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UTOPIE Verkehrswende
Das Auto im Hirn
Interviews

Das Auto im Hirn 

Es werden weniger E-Autos aus deutscher Produktion verkauft. Panik! Wer ist schuld? Die Hersteller, sie verlangen zu viel! Die Chinesen, sie sind zu billig! Beides falsch. Privat-Pkw müssten eigentlich noch viel teurer sein, wenn man die von ihnen verursachten Kosten – wozu auch der Platz gehört, den sie einnehmen – noch draufschlagen würde. Das beträfe auch Fahrzeuge aus China, die übrigens gar nicht günstiger sind. Was tun? Sich etwa für den Ausbau des ÖPNV einsetzen, wenn der vor der Haustür nicht funktioniert. Einer, der das schon seit Jahrzehnten macht, ist Professor em. Hermann Knoflacher, ein österreichischer Verkehrswissenschaftler, der bereits einiges erreicht hat.

 Ein Fiat 600 von 1955 erreichte bei einem Gewicht von 577 Kilogramm eine Geschwindigkeit von 110 km/h. Ein Tempo, das man in der größten Autonation der Welt, den USA, auch im 21. Jahrhundert in der Regel als angemessen empfindet. Ein Kraftwagen von heute erreicht diese Geschwindigkeit selbstverständlich auch, sogar spielend, er wiegt dafür im Durchschnitt aber knapp 1,5 Tonnen. Komfort, Sicherheitsfeatures und Statusdenken ließen die Pkw in den vergangenen Jahren größer, schwerer und teurer werden.

Wir bewegen immer mehr Masse, um „schnell“ ans Ziel zu kommen. Wobei das mit dem Schnell so eine Sache ist: Auf 427 000 Stunden habe sich der Stau auf Autobahnen 2023 summiert, wie der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) herausfand. Ein Sechstel weniger als 2019.

Ein Grund zur Freude ist das allerdings nicht. Dass es sich staut, liegt nicht an den wenigen Schnellstraßen, das Autobahnnetz der Bundesrepublik Deutschland gehört zu dem am besten ausgebauten weltweit, sondern besonders daran, dass der Trend zum Auto – allen Unkenrufen zum Trotz – ungebrochen ist. Gern darf es auch ein bisschen mehr sein, ein zweites (27 Prozent) und gar drittes Auto (6,2 Prozent) leistet man sich mittlerweile gerne mal. Und diese Fahrzeuge müssen irgendwo hin. Wenn sie denn nicht fahren, oder im Stau stehen, parken sie – und das vorwiegend. 23 Stunden lümmelt ein Auto durchschnittlich am Tag und in der Nacht herum und nimmt Platz weg.

Professor Dr. Hermann Knoflacher über das Virus Auto

Ob im Parkhaus, der Tiefgarage, dem eigenen Stellplatz oder unter der Laterne, irgendwo muss das Auto ja stehen. Einer, der diese und andere verkehrstechnischen Erkenntnisse schon vor über 50 Jahren hatte, ist Professor em. Hermann Knoflacher. Der 1940 in Kärnten geborene Wissenschaftler lehrte am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien und zeichnet unter anderem mitverantwortlich für die Schaffung der ersten Fußgängerzone Wiens (1968). Weiterhin setzte er sich für die Beibehaltung der Wiener Straßenbahn und deren Ausbau ein. Dies nicht nur in der Länge, sondern auch in der Breite – der Gehweg „wuchs“ an die Tram heran und verschaffte den Fußgängern mehr Raum. Dabei half Knoflacher unter anderem das von ihm selbst 1975 erfundene „Gehzeug“, ein selbstgezimmerter Holzrahmen in den (damaligen) Dimensionen eines Autos, den er sich als Fußgänger mittels stabiler Hosenträger einfach umhängen konnte. Somit war es ihm möglich, äußerst anschaulich zu demonstrieren, wie viel Fläche ein einzelner Pkw-Fahrer in Anspruch nimmt. Wir haben mit Professor Dr. Hermann Knoflacher über das Virus Auto, die Erfindung des Gehzeugs und über Pkw im öffentlichen Parkraum gesprochen.

Das 1975 erfundene „Gehzeug“ ist ein Holzrahmen

? Herr Prof. Knoflacher, warum fällt es uns so schwer, vom Auto zu lassen?

! Ich habe das in meinem Buch „Virus Auto 4.0“ ausführlich dargestellt. Das Auto sitzt ganz tief, wie ein Virus, in unserem Stammhirn. Also dort, wo die Energie errechnet wird, wie man mit minimalem körpereigenem Aufwand Bedürfnisse befriedigt, richtet sich das Auto ein. Als Autofahrer benötigen Sie nur einen Bruchteil der Energie, die ein Fußgänger pro Zeiteinheit braucht, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen. Das Virus Auto sitzt tief, das heißt, es ändert sich auch das innere Wertesystem, es ändert sich die Wahrnehmung der Welt.

Ein Beispiel: Normalerweise müssten Sie die Welt, wie sie heute ist und wie Sie sie als Mensch wahrnehmen, als reinen Irrsinn begreifen. Da wird wertvoller öffentlicher Raum zubetoniert und asphaltiert, die Kinder sind gefährdet und so weiter. Das heißt, rational müsste hier der vordere Teil unseres Neokortex (Anm. d. Red.: Großhirnrinde) aktiv werden und uns sagen: „Um Gottes Willen, das darf man alles nicht machen!“ Aber das passiert nicht, weil das Auto viel tiefer im Hirn sitzt als die Kinderliebe. Das führt auch dazu – und das können Sie auch in der Statistik Deutschlands, Österreichs und der Schweiz nachprüfen – dass die Haushalte im Durchschnitt 50 Prozent mehr fürs Auto als für ihre Kinder ausgeben. Was meine nie widerlegte Hypothese bestätigt, dass diese Liebe bis ins Wertesystem hineingeht. Und wenn Sie das Auto im Kopf haben, dann denken Sie Auto, und dann reden Sie Auto. Dann machen Sie Gesetze fürs Auto und gegen die Menschen, ohne dass Ihnen das auffällt. Auch in der Sprache kommt das sehr gut zum Ausdruck. Wenn jemand sagt, er müsse seinen Auspuff erneuern, meint er selbstverständlich nicht sich selbst damit, sondern sein Auto. Gleiches gilt auch für die Frage „Wo stehst du?“. Daran erkennt man, dass wir die Welt nicht mehr wie ein Mensch sehen – und übrigens auch die Leute, die kein Auto haben, sehen die Welt so, wie das Auto es ihnen in ihrem Hirn vorschreibt.

? Eine erschreckende Erkenntnis. Aber um dieses Dilemma aufzuzeigen, haben Sie ja bereits vor fast 50 Jahren das sogenannte „Gehzeug“ erfunden …

! Das habe ich erfunden, damit man den Menschen, der den Platz einnimmt und sich dabei in aufrechter Position bewegt, erkennen kann. Es wird fast immer nur über den Stau geredet, aber wenn man sich das Parken ansieht, wird alles noch absurder. Andererseits ist es wieder lustig, wenn man weiß, was da los ist in den Köpfen der Menschen.

„Kurzpark“ als Titel einer Diplomarbeit

? Apropos lustig: Wäre das Gehzeug nicht auch ein perfektes Protesthilfsmittel für Klimaaktivisten?

! In der Tat. In Deutschland macht man das alles immer mit einem so furchtbaren Ernst. Ich denke, man sollte bei Ihnen mal etwas lustiger an die Sache herangehen. In anderen Ländern findet das aber durchaus statt. Weltweit sogar mittlerweile. Ich bekomme immer wieder Fotos zugeschickt aus dem Fernen Osten, aus Amerika, aus Frankreich und so weiter, wo engagierte Menschen ihre Demonstrationen mit dem Gehzeug fotografiert haben.

In Salzburg gibt es etwa den Verein Fairkehr, der das Gehzeug dazu verwendet, Verkehrsräume neu zu gestalten. Damit wird gezeigt, was alles möglich ist, wenn man Parkplätze umwandelt, etwa indem man sie begrünt oder dort Tische hinstellt und so weiter. Das funktioniert sogar in Kooperation mit den Geschäftsleuten – allerdings oft gegen den Willen der Politik. Aber es gibt auch Diplomarbeiten von Architekten, denen das Gehzeug als Anregung diente. So haben Studenten einen sogenannten Kurzpark kreiert, was auch der ­Titel der Diplomarbeit war. Dabei handelt es sich um eine Matte, die so groß ist wie die Fläche eines Autos. An diese Matte montierten sie eine Tasche, in die sie den Kurzparkzettel steckten. Dann machen sie dort alle möglichen Aktivitäten, die sie auch gefilmt haben. Das regt die Leute unheimlich zum Denken an, da bewegt sich dann etwas.

1993 wurden Stellplätze gebührenpflichtig

? Ihr Gehzeug ist also mittlerweile ein akzeptiertes Werkzeug geworden. Und doch fällt es den Menschen trotz bester Anbindungen auch in deutschen Großstädten offensichtlich schwer, vom Auto zu lassen. Überall sind am Straßenrand abgestellte Fahrzeuge zu sehen, die zum Teil wochenlang nicht bewegt werden. Ist das in ihrer einstigen Wirkungsstätte Wien auch so?

! In Wien ist das anders, da bläst den Autofahrern, was das Parken angeht, ein starker Gegenwind entgegen.

Angefangen im ersten Bezirk, hat man in Wien ab 1993 damit begonnen, alle Stellplätze im öffentlichen Raum gebührenpflichtig zu machen. Das ging man sehr geschickt an, denn als man damit im ersten Bezirk begonnen hatte, sind die Autofahrer zum Parken in die Nachbarbezirke ausgewichen. Also hat man alle zwei Jahre in den Nachbarbezirken nachziehen müssen, um dort den Parkdruck rauszunehmen. Das hat sich so weit fortgesetzt, dass seit dem vergangenen Jahr ganz Wien, aufs Auto bezogen, gebührenpflichtig ist1.

Diese Maßnahme hat dem öffentlichen Nahverkehr einen massiven Schub verpasst. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs im Jahr 2012 war dann so groß wie im Jahr 1993 der Anteil des Autoverkehrs. Darüber hinaus haben wir dem Autoverkehr Spuren weggenommen, damit die Straßenbahn nicht behindert wird.

Bedürfnis nach mehr Qualität im Straßenraum steigt

? Ziemlich clever. Wie viel Strecke ­ha­ben sie den Autofahrern genommen?

! Das waren etwa 200 Kilometer. Dazu ziehen wir den Gehsteig bis zur Straßenbahn vor, sodass die Fahrgäste bei den modernen Niederflurstraßenbahnen ebenerdig einsteigen können. Diese Maßnahmen, die zum Teil auf mehr als 50 Jahre alten Konzepten basieren, kommen auch der Ästhetik der Stadt zugute. Wenn Sie das machen, steigt das Bedürfnis nach mehr Qualität im Straßenraum.

Als die Maßnahmen begannen, hatten wir einen Mobilisierungsgrad (Anm. d. Red.: Pkw pro 1 000 Einwohner) von ungefähr 420, heute liegt dieser bei etwa 360 – bezogen auf die Bezirke, in denen die Maßnahmen schon wirken. In den Außenbezirken läuft es noch in die verkehrte Richtung. Hinzu kommt, dass die Bezirke am meisten Lebensraum für die Menschen dazugewonnen haben, indem sie dem Auto etwas wegnahmen.

So gibt es etwa Schanigärten (Anm. d. Red.: öffentliche Flächen vor Lokalen, auf denen Speisen und Getränke serviert werden) statt Parkplätze, es gibt Grünanpflanzungen, Erweiterungen der Fußgängerzonen und so weiter.

Dort nimmt übrigens auch die Einwohnerzahl zu. Junge Familien, die bisher immer ins Umland zogen, kommen nun zurück in die Stadt, weil nun ein Umfeld für die Kinder wiederentdeckt wurde, das es lange nicht mehr gab. So kann man eine Stadt revitalisieren.

? Eine schöne Welt. Nach München zum Beispiel zieht allein deswegen keiner, weil sich diese Großstadt niemand mehr leisten kann. Dafür darf ein Auto monatelang am Straßenrand parken, eine Werkbank oder ein Blumenbeet darf dort aber niemand platzieren.

! Der Effekt ist ja in Ihrem Fall, dem Beispiel Knappheit der Wohnungen und Zwischenlagerung im öffentlichen Raum, dass dieser ja wesentlich primärer ist im Vergleich zu einer Rostlaube, die da draußen steht. Das ist ein tertiärer Sektor, das Auto hat im öffentlichen Raum überhaupt nichts zu suchen. Das Auto hat auch als Pkw nichts in der Stadt zu suchen.

Der Boden in der Stadt ist viel zu wertvoll statt ihn für so einen Unsinn zu verwenden. Nochmals das Beispiel Wien: In den Bezirken 4 bis 9 sind zwischen 2002 und 2010 etwa 10 000 Menschen hinzugezogen, der Autobestand ist im gleichen Zeitraum um 3 600 Fahrzeuge zurückgegangen. Das ist logisch, denn der Mensch reagiert intelligent auf sein Umfeld.

Auf der anderen Seite hat es auch wirklich keinen Sinn, von jemandem zu verlangen, er solle aufs Auto verzichten, wie etwa in Deutschland, wenn alles wunderbar für das Auto hergerichtet ist.

Quelle:

1 Die sogenannte „Parkometerabgabe“ ­kostet für Bewohner Wiens 120 Euro im Jahr ­zuzüglich Verwaltungsgebühren. Wer von ­Außerhalb kommt, zahlt 2,50 Euro die Stunde (Stand: 2023).

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