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UTOPIE Verkehrswende
Kolumne

Montanverträge für einen glühenden Europäer 

Heide-Ulrike Wendt über die Bedeutung der Montanverträge für einen glühenden Europäer.

Hätten Sie Lust, mal so richtig schön zu pöbeln, wissen bloß nicht, gegen wen? In diesem Fall könnte ich Ihnen an dieser Stelle tatsächlich helfen, denn deutsch gegen deutsch ist gerade im Angebot, und wir können uns mal wieder den gemeinen Ossi so richtig zur Brust nehmen. Es war längst überfällig.

Unser großes Vorbild beim sachgerechten Ossi-Pöbeln kann natürlich nur unser hochverehrter Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sein, der uns in naher Zukunft vor allem Bösen und damit vor Angela Merkel bewahren will.

Wir alle haben natürlich gehört, was er während einer Matinee vor den Kollegen des TAGESSPIEGEL über die momentane Kanzlerin zu Gehör brachte: Merkel fehle es an Leidenschaft für Europa, und diese mangelnde Leidenschaft hinge damit zusammen, dass Merkel in der DDR sozialisiert worden sei und ihr das Projekt Europa deshalb ferner stehe als einem in Westdeutschland aufgewachsenen Politiker. Wobei er das aber nicht missverstanden haben will „als Vorwurf, denn sie konnte sich ja nicht aussuchen, ob sie nach der Spaltung Deutschlands und Europas auf der östlichen oder westlichen Seite Europas aufgewachsen ist“.

Reise ins damalige Jugoslawien ohne Fluchtversuch

Aber: „Ich halte daran fest, die Tatsache, dass sie jedenfalls bis 1989/ 90 eine ganz andere persönliche und politische Sozialisation erlebt hat als diejenigen, die diese europäische Integration seit Anfang der 1950er-Jahre erlebt haben, beginnend mit den Montanverträgen, das spielt in meinen Augen schon eine Rolle.“

Also, was die Montanverträge betrifft, muss ich Herrn Steinbrück absolut recht geben, denn wir als östlich aufgewachsene Eltern haben unseren westlich aufwachsenden Kindern ‑ nach dem Fall der Mauer ‑ beinahe täglich eingebläut, dass sie die Montanverträge beim Wunsch, nun nicht mehr ein guter Jungpionier, sondern ein guter Europäer zu sein, nie aus dem Blick verlieren dürfen. Und, unter uns, falls Sie da Nachholbedarf haben s o l l t e n –unter

http://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Gemeinschaft_für_Kohle_und_Stahl, können Sie tief in der Geschichte der Montanverträge graben.

Sollten Sie aber den Wunsch haben, gleich mal gegen mich zu pöbeln, obwohl ich mir ja, wie Angela, eine von uns, nicht aussuchen konnte, ob ich nun hüben oder drüben aufwachsen möchte, wäre das absolut ungerecht, denn mir ist es vor 1989 wenigstens einmal fast gelungen, bis nach Italien vorzudringen. Das war 1981 im September, und die Umstände waren so widrig wie einst bei Hannibal. Das Schicksal fügte es, dass mir der Journalistenverband eine Reise ins damalige Jugoslawien ohne Fluchtversuch zutraute. Mein kleiner Sohn galt als Faustpfand für eine glückliche Wiederkehr. Nichts Unmenschliches war uns fremd.

Personalausweis mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz

Vom Fenster meines Hotels aus sah ich auf den Hafen von Split, von dessen Kai jede Nacht eine Fähre nach Pescara in Italien ablegte. Ich wollte damals nur eines: Einmal Italien sehen und dann sterben.

„Kein Problem, Madame“, sagte der Mann im Reisebüro, als ich ihn fragte, ob eine Überfahrt von Split ins Land, wo die Zitronen blühen, auch ohne Visum möglich sei.

„Du haben Deutschmark?“ fragte er. Hatte ich. Genau siebenundachtzig Piepen. Die reichten gerade so für einmal Pescara hin und zurück.

Der jugoslawische Grenzbeamte schaute allerdings einigermaßen überrascht auf meinen blauen Personalausweis mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz und fragte nach meinem Begehr. Nach Italien ohne Pass und Visum, das kam ihm spanisch vor. Er drehte und wendete das Ding, sah mir forschend in die Augen und fragte mich leise auf russisch: „Du bist aus der DDR. Willst du abhauen?“

Ich schwor, dass ich zurückkäme aus Pescara, zurück wollte zu meinem Sohn in der DDR, doch er glaubte mir nicht. Zögerte drei, vier Ewigkeiten, ehe er mir den Ausweis zurückgab und mich in Richtung Fähre passieren ließ. Ich sagte überglücklich „Auf Wiedersehen“, er „Adieu!“

Acht Stunden dauerte die Überfahrt, dann lag der Hafen von Pescara im Morgengrauen vor mir.

„Einmal Italien sehen und dann sterben“, schwor ich nun dem Carabiniere vor der Schranke ins Bella Italia, aber für ihn war ich mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz ein Gespenst des Kommunismus, im schlimmsten Fall ein Terrorist. Meine Tränen rührten ihn, doch sein Vorgesetzter in Rom ließ Recht vor Gnade ergehen. Ich musste zurück aufs Schiff und sah – so kurz vor dem Ziel – weit entfernt dem Treiben im Hafen zu. Bis zum Einbruch der Nacht brieten mir die Fährleute zweimal Tintenfisch. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass man so etwas essen kann.

Sechsunddreißig Stunden später kam ich zurück nach Split, und es begann die gleiche Prozedur von vorne. Jetzt wollten mich die jugoslawischen Grenzbeamten nicht mehr ins Land lassen, bis einer von ihnen die Idee hatte, mich über die Reiseleiterin im Hotel zu identifizieren. Nun heulte ich wieder, diesmal auf deutsch, englisch und russisch zugleich, denn die Reiseleiterin hätte mir meine unerlaubte Entfernung von der Truppe vielleicht, Erich Mielke hätte sie mir nie verziehen. Das begriffen die Männer in der fremden Uniform schließlich und ließen mich gehen.

Wenn der Herr Steinbrück das liest, muss er bestimmt weinen…

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