Seit 37 Jahren dokumentiert „Reporter ohne Grenzen“ Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit weltweit und informiert die Öffentlichkeit, wenn Journalisten bedroht, misshandelt oder ermordet werden. „Reporter ohne Grenzen“ setzt sich für mehr Sicherheit und besseren Schutz von Journalisten ein, kämpft gegen Zensur, gegen den Einsatz und Export von Überwachungstechnik sowie gegen restriktive Mediengesetze. Seit zehn Jahren ist Christian Mihr Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“ in Deutschland. Im Interview mit NITRO spricht der Osteuropaexperte unter anderem über seine Arbeit für die Organisation, die Situation der russischen Medien und wie „Reporter ohne Grenzen“ ganz praktische Hilfe leistet.
? Christian Mihr, Sie sind Journalist, Menschenrechtsaktivist, Experte für internationale Medienpolitik, Osteuropaexperte mit besonderem Augenmerk auf Russland und Belarus, und Sie sind Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“. Welche Bezeichnung bevorzugen Sie?
! Ich bin in erster Linie Aktivist für die Pressefreiheit, aber meine Tätigkeit ist und war immer vielfältig. Ich habe früher als Journalist gearbeitet, tue das aber heute nicht mehr, sondern befasse mich mit Medienpolitik, und natürlich setze ich mich für die Menschenrechte ein – überall auf der Welt.
? Sie haben sich lange mit Osteuropa beschäftigt und Sie haben in Russland gelebt …
! Richtig. Ich habe eine Weile in Russland gelebt und in Rostow am Don in der Journalismus-Weiterbildung gearbeitet. Deshalb habe ich mit der Region eine gewisse emotionale Verbindung. Was seit Jahren mit den Medien in Russland passiert und dass Russland seit dem 24. Februar in der Ukraine Krieg führt, hat mich sehr betroffen gemacht. Ich habe aber auch zu anderen Ländern eine enge Verbindung. Ich studierte in Chile, hatte Lateinamerikanistik als Studienfach und habe eine Weile in Ecuador gearbeitet.
? Seit zehn Jahren sind Sie Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“. Wenn Sie an die vergangenen zehn Jahre zurückdenken: Wie hat sich die Situation in Russland in Bezug auf die Menschenrechte und die Pressefreiheit verändert?
! In den letzten zehn Jahren war in Russland deutlich eine kontinuierliche Verschlechterung der Pressefreiheit zu erkennen. In der Zeit waren zwar weniger Morde an Journalisten zu beklagen, als das noch in den 2000er-Jahren der Fall war, als sehr viele Journalistinnen und Journalisten in Russland ermordet wurden. In Russland hat es aber eine unglaubliche Verschärfung an Repressionsgesetzen und eine wachsende Zensur gegeben. Die Situation, die wir jetzt in Russland erleben, ist also nicht erst in den vergangenen Wochen und Monaten so verschärft worden. Zugespitzt formuliert: Das „Repressionsbesteck“, das in den vergangenen Monaten und Wochen zur Anwendung kam, wurde in der letzten zehn Jahren schrittweise geschliffen. Jetzt gibt es Gesetze gegen „ausländische Agenten“, denen jeder Journalist und jeder Bürger zum Opfer fallen kann. Die Medienregulierungsbehörde Roskomnadsor hat westliche Social-Media-Unternehmen mittlerweile teils zu Terrororganisationen erklärt und lässt Inhalte von Plattformen löschen. Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, YouTube oder andere westliche Plattformen waren lange so etwas wie Freiheitsräume in Russland, die nicht direkt oder nur wenig zensiert, auf jeden Fall nicht komplett blockiert wurden. Für unabhängige russische Medien waren das enorm wichtige Verbreitungsplattformen.
? „Reporter ohne Grenzen“ hatte über Social-Media-Plattformen Kontakt zu russischen Journalistinnen und Journalisten?
! Wir haben mit vielen russischen Journalistinnen und Journalisten Kontakt und haben lange Zeit darum gekämpft, dass die Plattformen dem russischen Druck standhalten, Inhalte löschen zu müssen. Inzwischen ist Meta, das Unternehmen hinter Facebook und Instagram, zur Terrororganisation erklärt worden, sodass die Freiheitsräume immer geringer wurden. In den letzten Monaten sind viele unabhängige russische Medien, die mit gutem Journalismus und mit Satire dem Druck des Staates standgehalten haben, teils de facto verboten worden. Wir haben eine umfassende Medienblockade und Zensur erlebt, die in einem atemberaubenden Tempo geschah und die den Zusammenbruch einer unabhängigen Medienlandschaft zur Folge hatte.
? Nicht nur für Journalisten, sondern für alle Menschen in Russland ist die bloße Erwähnung des Wortes Krieg extrem gefährlich. Es drohen Geldstrafen oder sogar Lagerhaft. Wie ist es möglich, dass Journalisten in Russland noch arbeiten und unabhängig berichten?
! Unter Aufbietung von großem Mut und unter Nutzung technischer Kompetenz, wenn sie noch aus dem Land berichten wollen. Russland hat die Überwachung in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut, und Journalisten müssen sich überlegen, wie sie unter Nutzung technischer Möglichkeiten die Zensur umgehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass russische Medien immer öfter aus dem Exil arbeiten. In den vergangenen Wochen haben viele russische Medien das Land mit kompletten Redaktionen verlassen und wollen im Ausland, einige auch in Deutschland, neue Medienprojekte aufbauen und weiter berichten.
? Wie können sie weiterhin Informationen in Russland verbreiten?
! Auch über Telegram, das ist nicht gesperrt. Deshalb ist es wichtig, dass solche Angebote, die Zensur zu umgehen, bekannt gemacht werden. „Reporter ohne Grenzen“ hat aber auch die Aktion Collateral Freedom ins Leben gerufen, da spiegeln wir viele Webseiten, die blockiert sind, und stellen alternative Links her.
? Was heißt das praktisch?
! Wir heben nicht Sperren auf, die technisch von russischen Behörden gemacht werden, wir spiegeln gesperrte Webseiten komplett eins zu eins, legen sie auf einen Cloud-Server und erzeugen neue Links, die wir dann erneut zugänglich machen und verbreiten. Hierbei sind Social-Media-Plattformen wie Telegram besonders wichtig. Wir spiegeln im Moment z. B. das unabhängige Medium Meduza und andere unabhängige russische Medien, und wir spiegeln die Deutsche Welle auf Russisch. Das ist eine praktisch-technische Unterstützung.
Zweitens kann man Sperren umgehen, indem man die Anonymisierungssoftware Tor nutzt, um Spuren zu verwischen und sich anonym im Netz zu bewegen. Tor ist, ganz laienhaft erklärt, ein Zusammenschalten von vielen verschiedenen Rechnern und verschiedenen Serverkapazitäten, das es erlaubt, digitale Spuren zu verwischen. Dort betreiben wir, wie andere Organisationen auch, sogenannte Tor Bridges. Diese Tor Bridges erlauben es Nutzern in Russland, anonym das Internet zu nutzen und gesperrte Webseiten zu lesen. Aber das braucht natürlich ein Mitwirken von unabhängigen Medien, braucht die Werbung über nicht gesperrte Kanäle in Russland, um das Prinzip bekannt zu machen. Wir sind damit aber nicht nur in Russland aktiv, sondern in vielen anderen Ländern der Welt.
? In einem Land, in dem Menschen seit zehn Jahren oder seit Putin Präsident ist, täglich einer permanenten Staatspropaganda ausgesetzt sind, ist es schwierig, Menschen ohne Telegram und Tor unabhängig zu informieren. Aber selbst auf Telegram soll es ja Desinformation geben.
! Richtig. Hier darf man sich nichts vormachen. In Russland ist Fernsehen immer noch das wichtigste Medium und die Propaganda des russischen Staatsfernsehens ist gewaltig. Und natürlich gibt es auch auf den Social-Media- und Messenger-Kanälen wie Telegram massive russische Desinformation. Unabhängige Medien erreichen darüber zwar keine riesige Öffentlichkeit, aber es ist trotzdem wichtig, dass sie Menschen ansprechen, die an unabhängigen Informationen Interesse haben, und es ist wichtig, dass wir weiter in eine unabhängige Informationsverbreitung investieren.
? Per Telegram und via Tor informiert sich aber eher die jüngere Generation. Ältere Menschen, die nicht internetaffin sind, oder Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, sind der russischen Propaganda aus dem Staatsfernsehen ausgeliefert. Die erreicht man mit unabhängigen Informationen gar nicht mehr.
! Es ist natürlich auch eine Generationenfrage, aber ich weiß von Freunden in Russland, dass sich auch ältere Menschen inzwischen mit VPN-Technik beschäftigen. Die Bereitschaft, VPN oder die Anonymisierungssoftware Tor nutzen zu wollen, ist in Russland in den vergangenen Monaten massiv gewachsen. Wir wissen, dass die Tor-Nutzung deutlich angestiegen ist, 50 Prozent der weltweiten Tor-Nutzung der vergangenen Monate kam aus Russland. Es gibt massive Downloadraten von VPNs, die leider nicht alle sicher sind. Deshalb bemühen wir uns, die Menschen über sichere VPNs aufzuklären.
? Nicht nur die russische Propagandamaschine läuft auf Hochtouren, auch die Hetzjagd auf unabhängige Journalisten wird immer massiver. Der kremlkritische Chefredakteur der inzwischen eingestellten Moskauer Zeitung Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, wurde in einem Zug mit roter Farbe überschüttet. Haben Sie Erkenntnisse, wer dafür verantwortlich ist?
! Es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine staatlich angeordnete Aktion war oder es zumindest staatsnahe Kreise waren. Natürlich sind die russische Desinformation und Propaganda in Russland ganz massiv, und in einem solchen Umfeld kann eine Menge passieren. Journalisten müssen mit vielem rechnen.
? Im Nachbarland Ukraine gibt es einen Krieg, massive Zerstörungen, tote Zivilisten und auch tote russische Soldaten. Können Sie sich erklären, weshalb die Mehrheit der Russen das nicht glaubt und sogar behauptet, die Zerstörungen seien Propaganda aus dem Westen?
! Es ist schwer, der Desinformation auszuweichen in Russland – und nicht nur im russischen Fernsehen, sondern auch auf den verbleibenden Social-Media-Plattformen ist der russische Staat massiv präsent. Man muss schon intensiv nach unabhängigen Informationen suchen; und in unabhängiger Mediennutzung sind viele Russen wenig geübt.
? „Reporter ohne Grenzen“ ist auch sehr aktiv bei der Bekämpfung von Überwachungssystemen. Was tun Sie konkret?
Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel
Lesen Sie das ganze Interview im aktuellen Heft. Jetzt bestellen!
Bettina Schellong-Lammel
Ähnliche Beiträge
Neueste Beiträge
Drei Fotografen fotografieren ein Dorf
„70 Jahre Dorfleben in Bildern, 70 Jahre von drei Fotografen, ein Dorf“, so steht es im Klappentext. Es geht um Berka, ein Dorf in Thüringen, um den Müller Ludwig Schirmer, der als Amateurfotograf das Dorfleben in den 1950er- und 1960er-Jahren in Schwarz-Weiß-Fotos eingefangen hat und…
Der Osten bleibt anders
35 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben wir hitzige Diskussionen über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte, schreibt der Soziologe Professor Steffen Mau in seinem neuesten Buch „Ungleich vereint“, das im Juni 2024…