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80 Jahre Kriegsende
Vorratsdatenspeicherung?
80 Jahre Kriegsende

Vorratsdatenspeicherung? 

Da stelle mer uns janz dumm: Ist das so etwas wie der Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus oder die Telekommunikationsüberwachungsdurchführungsverordnung? Also etwas typisch Deutsches, das niemand versteht, weil zu lang und zu kompliziert? Man kann davon ausgehen, dass bei einer Umfrage unter beliebigen Passanten in einer beliebigen Stadt niemand wüsste, was sich exakt hinter diesem Begriff verbirgt und wie der aktuelle Stand der Dinge ist. Erlaubt oder verboten? Und von wem?

Von Burkhard Schröder

Zudem ist der sperrige Ausdruck extrem unsexy. Das Thema interessiert nur die üblichen Verdächtigen, Nerds, Digital Natives, „Netzpolitiker“, also diejenigen, von denen man schon vorher weiß, was sie sagen. Die Leute verschlüsseln auch ihre E-Mails nicht und posten jeden privaten Quatsch in den Sozialen Medien. Warum sich also aufregen?

Sollen die israelischen Geheimdienste etwa nicht die Verkehrsdaten der arabischen Terroristen auf Vorrat speichern, damit sie wissen, wer wann Attentate verübt und ob die Hamas wieder unschuldige Menschen abschlachten oder Geiseln nehmen will? Moment: Mossad und Schin Bet dürfen das, wir aber nicht?

„Digitaler Freiheitskämpfer“ Patrick Breyer

Hat nicht US-Präsident Donald Trump im Januar ein Dekret unterzeichnet, das vorsieht, Studenten und Staatenlose, die an antisemitischen Demonstrationen teilgenommen haben, auszuweisen? Wie soll das funktionieren, wenn man nicht auf Vorrat gespeichert hatte, was die Betreffenden getan haben und wo sie wann waren?

Wenn Sie sich jetzt aufregen, weil Sie gerade von netzpolitik.org kommen und etwas anderes zum Thema erwartet oder auf der Website des „digitalen Freiheitskämpfers“ Patrick Breyer viele schlagende Argumente gelesen haben, dass das Speichern von Daten für lange Zeit die Privatsphäre unbescholtener braver Bürger dem unbegrenzten Zugriff des Großen Bruders ausliefere, dann war das beabsichtigt. Wir glauben fast nichts und überprüfen alles.

 „Die Vorratsdatenspeicherung macht nachvollziehbar, wer mit wem per Telefon oder Handy in Verbindung gestanden oder das Internet genutzt hat.“ 

Wahr oder falsch? Richtig, weil das den feuchten Träumen der Überwachungsfans entspricht. Falsch, weil man es verhindern kann, wenn man nur will.

„Bei Handy-Telefonaten und SMS wird auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten.“

Richtig. Aber das ist ohnehin schon jetzt möglich. Strittig ist, wie lange das notwendig wäre, um Verbrechen aufzuklären: Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?

„In Verbindung mit anderen Daten wird auch die Internetnutzung nachvollziehbar.“

Nur bedingt richtig und gilt nur für Klein-Fritzchen, der einen Browser nicht von einer Dusche unterscheiden kann. Wer einen Instagram-, Facebook, X- oder Linked­In-Account hat, sollte nicht herumjammern. Ihr macht das freiwillig.

„Gesammelt werden Informationen über die gesamte Bevölkerung ‚auf Vorrat‘, unabhängig davon, ob der Verdacht ­einer Straftat besteht.“

Richtig. Aber das ist auch bei der Schufa so und den Krankenkassen. Es kommt darauf an, was man daraus macht.

 „Die allgemeine und anlasslose Daten­erfassung stellt einen beispiellosen Angriff auf unser Recht auf Privatsphäre dar und ist die tiefgreifendste Spielart der Massenüberwachung.“

Nein, das ist nicht neu. Beispiellos ohnehin nicht, nur war die Stasi technisch noch nicht auf heutigem Stand. Und China kann das sowieso. Eine „Massenüberwachung“ kann ich jedem als etwas Gutes verkaufen, der auf einem Weihnachtsmarkt mit einem Messer angegriffen wurde, obwohl sich keine dieser Attacken mit einer Vorratsdatenspeicherung hätte verhindern lassen, auch wenn das gern behauptet wird. Wenn die Behörden versagen, was offenbar mittlerweile die Regel ist, und nicht tun, was möglich ist, helfen auch keine Daten, die man auf Vorrat gespeichert hat.

„Sie erfasst hochsensible Informationen über unser tägliches Leben und schließt niemanden aus.“

Richtig. Auch die elektronische Gesundheitskarte bzw. Patientenakte machen das und funktionieren nicht so, wie man es gern hätte, sondern sind voller Risiken und Nebenwirkungen wie eine Schmerzpille. Faxe, Nokia-Telefone und Brieftauben sind nicht vollkommen, aber besser. Aber wollen wir das?

„Sie kann persönliche Beziehungen, Kommunikation mit Anwälten, Therapeuten, Eheberatern oder medizinischen Fachleuten wie Psychologen oder Ärzten offenlegen und verschafft Regierungen und Strafverfolgungsbehörden einen noch nie dagewesenen Zugang zu unserem Privatleben, der zu Missbrauch geradezu einlädt.“

Wie? Vertrauen wir unseren gewählten Politikern etwa nicht? Zitieren nicht unsere Qualitätsmedien ständig vertrauensvoll den Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz als seriöse Quelle für dieses und jenes? Warum sollte jemand Daten missbrauchen? Der Staat liebt uns doch alle!

„Die Vorratsdatenspeicherung hat eine schädliche Wirkung auf die demokratische Gesellschaft insgesamt.“

Wie ist das gemeint? Die Vorratsdatenspeicherung unterminiert den Kapitalismus oder untergräbt die sogenannte Sozialpartnerschaft, also dass Kapital und Arbeit Hand in Hand in eine gemeinsame glückliche Zukunft marschieren und solch eklige Dinge wie „Klassenkampf“ ganz und gar vergessen?

Anlasslose Speicherung mit europäischem Recht unvereinbar

Übrigens: 22 von 25 EU-Mitgliedstaaten haben eine Form der Vorratsdatenspeicherung gesetzlich verankert. In mindestens sechs dieser Länder werden diese Gesetze gerade rechtlich angefochten. Lediglich in Österreich, den Niederlanden und Slowenien gibt es zurzeit keine aktive Vorratsdatenspeicherung.

Die Speicherfristen variieren zwischen den Ländern erheblich. Beispielsweise speichern Bulgarien, Schweden und die Tschechische Republik Daten bis zu sechs Monate, während Dänemark, Frankreich, Griechenland und Polen Daten bis zu einem Jahr aufbewahren. In Spanien müssen Internet­anbieter Verkehrsdaten bis zu zwei Jahre speichern. In Italien sieht das Gesetz sogar eine Speicherfrist von bis zu sechs Jahren vor, insbesondere bei schweren Straftaten wie Terrorismus.

Gibt es in Italien und Spanien weniger Verbrechen? Nein. So einfach ist das. Wer behauptet, man müsse alles unbegrenzt speichern, muss auch fordern, die Todesstrafe wieder einzuführen, weil das abschrecke. Mit Logik hat das nichts zu tun, wie vieles in der Politik.

Und hierzulande? Im aktuellen Telekommunikationsgesetz (TKG) sind die entsprechenden Regelungen in den Paragraphen 176 bis 180 weiterhin verankert. Die Bundesnetzagentur hat jedoch bereits 2017 entschieden, die Umsetzung dieser Vorschriften auszusetzen, da mehrere Gerichtsverfahren anhängig waren. Im September 2022 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die anlasslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten im deutschen Recht nicht mit europäischem Recht vereinbar sei. Auf dieser Grundlage entschied auch das Bundesverwaltungsgericht, dass die bestehenden Regelungen nicht angewendet werden dürfen. Das ist aber alles viel zu kompliziert: Juristische Fakten halten berufslose und andere Politiker, für die Tor, Veracrypt und asymmetrische Kryptografie böhmische Dörfer sind, nicht davon ab, „die“ Vorratsdatenspeicherung trotzdem gebetsmühlenhaft zu fordern. Man weiß nicht genau, was man will, das aber mit aller Kraft.

Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt wollten die SPD und die Grünen die Vorratsdatenspeicherung einführen. Im Dezember 2024 sollte die Vorratsdatenspeicherung – inklusive der biometrischen „Internetfahndung“ – noch vor der Neuwahl in einem zweiten Sicherheitspaket beschlossen werden.

Im Januar 2025 rückte die Bundesregierung von ihrer Position, anlasslos IP-Adressen speichern zu lassen, dann wieder ab. Niemand weiß genau, wie es jetzt weitergeht.

Wenn der „Worst Case“ für die „netzpolitischen Freiheitskämpfer“ einträte, also sämtliche Daten aller Bürger bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in den Händen einer „vertrauenswürdigen“ Behörde sein sollten, dann wollte das der Wähler so, Datenleaks inbegriffen. Damit muss man dann leben. Kommt eine Vorratsdatenspeicherung im herkömmlichen Sinne nicht, wird das niemand merken. Und die Diskussion würde garantiert aufs Neue geführt.

*Alle Zitate von Patrick Breyer

Patrick Breyer: https://www.patrick-breyer.de/

Vorratsdatenspeicherung:https://de.wikipedia.org/wiki/Vorratsdatenspeicherung

datenschutz.org: https://www.datenschutz.org/vorratsdatenspeicherung/

Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit https://www.bfdi.bund.de/DE/Fachthemen/Inhalte/Telefon-Internet/Positionen/Vorratsdatenspeicherung.html

Bundesministerium des Inneren – FAQ Vorratsdatenspeicherung

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/faqs/DE/themen/sicherheit/vds/vds-faq-liste.html

Telekommunikationsgesetz § 176: Pflichten zur Speicherung von

Verkehrsdaten https://dejure.org/gesetze/TKG/176.html

Netzpolitik.org: Wo die Vorratsdatenspeicherung in Kraft ist und was die

EU plant https://netzpolitik.org/2019/vorratsdatenspeicherung-in-europa-wo-sie-in-kraft-ist-und-was-die-eu-plant/

Burkhard Schröder

Vom Autor erschien 2008 das Buch „Die Online-­Durchsuchung: Rechtliche Grundlagen, Technik, Medienecho“ (Telepolis) ­(zusammen mit Claudia Schröder).

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