(c) Bernd Lammel
Der Mann mit dem Iro. Schon hat jeder, der halbwegs medienaffin ist, ein Bild vor sich und einen Namen parat: Sascha Lobo. Laut SPIEGEL.de ist der 47-Jährige „Autor und Strategieberater mit den Schwerpunkten Internet und Markenkommunikation“. Damit allein wird man ihm aber nicht gerecht. Sascha Lobo polarisiert nicht nur durch sein Aussehen, sondern auch durch eine starke Meinung. Als Redner, Kolumnist und Autor ist er daher ebenso gefragt und für NITRO ein idealer Gesprächspartner zum Thema „Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft“. Im Interview spricht er unter anderem darüber, dass sich ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft abspaltet und nicht einmal mehr einen Minimalkonsens akzeptiert und dass er für die gleichen Inhalte als Nazi und als linksextrem bezeichnet wird.
? Nicht erst seit der Corona-Pandemie scheinen die Polarisierung und Spaltung in der Gesellschaft immer gravierender zu werden. Zwischen Arm und Reich, Ost und West, Gebildet und Ungebildet, rechter und linker Weltanschauung und zwischen Klimaleugnern und Klimaaktivisten polarisieren die Standpunkte und Sichtweisen. Wo zeigt sich die Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft Ihrer Meinung nach im Moment am drastischsten?
! Meiner Ansicht nach muss man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass es nicht nur eine Polarisierung gibt, sondern unterschiedliche Polarisierungen. Ich sehe eine gute Polarisierung in der Gesellschaft, und ich sehe eine schlechte Polarisierung. Die gute bewirkt, dass wir, die wir in Deutschland in einer deliberativen Demokratie leben, ernsthaft und mit harten Bandagen über die Gesellschaft diskutieren, in der wir leben wollen. Wie soll sie verfasst sein? Was soll sie tun? Was soll sie nicht tun? Wo sind Grenzen? Wo sind Aktionspläne für die Probleme, die auf uns in großer Zahl zukommen? Wie können wir auf gegenwärtige Probleme reagieren? In diesem Fall hilft eine positive Polarisierung, nämlich das Aufeinander-Crashen – und ich sage das bewusst so drastisch – das Aufeinander-Crashen unterschiedlicher Meinungen und Haltungen. Das kann schmerzhaft sein, aber es ist am Ende überraschend oft produktiv.
Und dann gibt es die negative Polarisierung. Das ist das, was viele unter Spaltung verstehen. Die negative Polarisierung ist aber, schon aufgrund der Mehrheitsverhältnisse, eher eine Abspaltung als eine Spaltung. Der Kern der Problematik ist, dass sich ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft abspaltet, nicht einmal mehr einen Minimalkonsens akzeptiert und nicht mehr mitdiskutieren will. Es sind Menschen, die alle Grundsätze, alle Fundamente, alles in unserer Gesellschaft so tiefgreifend infrage stellen, dass sie sich außerhalb des Diskurses bewegen. Und da beginnt für mich die problematische Abspaltung, die negative Polarisierung.
? Soll also heißen: Gruppen, die positiv polarisieren, und die, die negativ polarisieren, müssten einen gemeinsamen Konsens finden?
! Nein, ich möchte das nochmal präzisieren. Positive Polarisierung heißt nicht, dass es sich um eine homogene Gruppe handelt, sondern um unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Haltungen, die sich aber auf einen Minimalkonsens einigen können.
? Der wäre?
! Wir leben in einer Demokratie, da braucht es einen Minimalkonsens. Debatten sind notwendig, um die Gesellschaft voranzubringen. Es gibt Werte wie Meinungsfreiheit, es gibt Werte wie eine bestimmte Form von zivilem, also nicht gewalttätigem Umgang miteinander, das wäre ein Minimalkonsens. Oder die Akzeptanz gesellschaftlicher Werte wie Freiheit zum Beispiel, das kennzeichnet die positive Polarisierung. Auf Basis dieses Minimalkonsenses wird die Debatte zwischen aberwitzig vielen Haltungen ausgetragen, die auch heftig aufeinander crashen können. Diejenigen, die außerhalb dieses Minimalkonsenses stehen, betreiben schlechte Polarisierung. Die streben zum Beispiel einen kompletten Umsturz des Staates an. Die akzeptieren die Demokratie nicht, behaupten, wir lebten gar nicht in einer Demokratie, sondern etwa in einer GmbH, wie das beispielsweise Reichsbürger und angrenzende Figuren behaupten. Oder sie sagen: Alles, was ihr da draußen seht, ist eine einzige große Lüge und Verschwörung. Da ist keine Debatte möglich. Es gibt also eine gute Polarisierung, die findet innerhalb des weitest denkbaren demokratischen Spektrums statt – und auch an den Rändern. Wer aber sogar einen Minimalkonsens ablehnt oder aufkündigt und sagt: Debatten sind schädlich, wir sind in keiner Demokratie, alle sind korrupt oder wir werden zum Beispiel von Echsenmenschen regiert, betreibt nicht die Spaltung der Gesellschaft, sondern die eigene Abspaltung von der Gesellschaft. Das ist zwar keine riesengroße Gruppe, aber sie wächst und ist deshalb ein größer werdendes Problem.
? Vor vier Jahren haben Sie das Buch „Realitätsschock“ veröffentlicht. Darin analysieren Sie, warum die Welt aus den Fugen geraten ist und was wir aus den dramatischen Veränderungen lernen können. Wie weit ist die Polarisierung seit 2019 bis heute fortgeschritten? Denn damals gab es weder Corona noch den Krieg in der Ukraine.
! Im Herbst 2019 habe ich das Buch veröffentlicht, und quasi wenige Minuten später, weltgeschichtlich gesehen, kam einer der größten Realitätsschocks des bisherigen 21. Jahrhunderts über uns – die Corona-Pandemie. Realitätsschock deshalb, weil Fachleute schon früh gewarnt haben, und zwar schon seit Jahrzehnten: Irgendwann kommt eine Pandemie, die uns im Mark erschüttert. Es gab als eine Art Vorgeschmack Ebola, die Vogelgrippe, die Schweinegrippe und einige andere Ereignisse, die aber vergleichsweise klein blieben. Und 2020 kam Corona. Anhand dieser Pandemie haben wir gemerkt, dass ein Teil der Gesellschaft – wir sprechen bei vielleicht fünf Prozent eindeutig von einer Minderheit – dass dieser Teil der Gesellschaft bereit ist, die Abspaltung zu betreiben. Also nicht Polarisierung im positiven Sinne, sondern Abspaltung von der Realität der Gesellschaft. Diese Menschen glauben, alle stecken unter einer Decke, die Regierung, die Pharmakonzerne und die Finanzwirtschaft. Auch wenn diese vermuteten fünf Prozent natürlich keine Mehrheit sind, hat mich die Größenordnung überrascht. Mich hat die Lautstärke überrascht und die Organisationstruktur. Mich hat überrascht, wie groß die Bereitschaft ist, in absolut irrationale Sphären abzubiegen in dem Moment, wo man einmal die negative Polarisierung für sich entdeckt hat. Da spielt es plötzlich keine Rolle mehr, ob es die Pandemie betrifft, die Finanzwirtschaft, die Pharmawirtschaft oder die Politik insgesamt, das Parteiensystem oder den russischen Überfall auf die Ukraine. Da gehen Menschen mit allen noch so absurden Argumenten mit, wenn diese sie bloß in ihrer Meinung bestätigen: Die ganze Welt ist Betrug, ist eine Lüge. Diese Form der Abspaltung von der Realität, die Intensität der entflammten Empörung, die Bereitschaft zum leichtfüßigen Wechsel zwischen den Sphären hat mich überrascht, und ich halte sie für gefährlich.
? Im vergangenen Jahr kam zur Corona-Problematik der Überfall Russlands auf die Ukraine hinzu, also ein Krieg in Europa. Das hat zu einer weiteren Abspaltung von Menschen geführt, die Russland unterstützen. Da scheinen Verschwörungstheoretiker und Putin-Unterstützer miteinander verschmolzen zu sein. Wie gefährlich wird das?
! Diese Verschmelzung ist aus meiner Sicht kein Zufall, sondern die Folge ausgefeilter russischer Propaganda in den sozialen Medien, die ich seit 2014 intensiv beobachte. Mit sozialen Medien meine ich nicht nur die klassischen sozialen Medien wie Twitter oder Facebook, Instagram und TikTok, sondern auch Messenger wie Telegram und WhatsApp, und auch die Kommentarspalten der großen Medien gehören für mich zum Komplex der sozialen Medien dazu. Überall dort ist nachweislich die russische Propaganda über Jahre aktiv geworden. Insbesondere nach dem Überfall Russlands auf die Krim, und zwar in einer Größenordnung, die tatsächlich eine enorme Wirkung hatte. Es gab in Deutschland schon lange, speziell im Osten, aber auch in Teilen des Westens, eine besondere Fixierung auf Russland. Die hängt natürlich einerseits mit der Geschichte zusammen und andererseits auch mit einem sehr verbreiteten Antiamerikanismus in einer ehemals bipolaren Welt. Wenn man die eine Seite aus einem ganz tiefen Bauchgefühl, aus welchen Gründen auch immer, ablehnt, geschieht es leichter, dass man sich zur anderen Seite hingezogen fühlt. Auch deshalb war das Russlandbild in Deutschland, sagen wir mal, ein komplexes und vielschichtiges. Und dann kommt die am Anfang plumpe, später immer besser werdende Social-Media-Propaganda von Putin hinzu. Diese Social-Media-Propaganda, dieses Playbook, dieses Regelwerk, nach dem gespielt wurde, hat sich über die Zeit immer weiter verfeinert. Übrigens auch mit ursprünglichen Ansätzen des KGB, dem Putin ja selbst angehört hat – bis zu dem Punkt, wo abseits politischer Überzeugungen jede Form von Verwirrung, Irritation und Aufruhr innerhalb der Bevölkerung eines Landes gewollt ist, weil sie ein demokratisches Land schwächt. Und das ist das erklärte Ziel dieser Propaganda: die Schwächung der liberalen Demokratie, der EU, der NATO. Das hat die russische Propaganda sehr geschickt gemacht durch Aufwiegeln, durch Desinformation, mit Fake News und mit der Unterstützung extremistischer Kräfte. Das konnte man ganz explizit beobachten: Viele Querdenken-Gruppen, viele Anti-Corona-Gruppen auf Telegram sind quasi mit dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine ansatzlos umgeschwenkt auf russische Propaganda. Gestern noch Querdenker, heute schon Putin-Hupe.
? Social Media hat es also möglich gemacht, dass sich Gruppen vernetzen und immer größer werden?
! Soziale Medien haben eine neue Form von Propaganda ermöglicht, die auch gemeinsam mit klassischen Medien funktioniert. Wir haben ja inzwischen zum Beispiel ein Verbot von RT, früher Russia Today, einem Propagandasender des Kreml. RT hat sehr genau verstanden, wie soziale Medien funktionieren, und dafür maßgeschneiderte Inhalte hergestellt, wo gezielt Propaganda mit Fake News vermengt wurde. Natürlich hat Social Media positive und negative Folgen, aber ich glaube, dass die positiven Folgen überwiegen, auch wenn die negativen Folgen wie Social Propaganda besonders greifbar sind.
? Gibt es Strategien, wie man gegensteuern kann?
! Es gibt Strategien gegen Social-Media-Propaganda, sogar auch von Privatpersonen, aber es ist eine schwierige Aufgabe. Russische Propaganda setzt darauf, dass es sehr, sehr viele Freiwillige gibt – nicht nur die bekannten Trollfabriken von Sankt Petersburg bis Moskau, die aktiver Teil der russischen Kriegsführung sind. Schon Lenin soll solche Leute passenderweise als „nützliche Idioten“ bezeichnet haben. Menschen, die russische Propaganda weiterverbreiten aus Überzeugung, ohne davon etwa einen wirtschaftlichen Vorteil zu haben. Davon gibt es leider auch Deutschland recht viele, aus einem ganzen Spektrum von Gründen. Einerseits Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation, andererseits Antiamerikanismus oder auch antidemokratische, reaktionäre Haltungen, die von der russischen Propaganda intensiv gestützt und weiter verstärkt werden.
Bettina Schellong-Lammel
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