Der Fotograf Efraim Habermann, der 1939 mit seiner Familie dem nationalsozialistischen Terror nur knapp entkam, eroberte sich Berlin in den Jahren nach seiner Rückkehr (1957) mit der Kamera zurück. Dabei war sein Blick auf die Stadt und ihre Menschen weder von Ressentiments noch von Sentimentalität geprägt. Ihn interessierte nicht das dokumentarische Abbild, sondern die ästhetische Komposition im Zusammenspiel von Stadt und Mensch. So entstanden Fotografien von großer formaler Strenge, Zurückhaltung und Stille. In seiner Arbeit gibt es keinen Zufall, alles ist arrangiert, zusammengehalten von einer durchdringenden Poesie. Zu seinem 80. Geburtstag zieht ein Grandseigneur der Berliner Fotografie mit diesem Buch die Bilanz seines Schaffens. NITRO besuchte ihn in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg und sprach mit ihm über seine Herzheimat, den Himmel über Berlin und die Rarität von Fotos.
Erste Arbeitsstelle als grafischer und technischer Zeichner
? Herr Habermann, Sie sind 1933 in Berlin geboren. 1939 wanderten Ihre Eltern mit Ihnen nach Palästina aus. 1957 kehrten Sie zurück nach Berlin. Warum?
! Das ist eine lange Geschichte, und ich spreche eigentlich nicht so gern über die Vergangenheit. Ich kam zurück, weil mein Vater schwer erkrankte. Er starb wenig später in Berlin, und ich wollte nur eine kurze Zeit bleiben und mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester wieder zurück nach Israel gehen. Ich war Israel sehr verbunden. Dort hatte ich meinen Militärdienst geleistet und in Ashkelon, in der Nähe des Gazastreifens, als technischer Zeichner gearbeitet. In Israel fühlte ich mich zu Hause. Als ich nach Berlin kam, empfand ich das als Rückschlag. Meine erste Arbeitsstelle als grafischer und technischer Zeichner fand ich in einem Hinterhof am Cottbusser Tor, ich musste ja Geld verdienen. Und dann entwickelte sich mein Aufenthalt in Berlin doch ganz positiv und ich bin, wie der Berliner sagt, hier hängen geblieben.
? Fühlten Sie sich in Berlin auch zu Hause?
! Ich bin zwar in Berlin geboren und kann mich auch noch an einige Begebenheiten meiner Kindheit erinnern. Aber ich war erst sechs Jahre alt, als wir Berlin 1939 über Triest verließen, um nach Palästina zu fliehen. Als ich 18 Jahre später hierher zurückkam, spürte ich keine große Verbundenheit mit dieser Stadt. Bis heute ist Israel, auch durch die geschichtlichen Ereignisse, meine Herzheimat gelieben, und ich glaube, das kann man mir nicht verdenken.
In Paris habe ich gearbeitet und war zwölf Mal in Venedig
? Und wie fühlen Sie sich heute an diesem Ort?
! Inzwischen lebe ich 56 Jahre in Berlin und das sehr gern. In Israel war ich zuletzt Mitte der 1980er-Jahre.
? Seitdem nie mehr?
! Wissen Sie, es ist im Leben so: Wenn man als junger Mann eine Geliebte oder einen Freund hat und sie nach Jahrzehnten wieder trifft, spürt man, dass sie sich verändert haben. Auch Israel verändert sich ständig und man trifft es nicht mehr so an, wie man es in Erinnerung hatte. Trotzdem war ich Mitte der 1980er-Jahre hin und her gerissen, ob ich nach Berlin zurückkehren sollte, denn ich spürte zu Israel immer noch eine starke Verbundenheit. Es ist schon eine Zerrissenheit da, aber die möchte ich auch nicht dramatisieren.
? Würden Sie heute gern noch einmal nach Israel reisen?
! Nein. Ich bin jetzt 80 Jahre alt und reise seit zehn Jahren nicht mehr. Ich habe viel von der Welt gesehen, bin durch ganz Amerika gereist, war oft in Holland, weil dort meine Schwester lebte. In Paris habe ich gearbeitet und war zwölf Mal in Venedig ‑ eine faszinierende Stadt, die mich als Fotograf sehr inspirierte. Inzwischen reise ich nur noch in meiner Fantasie. Meine Heimat ist heute da, wo ich zu Fuß hingehen gehen kann und dabei nicht müde werde. Und wenn ich Sehnsucht nach Heimat habe, blicke ich in den Himmel, denn der sieht überall gleich aus.
? Wann begannen Sie zu fotografieren?
! Mit 40 Jahren.
? Warum erst so spät?
! Ich hatte zwar immer eine Neigung für die Fotografie, aber erst mit 40 Jahren…
?… entdeckten Sie die Leidenschaft dafür?
! Leidenschaft ist nicht das richtige Wort. Die Fotografie hat mich gereizt und irgendwann spürte ich, dass ich mich in der Fotografie gut ausdrücken kann.
Für mein erstes Foto im TAGESSPIEGEL bekam ich 25 Mark
? Mit welcher Kamera arbeiteten Sie?
! Meine ersten Fotos machte ich mit einer Retina. Die borgte ich meiner Schwester für eine Reise nach Israel, wo die Kamera leider verloren ging. Dann kaufte ich mir eine Leica M5, später kam noch eine Leica Reflex dazu.
? Wer hat Ihre Bilder zuerst veröffentlicht?
! Ich lieferte zuerst an DIE WELT und den TAGESSPIEGEL. Für mein erstes Foto im TAGESSPIEGEL bekam ich 25 Mark. Später war es etwas mehr.
? Fotografieren Sie ausschließlich in schwarz-weiß?
! Ja, nur einmal habe ich für ein Berlin-Buch des Springer-Verlages in Farbe fotografiert.
? Haben Sie die Fotos allein entwickelt und vergrößert?
! Früher ja, heute nicht mehr.
Was Jerusalem für Gott ist, ist Venedig für die Menschheit
? Architektur hat Sie immer besonders interessiert.
! Klare Formen und Strukturen haben mich immer gereizt, und ich mag das Grafische in meinen Fotos besonders. Ich war nie ein Porträtfotograf, aber wenn ich Menschen vor einem bestimmten Hintergrund wie Landschaften oder Architektur sah, waren das auch Motive, die ich gern festhielt.
? Sie waren zwölf Mal in Venedig. Was hat Sie denn an dieser Stadt so fasziniert?
! Venedig ist eine der schönsten Städte der Welt und ihr Zerfall hat für mich die größte Spannung. Morbidität muss nicht immer depressiv sein, das ganze optische Umfeld wirkt dort sehr spannend und dramatisch. Ein kluger Mann sagte einmal: Was Jerusalem für Gott ist, ist Venedig für die Menschheit.
? Ihr Buch heißt „Berliner Stillleben“, aber es sind nicht nur Stillleben darin zu sehen.
! Das sehe ich anders. Ich habe auf diesem Buchtitel bestanden, denn die Fotos darin sind für mich Stillleben. Die Menschen darauf sind ja nicht in Bewegung, sondern ruhen in sich, wie zum Beispiel Bruno Ganz.
Ich hatte schon sehr früh einen eigenen Stil
? Sie haben Ihre Fotos in mehr als 20 Ausstellungen gezeigt, waren Sie den Berlinern schon früh als Fotokünstler bekannt?
! In den 1970er- und 1980er-Jahren war ich in bestimmten Kreisen sehr bekannt, aber nicht in allen, denn ich bin kein Modefotograf. Ich denke außerdem, die Rarität von Fotos hat mehr Kraft als die ständige Präsenz in der Öffentlichkeit. Meine Fotos muss man suchen, und wer das tut, kann viel entdecken. Ich war ja überhaupt der erste Fotograf, der Kunstfotos in Zeitungen veröffentlichte, und das fand große Beachtung.
? Die Zeitungsmacher waren froh, Berlin durch Ihre Fotos neu zu entdecken.
! Offenbar. Sehen Sie, bei jedem Maler, ob Picasso, Cézanne oder Liebermann, findet man eine bestimmte Handschrift, einen bestimmten Stil. Bei einem Fotografen eine eigene Handschrift zu finden, ist weitaus schwieriger und sehr selten. Ich hatte schon sehr früh einen eigenen Stil, und viele Journalisten wussten sofort, dass es ein Habermann ist, wenn Sie ein Foto von mir betrachteten. Diese Art der Bestätigung hat mich immer sehr gefreut.
? Wie finden Sie Ihre Motive?
! Ich gehe auf Fotosuche, wenn ich eine innere Inspiration spüre und Lust habe zu fotografieren. Wenn ich ein Motiv sehe, muss ich mit dem Objekt meist erst einmal warm werden und es auf mich wirken lassen. Dann entsteht ein Dialog zwischen mir und dem Motiv und wenn die Stimmung und das Licht richtig sind, mache ich das Foto. Es kann aber auch sein, dass ich über einem Motiv eine bestimmte Wolkenbildung sehe, die perfekt zur Architektur passt und eine gewisse Dramatik entsteht, dann fotografiere ich natürlich spontan.
Eltern sind auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet
? Gehen Sie immer allein auf Motivsuche?
! Ja. Auf Fotosafari durch Berlin gehe ich am liebsten allein.
? Gibt es in Berlin einen Ort, an dem Sie besonders gern sind?
! Fotografisch hat mich zuletzt der Potsdamer Platz und die Museumsinsel interessiert. Besonders gern war ich im Opernpalais Unter den Linden. Auch das Areal rund um den Bebelplatz mag ich, doch dort befindet sich im Moment leider eine Baustelle. Ansonsten bin ich am liebsten dort, wo ich mich wohlfühle.
? Haben Sie sich nach dem Mauerfall für Ost-Berlin interessiert?
! Nein, aber meine Eltern sind auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet, und deshalb bin ich dort schon vor dem Mauerfall oft gewesen. Ich konnte als Jude mit einem Passierschein jederzeit in den Osten fahren und meine Eltern auf dem Friedhof besuchen. Ich musste an der Grenze nur sagen, dass ich zum Jüdischen Friedhof wollte und sofort stand mir die Tür weit offen. Eigenartig allerdings war: In der DDR durfte man zwar Jude sein, aber man erwähnte sicherheitshalber nicht, dass man Israeli ist.
Ich kann mich bis heute nicht vollständig als Deutscher fühlen
? Sie leben in einem Land, das Ihnen und Ihrer Familie Schreckliches angetan hat. Wie schaffen Sie es, damit umzugehen, ohne zu hassen?
! Ich habe die Deutschen nie gehasst. Als Jugendlicher hörte ich in Palästina von den schrecklichen Gräueltaten der Deutschen, aber schon damals sagte ich, dass nicht alle Deutschen Verbrecher sein können. Was man ihnen vorwerfen kann: Als sie sahen, dass die Juden einen gelben Stern tragen mussten, hätten sie sich dagegen auflehnen können. Das ist nicht passiert, und sie haben auch bei Übergriffen auf Juden geschwiegen und dies anfangs als die Taten von wenigen Chaoten abgetan. Es überstieg später vielleicht auch die Vorstellungskraft der Menschen, dass die eigene Regierung Menschen vergast. Aber genau das ist passiert. Was den Juden angetan wurde, kann ich natürlich nicht vollständig vergessen, deshalb kann ich mich auch bis heute nicht vollständig als Deutscher fühlen, auch wenn ich hier geboren bin. Es fällt mir zum Beispiel immer noch schwer, das Brandenburger Tor zu fotografieren oder den Reichstag. Mit diesen Symbolen ist einfach zu viel Geschichte verbunden. Aber Hass? Nein.
? Sie sind in diesem Juni 80 Jahre alt geworden, und zu diesem Jubiläum sollte der Bildband „Stillleben“ erscheinen. Und dann brannte kurz vor Ihrem Geburtstag das Lager mit der gesamten Auflage der frisch gedruckten Bände. War das für Sie ein Schicksalsschlag?
! Nein. Ich musste in meinem Leben ganz andere Schicksale verkraften. So ein Brand ist natürlich bedauerlich, eine Misere oder Pech, wenn Sie wollen. Aber das Buch wurde erneut gedruckt und wird jetzt hoffentlich viele Käufer finden, die Berlin mal ganz anders sehen wollen.
Das Gespräch führten Bettina Schellong-Lammel und Heide-Ulrike Wendt
Bettina Schellong-Lammel
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