erklärung dafür?

! Ich glaube, das ist kein neues Phänomen. Unter dem Eindruck der Tagesaktualität rücken solche Ereignisse natürlich in den Vordergrund. Man empört sich darüber, ist entsetzt und sagt: Wie kann das passieren? Vor allen Dingen dann, wenn in den Jahren zuvor alles ruhiger ablief. Aber wenn man wieder den langen historischen Vergleich zieht, dann gibt es immer wieder das Phänomen, dass Jugendliche oder junge Männer über die Stränge schlagen. Das passiert seit Jahrhunderten. Zum Beispiel haben an einem bestimmten Tag des Jahres, in der sogenannten Bonfire Night, Jugendliche in England brennende Reifen durch die Straßen gerollt, was im Wortsinne brandgefährlich war, denn es konnten ganze Dörfer vernichtet werden. Wir haben auch das Phänomen der Halbstarken in den 1950er-Jahren, als Jugendliche durch aggressive Sprüche und körperliche Attacken provoziert haben. Nicht zu vergessen sind auch die Eruptionen in den Fußballstadien oder nach Fußballspielen, wenn sich junge Männer mit der Polizei prügeln. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte die heutigen Vorkommnisse nicht verharmlosen. Ich will aber darauf hinweisen, dass es solche Übergriffe bereits in der Vergangenheit gab.

? Mit der Corona-Pandemie im Jahr 2020 spitzte sich die Polarisierung in der Gesellschaft immer mehr zu, mit der Querdenkerbewegung wurde die Stimmung aggressiver, gewalttätiger und unversöhnlicher. Wie konnte es zu einer solchen Polarisierung kommen, und warum schließen sich vermeintlich „vernünftige“ Menschen Verschwörungstheorien und deren Protestbewegung an?

! Wir haben in der Tat eine Entwicklung, die qualitativ etwas anders ist als diese kurzfristigen Eruptionen von Jugendlichen, die über die Stränge schlagen, provozieren und attackieren. Über die letzten Jahre hinweg, und ich würde sagen, beginnend in den 1990er-Jahren im nunmehr vereinigten Deutschland, erleben wir eine Zunahme von rechtspopulistischen und rechtsex­tremen Einstellungen und auch Handlungen. Die gab es vereinzelt schon davor, aber jetzt passiert Folgendes: Es setzt sich so etwas wie ein diffuses Unbehagen an den herrschenden Verhältnissen in diesem Milieu und seinem sozialen Umfeld fest. Und ich sage diffus, weil es gar nicht immer ideologisch oder politisch klar profiliert ist. Das kann seine Ausdrucksform finden in rechtsradikalen Splitterparteien, in der AfD, in Form von Pegida und so weiter – und daran orientieren sich häufig Leute, die ideologisch überhaupt nicht gefestigt sind. Sie sind nicht per se rechts oder gar rechtsradikal, aber sie sind verunsichert und misstrauisch. Sie schimpfen über „die da oben“, die korrupt und unmoralisch sind, die sich die eigenen Taschen vollstopfen und die Entwicklungen zulassen, die nicht sein dürften, zum Beispiel die Zuwanderung. Und so entsteht auch bei Menschen, die kein geschlossenes rechtes Weltbild haben, die aber offen für rechte Ideologien sind, ein sich allmählich verdichtendes Syndrom. Sie stören sich nicht daran, Seite an Seite mit ausgewiesenen Rechtsradikalen zu demonstrieren. Durch diese Vermischung von ideologisch und strategisch vorgehenden Leuten mit „Normalbürgern“, die sich nur anhängen und zunächst lediglich eine Rolle als sympathisierende Zuschauer einnehmen, entsteht allmählich ein sich verdichtendes Gewebe von Menschen, die politisch instrumentalisiert werden können.

? Sind es nur rechtsorientierte Themen, denen sich solche Menschen anschließen?

! Nein, die Themen sind vielfältig und können wechseln. Das kann Corona sein und das Impfen, die Zuwanderung, die sogenannte Identitätspolitik des Genderns der Sprache, die Energiepolitik, Klimathemen oder die hohen Mieten. Aber es ist immer ein gemeinsamer Hintergrund oder Untergrund, der besagt: Politiker wollen uns benachteiligen, in eine bestimmte Richtung drängen, uns sagen, was wir zu denken und zu tun haben. Und das sind meist ganz unspezifisch „die da oben“. Zum Teil wird es aber auch konkretisiert. Die Juden in den USA, die Reichen, die sich bedienen und ihren Vorteil suchen. Es können auch „linksversiffte“ Ideologen sein, die ihre Gender-Politik durchgesetzt wissen wollen. Um es nochmal auf den Punkt zu bringen: Wir haben eine Verdichtung von sozialen Milieus, die zu großen Teilen gar nicht ideologisch gefestigt sind, die aber verführbar und instrumentalisierbar sind durch ideologisch profilierte Gruppen im rechtspopulistischen und rechtsradikalen Lager.

? Das können wahrscheinlich auch Menschen sein, die einfache Erklärungen oder einfache Lösungen wollen. Die Frage ist: Wo führt das hin?

! Wir leben in einer Zeit, in der die Verhältnisse in jeder Hinsicht – politisch, ökonomisch, kulturell und sozial – reichlich komplex sind. Und sie werden immer komplexer. Menschen fühlen sich verunsichert, und zwar auf vielen Gebieten. Dann entsteht ein starkes Bedürfnis, diesen gordischen Knoten der Komplexität zu durchschlagen, indem man einfache Schuldzuweisungen vornimmt und nach einfachen Lösungen sucht. Das nutzen „politische Unternehmer“ besonders aus dem rechtspopulistischen Lager; sie beuten dieses Bedürfnis aus, machen entsprechende Angebote und finden damit auch Resonanz.

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