Pinar Selek – eine ungebrochene Frau. Eine Frau, die als Soziologin einen typischen Männerberuf wissenschaftlich analysiert und dokumentiert und das in vielen Gesprächen veranschaulicht – diese Frau soll für die Ergebnisse ihrer Studien verfolgt sein?
Von Günter Wallraff
Eigentlich ist das nur schwer vorstellbar. Wenn es aber bei diesem Beruf um das Töten geht, das staatlich gelehrte und gebilligte Töten, und wenn diese Frau, die studiert, wie Männer für diese Arbeit, Generation um Generation, verformt, verstört und gebrochen werden – dann mag schon einleuchtender sein, warum der durch solche Analysen entlarvte Staats- und Militärapparat zurückschlägt. Das bekommt Pinar Selek, die zurzeit als PEN-Stipendiatin in Deutschland lebt, in der Türkei seit zwölf Jahren zu spüren.
Absurdes Verfahren, in dem Pinar Selek für ein Bombenattentat angeklagt ist
Die Soziologin und Menschenrechtlerin, die überdies aus ihrer Parteinahme für die Rechte der immer noch unterdrückten kurdischen Bevölkerung in diesem Land keinen Hehl macht, wird seit 1998 mit einem Strafverfahren verfolgt, dessen Absurdität auf der einen Seite und dessen Gefährlichkeit auf der anderen zweifelsfrei ist. Absurd ist dieses Verfahren, weil Pinar Selek für ein Bombenattentat angeklagt ist, das gar keines war. Auf dem ägyptischen Basar in Istanbul starben im Juli 1998 sieben Menschen – eine Gasflasche war explodiert, erkennen die vom Gericht bestellten Gutachter im Nachhinein mehrheitlich. Dennoch wird Pinar Selek angeklagt. Ein Komplize habe sie der Mittäterschaft beschuldigt, behauptet die Staatsanwaltschaft. Dieser angebliche Komplize wurde schwer gefoltert, den ihm abverlangten Namen der Soziologin hatte er genannt, um weiterer Folter zu entgehen. Er kennt Pinar Selek überhaupt nicht. Das erklärt er selbst und ganz öffentlich.
Erzwingung eines dritten Verfahrens durch die Spitze der Justiz
Im Jahr 2000 wird der Mann vom Vorwurf der Bombenlegerei im ägyptischen Basar freigesprochen. Pinar Selek auch. Da ist sie bereits zwei Jahre in Haft, in der sie durch Folter gebrochen werden sollte. Doch die Staatsanwaltschaft legt Einspruch beim höchsten Gericht in Ankara ein und beharrt auf einer Verurteilung zu lebenslanger Haft. 2006 wird Pinar Selek zum zweiten Mal freigesprochen. Der absurde Einspruch dagegen wiederholt sich, die absurde Erzwingung eines dritten Verfahrens durch die Spitze der Justiz auch. Und ein drittes Mal wird Pinar Selek freigesprochen. Ich nahm am 9. Februar 2011 an dieser Verhandlung als Beobachter teil. Aber noch immer ist kein Ende in Sicht. Es kommt, was in einer absurden Inszenierung kommen muss: die Staatsanwaltschaft legt erneut Beschwerde in Ankara ein. Wenn das höchste Gericht in Ankara nun zum dritten Mal den Freispruch kassiert und eine vierte Verhandlung erzwingt, hat im hierarchischen türkischen Rechtssystem das verhandelnde Gericht in Istanbul kein „Recht“ mehr, zum vierten Mal auf Freispruch zu erkennen – es muss verurteilen.
Protest gegen die türkische Unrechtsjustiz
So werden in der Türkei an der Wahrheit und nicht am Rachegedanken orientierte Ausreißer in der Rechtssprechung wieder eingeholt und zur beweislosen Verurteilung gezwungen. Aber nicht nur deshalb ist das absurde Verfahren gegen Pinar Selek gefährlich. Gefährlich ist es zuallererst, weil es die mutige Autorin unter eine mittlerweile zwölf Jahre währende Bedrohung stellt, ihr Leben in türkischen Gefängnissen beenden zu müssen. Und mit ihr auch gleich alle vergleichbaren Autorinnen und Autoren, die ähnlich Kritisches sagen oder schreiben. Denn jeder dieser bedrohenden und kafkaesken Unrechtsprozesse hat exemplarischen Charakter und will alle anderen kritischen und ehrlichen Menschen zum Schweigen bringen.
In der Türkei und in ganz Europa verstärkt sich der Protest gegen die türkische Unrechtsjustiz, deren Opfer die nationalistischen Phrasen vom so „stolzen und einheitlichen Türkentum“ kritisieren. Militär und Justiz exekutieren diese Phrasen immer noch auf gewalttätige und blutige Weise. Bleibt zu hoffen, dass die europäischen Regierungen sich dem Protest endlich anschließen und nicht wie bisher diktatorischen Regimen aus strategischen Interessen den Rücken stärken.
Die Soziologin Pinar Selek gehört zu den mutigsten Vertreterinnen der feministischen Bewegung in der Türkei, die trotz schlimmster Repressalien Tabuthemen anpackt. Bekannt wurde sie durch ihre Recherchen und Texte zu diskriminierten Gruppen wie Transsexuellen, Straßenkindern und Sexarbeiterinnen. Zurzeit lebt sie in Berlin und schreibt als Stipendiatin des PEN International an ihrem ersten Roman. 2009 wurde Pinar Selk mit dem Duygu-Asena-Preis des türkischen PEN-Zentrums geehrt.
Ihr aktuelles Buch „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten“ erschien im März 2010 im Orlanda-Verlag auf Deutsch.Ihre zentrale Frage darin lautet: Wie wird man zum Mann? Hierzu braucht er fünf einschneidende Erlebnisse:
- Beschneidung
- Militärdienst
- Arbeit finden
- Heirat
- Vater (eines Sohnes) werden
In Interviews mit 58 Männern, die darin ihren Militärdienst, ihre Sozialisation und ihre Empfindungen während dieser Zeit schildern, beschreibt die Soziologin, wie junge Männer in der Türkei die Zeit ihrer Identitätsfindung erleben. Das Buch beleuchtet nicht nur die Erfahrungen in der Türkei, sondern fordert dazu auf, Mannsein auf universeller Ebene zu hinterfragen.
Bettina Schellong-Lammel
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