Neuestes Heft: Jetzt bestellen!

UTOPIE Verkehrswende
Marina Weisband: Der Datenwahn muss enden
Foto: Bernd Lammel
Interviews

Marina Weisband: Der Datenwahn muss enden 

Der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist Marina Weisband bereits 2011, da war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland und für die Meinungsbildung innerhalb der Partei zuständig. Heute engagiert sich die Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung bei den Grünen in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung. Bereits 2013 schilderte Weisband in ihrem Buch „Wir nennen es Politik“ die Möglichkeiten neuer demokratischer Formen durch Nutzung des Internets. Beim Deutschlandfunk äußert sie sich in einer regelmäßige Radiokolumne zu Themen in der digitalen Welt. Darüber hinaus ist Marina Weisband Co-Vorsitzende beim Verein D64, dem Zentrum für digitalen Fortschritt. Im Interview mit NITROspricht sie über das Internet als kleine Druckerpresse in unserer Hosentasche, ein genossenschaftliches Internet, über „unschuldige“ Daten und die Vorratsdatenspeicherung.

? Die Digitalisierung bestimmt unser Leben – die Datensammelwut großer Tech-Konzerne scheint grenzenlos – aber auch der Staat und die Geheimdienste sammeln Daten und Informationen, Stichwort Gesichtserkennung, Scoring-Systeme, Personalausweis mit Fingerabdruck oder Netzdurchsuchung. Der Schutz unserer Daten vor dem „Generalzugriff“ all dieser Akteure liegt Ihnen schon immer am Herzen. Bereits mit Anfang 20 waren Sie als Datenschützerin unterwegs und seit 2011 Geschäftsführerin der Piratenpartei. Warum haben Sie sich schon als Studentin dem Schutz der Daten verschrieben?

! Ich habe mich schon als Studentin dem politischen Kampf für die Rechte in der Digitalisierung verschrieben, weil mir sehr früh klar war, dass die digitalisierte Welt ganz eigenen Spielregeln folgt. So wie wir im 15. Jahrhundert einen riesigen kulturellen Wandel hatten, der 1440 mit der Erfindung des Buchdrucks einherging, hat heute jeder mit dem Internet eine kleine Druckerpresse Deluxe in der Hosentasche. Weil das Internet sehr viel verändert hat und immer noch verändert, brauchen wir Spielregeln, sowohl kulturelle als auch gesetzliche, die unsere verbrieften Rechte in einer digitalisierten Welt schützen. Der Schutz unserer Daten ist also ein sehr zentraler Aspekt.

? Der Staat wünscht sich gläserne Bürger, Geheimdienste die totale Kontrolle, Tech-Konzerne und Dienstleistungsunternehmen das Big Business – sprich Menschen als Werbeempfänger. Wer oder was bedroht die Demokratie aus der digitalen Welt heute am meisten?

! Es ist ein Zusammenspiel der verschiedenen Akteure. Wir haben im Moment die beispiellose Situation, in der wenige Großunternehmen so mächtig sind, wie es keine Entität auf der Welt zuvor war. Und das ist kein Zufall. Das Internet neigt ob seiner Natur zur Monopolisierung, und es gibt Netzwerkeffekte: Die Nutzer wollen da sein, wo die Freunde auch sind. Durch die kapitalistischen Strukturen schlucken die großen Akteure die kleinen Konkurrenten und können sie aufkaufen. Wenn wir nicht wichtige Aspekte wie Datenschutz oder das Kartellrecht sehr stark durchsetzen, landen ganz unterschiedliche Daten von uns allen in den Händen weniger riesiger Unternehmen, wo sie verknüpft werden. Diese Datensammlungen sind wiederum sehr, sehr interessant für Geheimdienste.

? … und da gibt es „Kooperationen“?

! Dass es Kooperationen gab und gibt, wurde beispielsweise durch Edward Snowden ganz klar bewiesen. Immer, wenn ein Akteur einen so riesigen Datenpool anlegt, ist es egal, ob er in staatlicher Hand ist, in der Hand von Geheimdiensten oder in der Hand von Privatunternehmen. Ein solcher Datenpool ist immer gefährdet, wenn andere darauf zugreifen können. Im Moment sind Mega-Konzerne am gefährlichsten, weil sie die meisten Daten sammeln können und weil wir dem „freiwillig“ zustimmen. Aber auch der Staat ist ein sehr gefährlicher Akteur, weil beispielsweise Google nicht mit einer bewaffneten Truppe meine Tür eintreten oder die Wohnung durchsuchen kann – der Staat hingegen ist dazu in der Lage.

? … und er tut es manchmal sogar, wie im Mai bei einem Journalisten aus Würzburg …

! Richtig. Der Staat und die Geheimdien­ste versuchen natürlich, alles an Daten zu bekommen, was sie bekommen können. Das ist überhaupt nicht neu, sondern ­normal. Es gibt aber eine neue Qualität, dass Staat und Geheimdienste Daten über private Unternehmen erheben, denn wir leben inzwischen in einer Welt, in der auf Schritt und Tritt alles über uns erfasst wird.

? Spielt nicht auch die Naivität mancher Bürger eine Rolle, die sagen: „Ich habe nichts zu verbergen. Meinetwegen könnt ihr von mir alles wissen.“ Nicht jeder legt Wert auf umfassenden Schutz seiner Daten.

! Dahinter stecken zwei Irrglauben. Der erste ist, dass Datenschutz generell als abstraktes Thema emotional sehr schwer zu fassen ist. Man kann natürlich sagen: „Was ist denn schlimm daran, wenn meine App meine Daten kennt?“ Leider ist das der naive Glaube an „unschuldige“ Daten.

? Können Sie das erklären beziehungsweise haben Sie dafür ein Beispiel?

! Ein radikales Beispiel solcher „unschuldiger“ Daten passiert gerade in den USA: Dort werden Frauen gerade dazu angehalten, Menstruations-Apps zu löschen, weil diese potenzielle Schwangerschaften erfassen. Wenn eine Frau im Verdacht steht, schwanger gewesen zu sein, es aber plötzlich nicht mehr ist, kann sie nach dem Urteil des Supreme Court vom 24. Juni 2022 unter Mordverdacht gestellt werden, weil das oberste Gericht nach fast 50 Jahren eine bundesweite Regelung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gekippt hat.

? … eine ganz perfide Methode.

! Richtig. Ich will damit sagen, es gibt so etwas wie „unschuldige“ Daten nicht, und der Datenschutz ist ein Anliegen, das uns alle betrifft – aber das zu vermitteln, ist natürlich eine enorme Aufgabe.

? Kritische Datenschützer warnen schon lange, dass Menschen ihre Daten nicht nur vor Tech-Konzernen schützen müssen, sondern auch vor der Datensammelwurt des Staates. Sie werden mit dem Satz zitiert: „Daten sind vor Regierungen nie sicher!“ Wozu braucht der Staat Millionen von Daten, und mit welchem Personalaufwand müssen sie ausgewertet werden?

! Die Auswertung passiert heute automatisch, dafür gibt es Computer und entsprechende Programme. Gefährlich wird es, wenn man Großanalysen darüber laufen lässt und damit beginnt, künstliche Intelligenz einzusetzen, zum Beispiel um potenzielle Straftäter zu finden. Das hat den Nebeneffekt, dass viele unschuldige Menschen miterfasst werden. Die Daten unbescholtener Bürger sind dann im System, und es stellt sich die Frage: Was passiert mit den Daten, sollten wir vielleicht einmal eine Regierung bekommen, der wir grundsätzlich nicht mehr vertrauen? Was passiert, wenn die populistische Welle immer stärker wird und eine rechtsradikale Partei an die Macht kommt? Dann hätte der Staat mit anderen Machtverhältnissen die gleichen Daten, aber in den Händen von Politikern, die bestimmte Menschen hassen, kriminalisieren, politisch für „unzuverlässig“ halten oder wegen ihrer Migrationsgeschichte, Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung verfolgen. Aus diesem Grund kämpfe ich für ein Recht auf Anonymität im Internet, denn besonders in Ländern mit repressiven Regierungen ist Anonymität der einzige Weg, sich frei zu äußern.

? Der Staat argumentiert, dass er die vielen Daten, die er sammelt, für die Kriminalitätsbekämpfung braucht; und es wird in diesem Zusammenhang immer wieder die Vorratsdatenspeicherung bemüht. Ist das eine Scheindebatte?

! Es gibt eine Art Zombiedebatte um die Vorratsdatenspeicherung. Von den Parteien wird immer wieder versucht, die Vorratsdatenspeicherung durchzusetzen, obwohl sie eigentlich längst als illegal verurteilt wurde. Ich mache es mal am Beispiel Kinderpornografie fest. Das ist selbstverständlich ein sehr heikles Thema, und es ist absolut richtig, Bilder von Kindesmissbrauch einzudämmen. Dafür braucht man aber nicht die Vorratsdatenspeicherung. Ein Recherche-Team von Journalisten hat im vergangenen Jahr vorgeschlagen, dass sich die Strafverfolgungsbehörden an die Hoster solcher Bilder wenden sollen – also an die Betreiber der Server, auf denen solche Bilder gelagert werden. Man könnte sie dazu auffordern, diese Bilder zu entfernen, und bei den Recherchen hat man herausgefunden, dass die Hoster solchen Aufforderungen auch sehr gerne nachkommen würden. Damit wären die Bilder aus dem Netz und könnten nicht weiterverbreitet werden, was ein sehr guter Opferschutz wäre. Aber die Ermittlungsbehörden tun das nicht.

? Können Sie sich erklären, warum nicht?

! Die offizielle Argumentation ist, dass man versuchen möchte, die Täter zu überführen, und dafür braucht man die Beweissicherung. Dieser Argumentation kann ich nicht folgen, weil es möglich ist, ein Abbild der Server zu ziehen, also den Inhalt der Server einzufrieren. Es ist also möglich, den Inhalt zu sichern, der zum Zeitpunkt X auf dem Server lag, und dann könnten diese Bilder gelöscht werden, damit sie nicht weiterverbreitet werden. Denn nur der Austausch unter den Kriminellen findet im Darknet statt, die Bilder werden aber auf ganz normalen Servern gehostet. Dass das im Sinne der Opfer nicht gemacht und die Massenüberwachung weiter betrieben wird, finde ich zynisch.

? Bleiben wir bei der Datensammelwut privater Konzerne. Sie sagten im Interview mit dem Deutschlandradio: „Die kann man nicht trennen von denen der Geheimdienste.“ Wo sehen Sie da Schnittmengen? Spionieren die Geheimdienste die Tech-Konzerne aus, um an die Daten zu kommen, weil diese die größten Datenmengen haben?

! Natürlich. Es gibt zwei Wege, auf denen Geheimdienste an die Daten der Tech-Konzerne kommen. Der eine ist der verborgene Weg: Das heißt, die Geheimdienste spionieren die Tech-Konzerne aus. Es gibt aber auch einen ganz offiziellen Weg: Zum Beispiel kann Facebook gezwungen werden, Daten von Usern preiszugeben, und die tun das immer wieder. Über den zweiten Weg weiß Facebook Bescheid, über den ersten Weg nicht. Aber prinzipiell: Überall, wo große Datensammlungen existieren, sind diese attraktiv für verschiedene Akteure, und wer kann, wird auch versuchen, an die Daten zu kommen.

? Sind wir zu leichtfertig bei der Preisgabe unserer Daten, die wir zum Bei-spiel beim Online-Einkauf freiwillig über­mitteln?

! Man sollte nicht verteufeln, dass Menschen im Internet einkaufen, weil da eine Interaktion, also ein Austausch stattfindet. Ich gebe meine Daten, und ich bekomme ein Produkt. Das ist in Ordnung. Ich will auch nicht verteufeln, dass Menschen online etwas von sich preisgeben. Die Frage ist nur: Wie sehr sind Unternehmen motiviert, diese Daten miteinander zu verknüpfen und anderweitig auszuwerten? Wir sollten uns klarmachen, dass Portale und soziale Netzwerke nicht dafür erfunden wurden, demokratischen Austausch zu ermöglichen. Sie wurden gebaut, unsere Daten an Werbetreibende zu verkaufen, es ist deren Geschäftsmodell; und das hat wenig mit Datensammelwut oder Habgier zu tun, es ist schlicht und einfach Kapitalismus.

? Daten werden aber nicht nur gesammelt, um Märkte zu erschließen, sie werden auch politisch genutzt, um Meinungen und Stimmungen durch soziale Netzwerke zu beeinflussen. Birgt das Gefahren für Demokratien, und könnten damit autoritäre Strukturen gestützt werden?

! Absolut. Darin besteht eine der größten Gefahren für die Demokratie. Wir sind im Moment in der Lage, über soziale Netzwerke ziemlich genaue Profile von jedem einzelnen Bürger zu erstellen, und über personalisierte Werbung kann man auch mit jedem einzelnen Bürger individuell kommunizieren.

Wenn jemand wie Putin seinen Krieg kommuniziert oder wenn Trump beworben wird, dann kann man heute unterschiedliche Menschen mit genau den Argumenten bewerben, von denen man weiß, dass diese Argumente auf fruchtbaren Boden fallen. Das heißt, bei den einen ist Trump ein superkrasser Christ und christlich-radikal, bei den anderen zeigt er es einfach nur dem Establishment „da oben“. Solche Kampagnen wurden um die Trump-Wahl, um den Brexit und um den Ukraine-Krieg gefahren – alles unter sehr großer Beteiligung Russlands, dessen erklärtes Ziel ist, den Westen und die westlichen Demokratien zu destabilisieren. Natürlich wird das auch von den Republikanern in den USA genutzt, von repressiven Regimen in Brasilien und in der Türkei.

? … die Chinesen nicht zu vergessen.

! Im Grunde schon, aber China ist ein Extrathema, weil die Chinesen ihr eigenes Internet haben und trotzdem Einfluss auf unser Internet ausüben. China ist also auf andere Art brandgefährlich, weil die Datensammlungen ganz stark über Geräte funktionieren. China vertreibt zum Beispiel sehr billig Xiaomi-Geräte, die dann ihre Benutzer ausspionieren können – über die Hardware und im Smart Home. In diesem perfiden System braucht man gar nicht mehr zu entscheiden, ob man seine Daten rausgibt, sondern jeder wird gemessen.

Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel

Das gesamte Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe

D64 Zentrum für digitalen Fortschritt begreift die digitale Transformation als große Chance, das Miteinander unserer modernen Gesellschaft zu verbessern. Die soziale, ökologische, technologische und politische Entwicklung will der Verein konstruktiv, kritisch und kreativ mitgestalten. Ziel ist es, die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität durch eine progressive Digitalpolitik zu verwirklichen. Dafür wirkt der Verein mit Hilfe der breitgefächerten Expertise seiner Mitglieder als unabhängiger Verein, der in allen Themenbereichen der Digitalisierung vordenkt und Impulse gibt. Mit knapp 700 Personen ist D64 der mitgliederstärkste Verein für Digitalpolitik in Deutschland.

Pressekontakt:

D64 – Zentrum für Digitalen FortschrittUlrich Berger (Geschäftsführer)Telefon: +49 30 – 577 142 56E-Mail: presse@d-64.org

https://d-64.org/verein/charta

Ähnliche Beiträge