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UTOPIE Verkehrswende
Die Zukunft liegt im Osten
Foto: © bundesfoto/Bernd Lammel
Interviews

Die Zukunft liegt im Osten 

Mehr Flächen, modernere Infrastruktur: Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), sieht die östlichen Bundesländer im Vergleich zum Westen klar im Vorteil. Gelingen müsse jedoch der demografische Wandel, bei dem er Deutschland mit dem „Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020“ auf einem guten Weg sieht. Ganz im Gegensatz zur Forderung nach der Vier-Tage-Woche, die er für nicht umsetzbar hält. Im Gegenteil, er wünscht sich eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit. Im Interview mit NITRO spricht der Ökonom darüber, welche Rolle Künstliche Intelligenz künftig in der Arbeit spielen wird, welche Lösungen es beim Fachkräftemangel braucht und ob die Schlagzeile des Magazins The Economist stimmt, dass Deutschland „der kranke Mann Europas“ ist.

? Die Inflation macht der Wirtschaft nicht erst seit dem Beginn des Ukrainekrieges schwer zu schaffen. Die Unternehmen klagen seit Jahren über einen Fachkräftemangel, der sich – so die Prognosen – in den nächsten Jahren noch verstärken wird. Wie konnte es zu dieser dramatischen Entwicklung kommen?

! Die Situation hat sich einerseits durch die Corona-Pandemie stark verändert, und das betrifft nicht nur Deutschland. Das Zweite: Die Zuwanderung ist eine Variable, aber diese ist schwer planbar. Wir schauen auf Jahre zurück, wo wir sehr viel Zuwanderung hatten, aber es gab davor Jahre mit relativ wenig Zuwanderung. Es ist also schwankend und hat etwas mit der weltpolitischen Lage zu tun. Vor allem muss man sehen, wie man Menschen, die zuwandern, in den Arbeitsmarkt integrieren kann. Fluchtmigration ist hier zunächst nicht relevant, sondern die Frage, wie man diese Menschen geordnet in die Systeme bekommt. Unser Zuwanderungsrecht ist erst in den letzten 20 Jahren modernisiert worden. Jetzt ist es im internationalen Vergleich sehr modern, aber so etwas wirkt nicht schnell. Bleibt noch die Mobilisierung der Potenziale im Land. Da ist seit 20 Jahren viel geschehen. Um das Jahr 2000 lag die Erwerbsbeteiligung der 20- bis 64-Jährigen unter 70 Prozent – jetzt sind wir bei knapp 80 Prozent angekommen. Das ist eine gute Entwicklung, viel mehr Menschen sind in Arbeit. Aber damit ist das Potenzial an Menschen langsam ausgeschöpft. Wir haben in den vergangenen Jahren, in denen sich der Fachkräftemangel schon gezeigt und manifestiert hat und für die Unternehmen ein Problem war, trotzdem Expansion. Das Beschäftigungsvolumen insgesamt ist erhöht worden, weil mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten bei einer insgesamt dynamischen Volkswirtschaft und verbesserten Rahmenbedingungen. Damit sind wir jetzt am Ende angekommen und müssen über andere Strategien nachdenken, so auch über die Jahresarbeitszeit.

? Haben die Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren, was die Förderung des Nachwuchses betrifft und die Ausbildung im Handwerk, zu wenig getan?

! Getan wurde eine ganze Menge. Die Unternehmen der Metall- und Elektroberufe, immerhin drei Viertel der Industrie, machen seit 1988 eine ganz gezielte Werbung für Ausbildungsberufe in der M&E-Branche. Sie tun das mit einem hohen Millionenaufwand, jenseits all der Aktivitäten, die es von den Einzelunternehmen für Ausbildungsberufe vor Ort gibt. Bei den Studierenden haben wir solche dramatischen Engpässe nicht. Wir haben sie bei den Ausbildungsberufen, weil das eine deutsche Spezialität ist – hochwirksam für den Arbeitsmarkt. Die Wirtschaft hat immer und sehr früh die duale Berufsausbildung zu ihrem Thema gemacht, zumal sie über Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gemeinsam für die Weiterentwicklung verantwortlich ist.

? Bleiben wir bei Fachkräften. Deutschland ist für Fachkräfte offensichtlich nicht attraktiv – einerseits wegen der langen Bearbeitungszeiten und der schleppenden Anerkennung der Ausbildung, andererseits wegen der Sprachbarrieren. Welche Impulse braucht die Wirtschaft und welche Voraussetzungen müsste die Politik schaffen, damit Deutschland für Fachkräfte attraktiver wird?

! Die Frage ist, welche Erwartungen haben wir, dass die Fachkräftezuwanderung das Problem löst? Es ist ein Instrument – aber nur eines. Sehr lange, bis zum Jahr 2020 gab es im deutschen Zuwanderungsrecht die Grundidee „Steuerung und Begrenzung“. Das ist mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz 2020 verändert worden, und dieses Gesetz wurde jetzt novelliert. Da geht es schon um attraktive Angebote. Und wir haben seit Mitte des letzten Jahrzehnts das zum Dachportal der Regierung gewordene Online-Angebot „Make it in Germany“. Dort wird Interessenten in sechs Schritten der Weg beschrieben, wie man nach Deutschland in den Arbeitsmarkt – und jetzt auch in die Ausbildung – einwandern kann.

Ich glaube, dass Deutschland hochattraktiv ist. Das Problem ist, dass viele Migranten unter falschen Voraussetzungen kommen. Sie versuchen, über das Asyl- und Fluchtthema Aufenthaltsrechte zu erhalten, aber das wird nicht gut funktionieren. Wer in Deutschland seine Perspektive sieht, müsste sich bei den deutschen Konsulaten melden, nach einem Aufenthaltstitel über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz suchen und Kompetenzen nachweisen – oder sich um eine Ausbildung bemühen.

Aber am Ende ist es natürlich auch so, dass in der nördlichen Hemisphäre der Welt überall die alten Quotienten steigen und die jungen sinken. Alle Länder werben um Fachkräfte, aber ich glaube, dass wir eine ganz gute Ausgangsposition haben. Mit der Einschränkung: Leider hat Deutschland nie eine richtige Antwort auf die Fluchtmigration gefunden. Das sehen wir gerade in den politischen Debatten, die wir jetzt haben – es hat alles etwas miteinander zu tun.

? Zu den fehlenden Fach- und Arbeitskräften kommt der schleppende Ausbau der digitalen Infrastruktur. Deutschland liegt bei der Digitalisierung auf Platz 13 in Europa. Welche Auswirkungen hat dieser 13. Platz auf die wirtschaftliche Entwicklung deutscher Unternehmen und deren Konkurrenzfähigkeit?

! Zunächst einmal können wir feststellen, dass die deutsche Industrie – und sie ist der Kern der deutschen Wirtschaft mit einem Anteil von gut 21 Prozent – und der Industriedienstleistungsverbund – mit knapp 30 Prozent am gesamten Bruttoinlandsprodukt – nach wie vor den Takt vorgeben und hochwettbewerbsfähig sind. Wir haben Unternehmen mit einer hohen Innovationskraft. Es scheitert also nicht an den technischen Möglichkeiten, die Dinge auf den Weg zu bringen.

? Woran scheitert es dann?

! Es ist die Regulatorik allgemein, es ist das Verwaltungshandeln, die Bürokratie, da liegen die Kosten. Und diese sind enorm. Wenn der Wettbewerbsvorteil deutscher Unternehmen schwindet, hat das vor allem etwas mit Kostenthemen zu tun, also mit hohen Arbeitskosten. Wir zahlen zunehmend Knappheitsprämien.

? Was bedeutet?

! Was bedeutet, die Bruttolöhne entwickeln sich stärker als die Tariflöhne. Zum anderen ist es so, dass die Energiekosten ein enormes Standortthema für die Wettbewerbsfähigkeit sind. Wenn wir aber die Geschäftsmodelle stabilisieren wollen, müssen wir an allen Themen arbeiten. Wir müssen, und das ist die Aufgabe der Regierung, für die Energiekosten eine verlässliche Perspektive schaffen und die Bürokratie abbauen. Der Bundeskanzler hat am 17. Oktober auf dem Arbeitgebertag noch einmal betont, dass das jetzt endlich gelingen soll. Ich bin gespannt.

Insgesamt müssen wir in Deutschland schneller werden. Das gilt auch für Unternehmen, die gerade in großen Konzernstrukturen nicht immer so schnell sind, wie sie es gerne von anderen hätten.

? In einer neuen Umfrage machen sich 82 Prozent der Unternehmen Sorgen um den Industriestandort Deutschland. Optimistisch klingt das nicht, und es hat sicherlich Auswirkungen auf die Zukunft der Arbeit.

! Gedämpft ist die Stimmung in den letzten anderthalb Jahren durch die Energiekrise infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine. Hier ist nochmal deutlich geworden, was eigentlich passiert auf dem Weg zu einer klimaneutralen Energie und zu einer insgesamt klimaneutralen Produktion. Das alles ist mit hohem Aufwand verbunden, und es muss viel investiert werden. Für die negative Standortbewertung sind die Energiekosten der große Trigger.

Beim Fachkräftethema ist beispielsweise interessant zu sehen, wie das Tesla-Werk in Brandenburg sich entwickelt hat. Da hat man sich anfangs gefragt: Wo sollen denn an dieser Stelle, in Grünheide, in the middle of nowhere, also am Rand des Berliner Rings und 70 Kilometer von Frankfurt (Oder) entfernt, wo sollen denn die benötigten 10 000 Arbeitskräfte herkommen? Die sind aber da, weil Tesla offenbar ein attraktiver Arbeitgeber ist und es mit den Fachkräften an dieser Stelle geklappt hat.

Verschiebungseffekte gibt es eher, weil kleinere Unternehmen oder mittelständische Handwerker Probleme haben, das Gehalt abzubilden, das ein neuer Investor anbietet. Wir sehen auch durchaus große Auslandsinvestitionen in Deutschland, die vielfach allerdings mit Subventionen unterlegt sind. Aber die größte Sorge, die wir im Augenblick haben, ist das Energiekostenprofil.

? Die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg ist ein gutes Beispiel für meine nächste Frage: Im September dieses Jahres sagten Sie in Rostock auf einer Tagung, dass die wirtschaftlichen Chancen im Osten Deutschlands liegen. Können Sie das näher erklären?

! Ein erkennbarer Vorteil von Industrieansiedlungen im Osten Deutschlands ist beispielsweise die Verfügbarkeit von Flächen, denn Unternehmen können nicht investieren, wenn es keine Flächen gibt. Nehmen wir Bayern, wo im Rahmen der Landtagswahl ein Volksentscheid stattfand, ob ein BMW-Werk gebaut werden soll. Tatsächlich lag die Zustimmung der Menschen bei über 60 Prozent. Wäre der Volksentscheid negativ beschieden worden, hätte das BMW-Werk nicht in Bayern gebaut werden können, denn es gibt keine vergleichbare Fläche, die unter den gegebenen Rechtsbedingungen die erforderliche Größe hatte.

Das ist in den östlichen Bundesländern ganz anders. Die Flächenverfügbarkeit liegt dort bei etwa 30 Prozent, in Bayern sind es vier Prozent. Die in den letzten 30 Jahren ertüchtigte Infrastruktur bringt weitere Vorteile. Wir sehen auch, dass die Forschungsnetzwerke, die Universitäten in den neuen Ländern ausgereift sind und damit Anknüpfungspunkte bieten. Wir haben außerdem 30 Prozent Fernwärmeanteil im Heizungsbereich. Auch das ist ein Vorteil, denn in den alten Bundesländern ist dieser Anteil deutlich niedriger. In den östlichen Bundesländern bekommen Familien außerdem die Kinderbetreuung mit einer höheren Verlässlichkeit, ebenfalls ein Riesenthema für einen Standort. Da sind die westlichen Länder noch weit zurück – aus historischen Gegebenheiten. Wenn man die Flächenverfügbarkeit nimmt und bedenkt, dass Standorte günstiger sind, und wenn man die Lebenshaltungskosten betrachtet, ist es nicht verwunderlich, dass wir mittlerweile in den meisten Orten in den neuen Ländern wieder Zuwanderung haben.

Die Dinge ändern sich, aber es ist noch ein langer Weg, denn noch hängt das demografische Schwert über den östlichen Bundesländern aufgrund des höheren Anteils der über 55-Jährigen in den relevanten technischen Qualifikationen. Aber wenn die Anpassungen gelingen, wird sich die Standortrelation weiter verschieben.

? Welche Rolle könnte Künstliche Intelligenz künftig in Unternehmen spielen, um das Fachkräfteproblem zu lösen?

! Eine erhebliche. Wir haben gerade für Google ein entsprechendes Gutachten erstellt und uns angeschaut, was sind Tätigkeiten, die durch KI im Sinne einer höheren Effizienz, also weniger Arbeitszeitbedarf, positiv beeinflusst werden können, was haben diese Tätigkeiten mit Berufen zu tun, und wie häufig kommt das in der Volkswirtschaft vor.

Da kommt man über die gesamtwirtschaftlichen Aggregationen zu einem ­Ergebnis von etwa 330 Milliarden Euro. Das heißt, wir würden 100 Stunden im Jahr einsparen aufgrund generativer KI-Anwendungen – und das macht die Vorgänge schneller, leichter und hat einen Produktivitätseffekt zur Folge. Das würde etwa den Stundenverlust bis zum Jahre 2030 durch die Alterung von etwa 100 Stunden pro Person pro Jahr ausgleichen.

Diesen Arbeitsvolumeneffekt könnte man also, wenn generative KI breit angewendet wird, kompensieren. Dann kommen wir wenigstens zu einem Leistungsniveau wie jetzt, aber in einer anderen Kombination: weniger Arbeitsstunden, aber höhere Produktivität pro Stunde. Das setzt allerdings voraus, dass die Unternehmen das in der Breite tun und dass Unternehmen und Belegschaften das akzeptieren. Die Befragungen, die wir durchgeführt haben, unterstützen das. Bleibt nur die Hoffnung, dass es nicht durch Kontroll- oder Berichtspflichten wieder teurer wird.

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