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UNICEF-Foto des Jahres 2022: Zuflucht zu den Büchern
Interviews

UNICEF-Foto des Jahres 2022: Zuflucht zu den Büchern 

Zum 23. Mal zeichnet UNICEF Deutschland mit dem internationalen Wettbewerb „UNICEF-Foto des Jahres“ Bilder und Reportagen professioneller Fotojournalistinnen und -journalisten aus, die die Persönlichkeit und die Lebensumstände von Kindern auf herausragende Weise dokumentieren. Voraussetzung für die Teilnahme ist in jedem Jahr die Nominierung durch international renommierte Fotografie-Experten.

Das UNICEF-Foto des Jahres 2022 hält einen seltenen Moment von Ruhe und Glück inmitten des Konflikts im Norden Äthiopiens fest. In der zerstörten Bibliothek einer Grundschule in der äthiopischen Region Tigray vertiefen sich ein Mädchen und ein Junge in Bücher. Das diesjährige Siegerbild des renommierten argentinischen Fotografen Eduardo Soteras zeigt, was die Kinder von Tigray mit den Kindern auf der ganzen Welt teilen: das Bedürfnis, sich friedlich und neugierig mit etwas beschäftigen zu dürfen, das ihnen Freude bereitet.

„Der Wunsch, Neues zu entdecken und zu lernen, ist bei Kindern oft so groß, dass er sie die Bedrohlichkeit einer Situation vergessen lässt. Das ist die Botschaft des UNICEF-Foto des Jahres 2022“, sagte UNICEF-Schirmherrin Elke Büdenbender bei der Preisverleihung in Berlin. „Das Siegerbild fordert uns auf, alles zu tun, damit Kinder auch unter den widrigsten Umständen spielen und lernen können. Denn nur so können sie sich ihre Hoffnung und Zuversicht in Zeiten des Krieges und anderer Krisen erhalten.“

„Der Hunger nach Wissen und Bildung ist das verbindende Element der prämierten Bilder in diesem Jahr“, sagte Peter-Matthias Gaede, Mitglied der Jury und des Deutschen Komitees für UNICEF. „Gerade in Konfliktgebieten und Krisenländern sind Schulen und psychosoziale Hilfsangebote Orte der Hoffnung, die die Kinder stabilisieren und ihnen Kraft geben.“

„Die Siegerbilder zeigen das Positive im gegenwärtigen Chaos der Welt“, erklärte Prof. Klaus Honnef, Vorsitzender der Jury. „Die Kinder auf diesen Fotos symbolisieren die Kraft und den Willen, durchzuhalten und weiter nach einer besseren Zukunft zu streben.“

? Eduardo, herzlichen Glückwunsch zum Erfolg. Hat ihr Herz schon immer für die Fotografie geschlagen?

! Nein. Ich war einmal ein Steuerberater. Ich habe „schreckliche“ Dinge getan – Bankprüfungen, Steuern, Buchhaltung. Da ich ziemlich schnell müde von diesen Themen wurde, packte ich meinen Rucksack und machte mich mit 22 Jahren auf den Weg nach Europa.

Obwohl ich aus der argentinischen Großstadt Cordoba komme, waren mir kreative Berufe unbekannt. Ich traf nie zuvor in meinem Leben einen Fotografen oder eine Fotografin. Die Welt der Fotografie eröffnete ein Erlebnis in Prag: Durch Zufall besuchte ich eine Ausstellung des Fotografen Josef Koudelka. Ich war völlig überwältigt, da ich nicht wusste, dass so etwas Wundervolles existierte. Okay – es kann schon sein, dass Erinnerungen Erlebnisse in etwas Poetisches verwandeln können. Aber im Ernst: Niemals zuvor habe ich so etwas Inspirierendes gesehen.

Ich kehrte nach Cordoba zurück und legte erneut meine Krawatte an. Danach haderte ich zwei Jahre lang mit meiner beruflichen Situation, denn ich hatte etwas gesehen, was mich und mein ganzes Leben von jetzt auf gleich verändern sollte. Langer Rede kurzer Sinn: Ich sah ein Bild von Koudelka und verliebte mich in die Fotografie. Ich verließ Argentinien und fand einen Weg, meine Leidenschaft zum Beruf zu machen.

? Wie kam es zur Foto-Reportage „Ethiopia’s Children in War“?

! Ich zog als Fotograf für Agence France-Presse (AFP) nach Äthiopien, nachdem ich zuvor einige Jahre in der Demokratischen Republik Kongo gearbeitet hatte. Als Fotograf einer Nachrichtenagentur gehört es zu meinem Job, die Situation vor Ort zu dokumentieren. So auch in Äthiopien. Das Interessante diesmal: Wir zogen als Familie an einen Ort, der aufgrund positiver Veränderungen in den Schlagzeilen war – ein Regierungswechsel und ökonomisches Wachstum. Alles wirkte perfekt. Plötzlich begannen die Unruhen, und der Konflikt eskalierte. Ich musste nun plötzlich Dinge fotografieren, mit denen ich zwei Jahre zuvor niemals gerechnet hätte. Was ich jetzt sage, mag bekannt klingen – aber nochmal: Die Menschen, die den höchsten Preis für all die Gewalt und die Zerstörung bezahlen, sind die unschuldigen Kinder dort draußen. Ich denke, dass man das auch in meinen Bildern sehen kann.

? Ihr Fotoprojekt ist über viele Monate hinweg entstanden. Nehmen Sie uns bitte mit auf Ihre Reise …

! Seit Beginn des Bürgerkrieges wurde der Zugang zu den umkämpften Gebieten drastisch eingeschränkt. Durch das persönliche Netzwerk meiner AFP-Kollegen vor Ort habe ich es dennoch immer wieder geschafft, in verschiedene Gegenden zu gelangen. Jede einzelne dieser Touren offenbarte neue Aspekte des Konflikts und half uns dabei, die undurchsichtigen Zusammenhänge der schrecklichen Vorgänge zu verstehen.

Vor unseren Fahrten ins Kriegsgebiet handelten wir mit den lokalen Behörden mögliche Stationen und Zeiten aus – so auch am Tag des Besuchs von Bisober, dem Entstehungsort des Gewinnerbildes. Wir verbrachten den Tag rund um das kleine Dorf an der Grenze der Region Tigray. Als wir mit einem Geländewagen vor einer Schule hielten, sahen wir Personen im Gebäude, die uns schließlich hereinbaten. Wie das Licht des Siegerbildes zeigt, war es bereits Nachmittag. Die Dorfbewohner, die uns zu einem Rundgang eingeladen hatten, erzählten uns davon, dass die Schule von Soldaten besetzt und als Rückzugsort genutzt worden war.

? Wie genau kam es zum Siegerbild in der zerstörten Schulbibliothek?

! Wir erkundeten die Schule und verschafften uns einen Überblick. Damit die Szenerie unberührt blieb und sich nicht künstlich veränderte, verhielt ich mich wie immer in derartigen Situationen extrem zurückhaltend. Es war ein Glücksmoment, als die beiden Kinder erschienen und uns herumführen wollten. Bereits in den Minuten zuvor hatte ich mich in der Bibliothek der Schule aufgehalten – das Licht war bereits sehr gut, und der verwüstete Anblick der Bücher auf dem Boden stellte ein interessantes Motiv dar. Für ein perfektes Bild fehlten jedoch Personen. Also wartete ich und orientierte mich weiter innerhalb der zerstörten Räumlichkeiten. Plötzlich fingen die Kinder damit an, uns die Bibliothek vorzustellen, die Bücher zu betrachten und sich über den Inhalt zu unterhalten. Ich versuchte weiterhin, so unscheinbar wie möglich zu bleiben. Letztlich hatte ich die Gelegenheit, das Siegerfoto aufzunehmen.

Im Anschluss führten die Kinder uns durch weitere Räume der Schule. Währenddessen konzentrierte ich mich darauf, sie agieren zu lassen, ohne eine Erwartungshaltung zu vermitteln. Denn ethische Aspekte sind mir bei der Ausführung meiner Arbeit extrem wichtig. Eine Szene kann noch so beeindruckend und einzigartig sein – sobald ich sie manipuliere, indem ich die Personen bitte, sich nach meinen Wünschen zu verhalten, ist sie wertlos.

? Was wissen Sie noch über die Kinder auf dem Bild?

! Leider musste alles sehr schnell gehen. Dadurch gab es keine Gelegenheit, mit den Kindern richtig zu sprechen. Ich konzentrierte mich allein auf das Fotografieren. In der Zwischenzeit interviewten meine Kollegen Erwachsene, die sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Schule befanden.

Es ist ein bekanntes Dilemma meiner Arbeit: Einerseits möchte ich als Fotograf alles über die Personen wissen, die ich fotografiere. Andererseits habe ich oftmals nur sehr wenig Zeit und möchte die Personen durch meine Worte und mein Handeln, wie gesagt, so wenig wie möglich beeinflussen – weder bewusst noch unbewusst.

[…]

Lesen Sie das komplette Interview im aktuellen Heft.

Eduardo Soteras, studierte Wirtschaftswissenschaften, bevor er zur Foto­grafie kam. Er arbeitete zunächst in Palästina, dann in Spanien, Mexiko, später im Himalaya, in der Demokratischen Republik Kongo und ab 2018 in Äthiopien. Gegenwärtig lebt er mit Frau und zwei Kindern in Nairobi. Ein 2011 publiziertes Werk von Soteras über Fluchtbewegungen in Zentral­amerika wurde in den USA als bestes Fotobuch des Jahres 2011 ausgezeichnet; seine Arbeiten werden bei großen Fotofestivals gezeigt und in internationalen ­Medien veröffentlicht.

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