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UTOPIE Verkehrswende
Kolumne

Heide-Ulrike Wendt: Lieben Sie eher Tweets oder Tweeds? 

Neulich im ICE von Berlin nach Frankfurt saß neben mir ein Mann, der auf seinem Laptop einen Text über Klimapsychologie und Großkonzerne bearbeitete, sich gleichzeitig auf seinem iPod Harald Schmidts „kleinen Oettinger“ bei YouTube ansah und über einen Kopfhörer mit seiner Mutter die Speisenfolge anlässlich ihres 83. Geburtstages besprach. Da sie sich bei der Vorspeise nicht sicher waren, ob der Retro-Matjes-Cocktail oder Sashimi auf Fenchel bei den Gästen besser ankommt, folgten zu diesem Thema vier weitere Telefonate.

Die ganze Zeit saß ich wie auf Kohlen, denn eigentlich musste ich auch ganz dringend telefonieren, aber neben diesem Mann ging das nicht.

Ich besitze nämlich seit kurzem ein neues Handy – ein sogenanntes AMOLED-Touchscreen-Handy mit eigenem Browser, der, so steht es jedenfalls in der 89-seitigen kleingedruckten Bedienungsanleitung, unter anderem ein eingeschränktes Tab-Browsing bietet, so dass immerhin fünf Webseiten gleichzeitig geöffnet sein können. Fünfzig wären mir persönlich natürlich lieber.

Die URL-Leiste kann wahlweise zur Eingabe von Webadressen, zur Suche bei Google oder innerhalb von geöffneten Webseiten verwendet werden. Zudem bietet der Browser einen Popup-Blocker und unterstützt den Ein-Finger-Zoom des Gerätes. Damit das Mobiltelefon schnell reagiert, wurde ein Prozessor mit einer Taktrate von 800 MHz integriert.

Am Anfang fühlte ich mich durch dieses neue Handy wieder dazugehörig, in der Mitte der Gesellschaft, denn mein altes Handy besaß noch Tasten und war von der häufigen Benutzung auf der Rückseite leicht abgeschubbert.

Was ich beim Kauf des neuen allerdings nicht wusste, ist Folgendes: Wenn ich es aufklappe, um beispielsweise nach meiner Landung auf dem JFK Airport in New York kurz die aktuellen Börsenkurse zu checken, und mich hat in dieser Zeit wirklich NIEMAND versucht anzurufen, steht auf dem Display in fetter weißer Schrift: KEIN EREIGNIS.

Diese beiden Worte ploppen auch auf, wenn ich gerade angerufen wurde und nur drei Sekunden vergangen sind, seit ich aufgelegt habe, aber trotzdem: Sie hinterlassen bei mir jedes Mal, wenn ich sie lese, ein ungeheures Gefühl der Leere, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, nicht auf dem Laufenden zu sein.

Da kann mich auch Schirrmacher mit seinem Bestseller „Payback“ nicht trösten. In dem behauptet er, dass wir im Informationszeitalter nur gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wir deshalb die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen müssen.

Das hört sich weise, verständnisvoll, abgeklärt an, wenn da auf Seite 28 nicht diese Echo-Geschichte wäre: „2009 berichtet der Internet-Star Bob Cringely von Freunden, deren sechzehnjährige Tochter namens Echo in einem Monat 14 000 SMS entweder empfangen oder versendet hat…14000 SMSe (im Monat) geteilt durch 480 Stunden entsprechen 29 SMSe pro Stunde oder eine SMS alle zwei Minuten.“

Wie Schirrmacher sehr richtig bemerkt, klingt das ungeheuerlich, ausufernd, süchtig. Aber noch viel dramatischer ist der Satz, der folgt: „Wie ein Selbstversuch mit Stoppuhr zeigt, könnte ich mit Echo mithalten.“

Was für ein Angeber. Schirrmacher bekäme wahrscheinlich einen Herzinfarkt, wenn auf seinem Handy die Worte „Kein Ereignis“ auftauchten.

Gestern erreichten mich allein zwischen 8 Uhr 30 und 8 Uhr 49 zehn E-Mails, in denen mir bekannte oder wildfremde Menschen mitteilten, dass sie, gerade vom Eyjafjallajökull zurück, schon wieder weiter müssten nach Hódmezövásárhelykutasipuszta,  oder noch immer an einem Vortrag über Kierkegaards drei Arten, drei Zustände, drei Sphären, drei Stadien der Eistenz des Menschen brüteten, oder zuerst das Auto in die Werkstatt bringen und dann zu einem Podiumsgespräch über die Krise der Medien in die Akademie der Künste müssten ….und deshalb den Text leider nicht zum vereinbarten Termin liefern können.

Unter den E-Mails waren auch drei Einladungen:  für ein Mode-Event im Wedding, eine Premiere in der Bar jeder Vernunft, eine Lesung in der Kulturbrauerei. Das Mode-Event war am Samstag, den  22. Juli, die Premiere am Dienstag, den 7. Juni und die Lesung am Freitag, den 19. Juni vorgesehen. Wie sich drei Mails später herausstellte, sollten die drei Veranstaltungen dann aber doch am Montag, den 7. Juni, am Donnerstag, den 22. Juli und am Samstag, den 19. Juni stattfinden.

Vier Veranstalter, von denen ich nie zuvor gehört hatte, schickten mir eine Mail, in dem sie zum besseren Verständnis ihres Anliegens neben dem Anschreiben auf die angehängten Dateien verwiesen, die dann allerdings erst an der darauf folgenden Mail hingen, in der sich die Veranstalter entschuldigten, dass sie vergessen hatten, die Datei anzuhängen.

Heute früh war ich telefonisch mit einer Eventmanagerin verabredet, die mich mit hauchender Stimme bat: „Ich sitze gerade in einer Konferenz, können Sie mich in einer halben Stunde noch mal anrufen?“

Die Managerin einer Agentur bedauerte, das Telefonat beenden zu müssen, aber da wäre jemand auf der anderen Leitung, sie würde mich später zurückrufen, und vier weitere potenzielle Gesprächspartner waren „gerade auf dem Sprung“, als ich sie anrief.

Das Feuilleton  wird nicht müde, uns zu warnen: vor dem Kommunikationsterror, vor der Datenflut, vor Multitasking.

Frank Schirrmacher zählt alle Feinde auf, die ihn und uns auffressen: SMS, E-Mails, Feeds, Tweets, Nachrichtensites, Handyanrufe und News-Aggregatoren.

Was für ein Blödsinn. Die Leute würden tot umfallen, wenn sie Zeit hätten und nicht mehr sagen könnten, dass sie in ihren E-Mails oder zu viel Arbeit versinken.

In der 1. Auflage scheint Schirrmacher bei der Aufzählung übrigens ein Fehler unterlaufen zu sein, den ein durch und durch getwitterter Autor wie Andrian Kreye natürlich sofort entdeckt. Er schreibt in der Süddeutschen über Schirrmachers „Payback“: „ Ein einziger Buchstabe bringt das Buch schon im zweiten Satz zum Schlingern. Da zählt Schirrmacher auf, was ihn so plagt: SMS, E-Mails, Feeds, Tweeds…Mit dieser Verwechslung eines einzigen Buchstabens – weil sicherlich die Kurznachrichten von Twitter gemeint sind, die sich „Tweets“ buchstabieren, und nicht der Stoff, aus dem die Uniformjacken deutscher Studienräte geschneidert sind – verliert der Text den Respekt jener „Digital Natives“, die in dem Buch durchaus Material finden würden, um die Debatten hierzulande zu bereichern…“

Und da glaubt tatsächlich noch einer, wir wären zu retten?

(P.S. Laut Google heißt der Mann tatsächlich Andrian und nicht etwa Adrian mit Vornamen. Es hätte ja ein Druckfehler sein könne, wie etwa bei Tweeds oder Tweets.)

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