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80 Jahre Kriegsende
Organisierte Verantwortungslosigkeit
(c) Unsplash
80 Jahre Kriegsende

Organisierte Verantwortungslosigkeit 

Von Heiko Hilker

„Ich möchte heute über meinen Kulturbegriff sprechen. Mein Kulturbegriff ist nämlich ein sehr unterkomplexer. Ich möchte, dass jeder Mensch in der Lage ist, Kultur zu konsumieren. Ich bin ein Kind zweier Buchhändler und ich bin großgeworden mit dem Verkaufen von Büchern, also dem Verkaufen von Kultur. Ich habe jetzt einen neuen Job. Ich habe eine neue Aufgabe in meinem Leben: das Näherbringen von Kultur. Am Sonntagabend in der ARD als neuer Moderator von ‚titel, thesen, temperamente‘. Diese Nachricht bereitet mir große Freude, weil ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen kann, als Menschen zu zeigen, was uns allen so zur Verfügung steht, mit dem wir uns beschäftigen können. Vielen Dank.“ So Thilo Mischke am 19. Dezember 2024 auf dem Instagram-Kanal von „titel, thesen, temperamente“ („ttt“).

Es ist davon auszugehen, dass dies sein Herangehen an die Moderation der Sendung ist, dass dieses Herangehen einer der Gründe war, weshalb er ausgewählt wurde. Insoweit kann man ihm für seine Offenheit danken. Der Post legte vor allem offen, was sich die Entscheider bei der ARD vom Moderator wünschen. Allerdings ist das etwas anderes, als es das bisherige Publikum erwartet.

Wenn man ein neues Publikum erreichen will, dann gibt es zwei Wege: Zum einen kann man ein bestehendes Format verändern. Allerdings ist fraglich, ob man so das neue Publikum erreicht. Zum anderen kann man ein neues Format entwickeln und dafür sorgen, dass es sein Publikum findet. Das wäre für Thilo Mischkes Kulturanspruch der bessere Weg gewesen, zumal „Das Erste“ mehr Kultur vertragen kann. Schließlich gibt es nur ein regelmäßiges Kulturangebot in der Woche, sonntags nach 23 Uhr.

Und es wäre auch die bessere Entscheidung für „ttt“ gewesen. Schließlich hätte „ttt“ sonst zwei sehr unterschiedliche Moderatoren mit unterschiedlichem Verständnis gehabt. (Siham El-Maimouni moderierte „ttt“ seit 2021 schon einmal im Monat.)

Erstens:
Fehlende (Krisen)Kommunikation

Als die Kritik hochkochte, nahm die Redaktion nach vier Tagen Stellung. „Eines vorweg: Wir hören euch. ‚ttt‘ versteht sich als Magazin und Social-Media-Marke, die sich konsequent mit Themen wie Sexismus und toxischer Männlichkeit auseinandersetzen. Ein Blick in unseren Feed zeigt das. […] Wir nehmen eure Kritik ernst. Deswegen gibt es bereits seit Tagen intensive Gespräche, um die Vorwürfe zu prüfen. Wir bitten euch an dieser Stelle um eines: Zeit. Wir wollen das Thema aufarbeiten und uns gründlich mit den geäußerten Sorgen auseinandersetzen. Wir sitzen das nicht aus.“ Allerdings schwieg man dann bis zum 4. Januar. Da erklärte die ARD: „Die Kulturchefinnen und Kulturchefs der an der ARD-Gemeinschaftsproduktion ‚ttt – titel thesen temperamente‘ beteiligten Landesrundfunkanstalten haben entschieden, von Journalist Thilo Mischke als Moderator abzusehen. Thilo Mischke ist ein anerkannter Journalist und mehrfach preisgekrönter Reporter. Doch die in den vergangenen Tagen entstandene heftige Diskussion um die Personalie Thilo Mischke überschattet die für uns zentralen und relevanten Themen, die wir mit der Sendung und Marke ‚ttt‘ transportieren und gemeinsam mit der Community diskutieren möchten so, dass dies nicht mehr möglich ist. Thilo Mischke und die ARD sind sich einig darin, dass es nun vor allem darum geht, einen weiteren Rufschaden von ‚ttt‘ und Thilo Mischke abzuwenden.“ Und Christine Strobl, ARD-Programmdirektorin, stellte fest: „Wir setzen auf einen respektvollen, menschlichen Umgang – das gilt auch bei aller Kritik. Daher haben wir in den vergangenen Tagen viele Gespräche geführt, auch mit Thilo Mischke, den wir schätzen. Diese setzen wir in den nächsten Tagen fort und werden gemeinsam mit Thilo Mischke die Thematik journalistisch aufarbeiten.“ Schuld waren also die Kritiker, war die öffentliche Debatte, nicht die ARD. Dabei hat sich die ARD der Debatte gar nicht gestellt.

Zweitens:
Unprofessionalität der Verantwortlichen

Es war klar, dass es an der Auswahl der Moderators Kritik geben wird. Buchtitel und Bücher sowie Äußerungen in Podcasts waren öffentlich. Darauf kann man sich vorbereiten.

Wenn man im Wissen um mögliche Kritik einen Protagonisten auswählt, dann muss man die Kritik auch aushalten. Dann ist man auf die öffentliche Auseinandersetzung so vorbereitet, dass man auch an ihm festhalten kann.

Dies war hier offensichtlich nicht der Fall. Ein Versprechen, Probleme zu klären und Kritik nicht nur auszusitzen, muss man auch halten. Mit ausweichenden Statements, die auf Kritik nicht substanziell reagieren, befördert man diese Kritik nur noch weiter.

Drittens:

Widersprüche zwischen Redaktionen und Entscheidern

„ttt“ wird im wöchentlichen Wechsel von sechs Redaktionen der ARD-Landesrundfunkanstalten verantwortet: BR, hr, MDR, NDR, WDR, rbb. Michael Hanfeld hat sich für die FAZ tiefer in die Entscheidungswege eingearbeitet. Es habe schon im Juni 2024 ein Casting mit fünf Kandidaten gegeben. Im Ergebnis habe ein anderer Kandidat die Mehrheit der beteiligten Kulturredaktionen hinter sich gehabt. Bei einer Zuschauerbefragung im Oktober habe Mischke in der Kategorie Jugendlichkeit vorne gelegen, jedoch nicht bei Seriosität oder kultureller Kompetenz. Es gab in den Redaktionen viele kritische Stimmen, doch die Kulturchefs setzten sich darüber hinweg. Über ihre Gründe kann man nur spekulieren, denn Offenheit nach außen gehört nicht zum Selbstverständnis der ARD. Wie viele Redakteure sich im vergangenen Jahr kritisch zu Mischke geäußert haben, mochte die ARD der Berliner Zeitung nicht mitteilen. Waren es nur vereinzelte Stimmen? Große Teile der Redaktionen? Vielleicht wollten die Kulturchefs vor allem junges Publikum und Reichweite „kaufen“ und hofften, dass der Moderator einen Teil seines Publikums mitbringt. Der BR erhoffte sich durch die Präsenz im Fernsehen möglicherweise eine Reichweitensteigerung für den mit Jule Lobo geplanten Podcast „ttt für die Ohren“. Dirk Knipphals fasst das für die taz so zusammen: ­„Offenbar aber müssen sich die Kulturredaktionen der ARD gegen ein im Grunde kulturfernes Management durchsetzen – und können das nicht.“ Offensichtlich ist es an der Zeit, die Verhältnisse umzukehren. Die Redaktionen brauchen mehr Macht. Ein Weg wäre, dass sich die Redaktionsleiter der Wahl durch die Redakteure stellen müssen, so wie es schon beim ORF Praxis ist.

Viertens:
Verantwortungsträger übernehmen keine Verantwortung

Die Frage, wer Thilo Mischke zu dem Casting einlud, wer es leitete und die Sieger auswählte, beantwortet Christine Strobl bisher nicht. Dabei hatte sie doch am 4. Januar eine „journalistische Aufarbeitung“ beschlossen. Diese Aufarbeitung blieb sie bis jetzt schuldig. Glaubt sie, dass auf einer Aufarbeitung weitere Kritik folgt oder gefordert wird, dass die Verantwortlichen Konsequenzen ziehen müssen?

Verantwortlich sind die Kulturverantwortlichen der Sender, die sich für die Entscheidung aussprachen. Verantwortlich sind die Kulturdirektoren der Sender, die über die Entscheidung informiert wurden. Verantwortlich ist die Kulturkoordinatorin der ARD, MDR-Programmdirektorin Jana Brandt. Und verantwortlich ist insbesondere Christine Strobl als Programmdirektorin. Sie alle sollten einmal offenlegen, welches Kulturverständnis sie haben. Dann könnte man sehen, ob sie damit noch zum Programmauftrag passen. Es muss endlich offengelegt werden, wer den kulturellen Anspruch des „Ersten“ senken will. Und es sollte bekannt werden, wer in der ARD dagegen ist, die Kulturangebote im „Ersten“ auszubauen.

Schließlich wurde Mitte 2023 der Medienstaatsvertrag novelliert. Dabei wurde unter anderem die Kultur aufgewertet. Der Gesetzgeber legte fest, dass die Vielfalt, zu der Kultur, Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung gehören, „über alle Tageszeiten hinweg in den (Fernseh-) Vollprogrammen wahrnehmbar sein“ muss. Zu Kultur gehören dabei „Bühnenstücke, Musik, Fernsehspiele, Fernsehfilme und Hörspiele, bildende Kunst, Architektur, Philosophie und Religion, Literatur und Kino“. Doch trotz der Veränderungen im Medienstaatsvertrag änderte sich am Programm nicht viel. ­Weiterhin startet „ttt“ sonntags erst nach 23 Uhr. Kulturelle Vielfalt wird weder am Vorabend noch in der Prime Time geboten.

Die Entscheider haben vor allem Verlierer produziert

Doch wenn man an den Sendplätzen nichts ändert, auch keine neuen Sendungen entwickelt und anbietet, kann man zumindest mit neuen Moderatoren Veränderung suggerieren und auf eine Verjüngung hoffen. Die Programmdirektorin Christine Strobl, die Kulturkoordinatorin Jana Brandt sowie die Kulturchefs der Sender müssen mit der Personalie Thilo Mischke bestimmte Ziele verfolgt haben. Bisher haben sie nicht dargelegt, ob und wie sie diese Ziele in Zukunft erreichen wollen.

Allerdings wurde durch die Debatte zumindest deutlich, dass es höhere Ansprüche an öffentlich-rechtliche Kulturberichterstattung gibt, als die Kulturchefs es sich vorstellen können.

Die Entscheider haben vor allem Verlierer produziert: Das Format, der Moderator, die „ttt“-Redaktionen, die ARD und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurden beschädigt. Die Kosten trägt der Beitragszahler. Schließlich gibt es schon einen unterzeichneten Vertrag. Für die Entscheider bleibt das ohne Konsequenzen. Die Verantwortung übernahm bisher niemand – zumindest ist in der Öffentlichkeit nichts davon bekannt. (Stand: 31. Januar 2025)

Fazit

Es war die einzige Entscheidung, die im Jahr 2024 im Kulturbereich für „Das Erste“ zu treffen war. Wenn man alles zusammennimmt, die öffentliche Kommunikation per Social Media und Presserklärungen, die komplexen Entscheidungswege und -gremien, die Auswahlkriterien und das Auswahlverfahren, wird deutlich, woran die ARD krankt: Es ist organisierte Verantwortungslosigkeit.

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