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UTOPIE Verkehrswende
Kolumne

Heide-Ulrike Wendt: Der Friedhof der Kuscheltiere 

Mein Gott, jetzt hat sie’s:  Heide-Ulrike Wendt hat NEIN gesagt!

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebten unsere tollen Söhne noch bei uns und wir hatten einen ziemlich guten Draht zu ihnen: Wir wussten genau, was zu tun ist, wenn der Nuckel weg war, die Nase lief, die Knie bluteten. Wir konnten ihnen sogar überzeugend verklickern, dass der Nikolaus seine Schokoladentaler nur in Schuhe steckt, die auf Hochglanz poliert sind.

Heute wüsste ich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr, ob wir sie mit geputzten Stiefeln so dermaßen unter Druck setzen dürften. Mein Patenkind jedenfalls, Lotta, von der ich Ihnen an dieser Stelle schon einmal erzählte – ganz viele lustige Locken und neugierige schwarzbraune Augen voller Schabernack – hat mir von einem Tag auf den anderen gekündigt. „Sie mag sich nicht mehr mit dir treffen“, sagt ihre Mutter am Telefon, „da kann man nichts machen.“ „Aber warum will sie sich nicht mehr mit mir treffen?“ frage ich.

„Weil du immer der Bestimmer sein willst. Erst bist du nicht Achterbahn mit ihr gefahren, und in den Weihnachtszirkus Roncalli mag sie auch nicht, denn da treten keine Tiere auf. “

Ich hätte die Katastrophe schon viel früher kommen sehen müssen, denn alles begann mit dem Adventskalender, den ich ihr schenken wollte – eine selbst genähte Patchworkdecke, in deren 24 Stoffherzen Lebkuchen, goldene Nüsse, Weihnachtsmänner aus Schokolade, bunte Smarties, Luftballons, bemalte Holztiere steckten.

Doch Lotta war gelangweilt. Sie stellte sich davor, zeigte der Reihe nach auf die gefüllten Stoffherzen und sagte bei jedem zweiten: „Das mag ich nicht, und das mag ich nicht, und das mag ich nicht … und das auch nicht.“

Unsere Söhne liebten den Flickenteppich voller Überraschungen und waren voller Neugierde, wenn wir ihn am Vorabend des 1. Dezember an die Tür ihres Kinderzimmers hängten. Als ich meinem Jüngsten davon erzähle, wie verdattert ich über Lottas Ablehnung bin, sagt er: „Wieso, das ist doch schön, wenn sie so voller Selbstbewusstsein ist und klar sagt, was sie mag und was nicht. Wie hast Du reagiert?“

„Ich habe den Adventskalender abgehängt.“ „Na klar“, sagt mein Sohn. „Autoritärer Führungsstil ist das einzige, was eurer Generation beim Thema Kindererziehung  einfällt.“ Ach nee, und in welches Raster fällt dann die Amerikanerin Amy Chua (53), Tochter chinesischer Einwanderer, die in ihrem Bestseller „Die Mutter des Erfolgs“ unter anderem bekennt, dass sie ihren Kindern droht, ihre Kuscheltiere zu verbrennen, wenn sie nicht gehorchen? Noch mehr provozierte sie allerdings mit der Geschichte vom „kleinen weißen Esel“. So heißt ein Klavierstück, das Chuas siebenjährige Tochter Lulu über mehrere Stunden und ohne Unterbrechung üben musste, bis die Töne endlich saßen. Für empörte Eltern in der westlichen Welt ist die Juraprofessorin Amy Chua deshalb eine „Monster-Mom“.

Ein guter Ort, um über all das in Ruhe nachzudenken, schien mir ein kleines Café zu sein, gerade eröffnet im verschlafenen Pankow. Die frischen Waffeln mit Zucker und Zimt sollen dort köstlich sein.

Die sind aber um elf Uhr leider schon alle, denn nicht nur in den Szene-Kiezen rund um die Stargarder und Wörther Straße trifft sich die vegane Bionade-Tofu-Bourgeoisie mit Kind zum Brunchen, sondern inzwischen auch bei uns in Pankow. Jedenfalls sitzen zwölf Mütter zwischen 36 und 40 im Mutter-Kind-Café und erzählen sich mit rosigen Wangen und Kotztüchern über der rechten oder linken Schulter, ob Noah, Luca, Emma oder Lea inzwischen durchschlafen. Der kleine Samuel, schätzungsweise 26 Monate alt, nutzt inzwischen die günstige Gelegenheit, erst den Inhalt eines, dann eines zweiten Zuckerstreuers über die frisch verlegte Dielung zu verteilen. Als ich seine Mutter darauf aufmerksam mache, schaut sie erst mich, dann ihn mit sorgenvoller Miene an und sagt: „Sieh mal, Samuel, wenn du den Zucker hier überall auf den Boden streust, dann muss die nette Kellnerin das alles aufkehren und in den Mülleimer werfen. Das willst du doch nicht, oder?“

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul bezeichnet Erziehungsberechtigte, die nicht „nein“ sagen können, als „Curling-Eltern“ – weil sie ihren Kindern jede Niederlage, allen Schmerz ersparen wollen. Im Gegenzug sollen ihre Kinder sie dafür natürlich toll finden und uneingeschränkt lieben. Weil das bedauerlicherweise selten zu einer echten Win-Win-Situation zwischen Eltern und Kindern führt, hat Jesper Juul dankenswerter Weise ebenfalls einen Bestseller geschrieben: „Nein aus Liebe: Klare Eltern – starke Kinder“. Es ist im Kösel-Verlag erschienen, 2014 in der 15. Auflage!

Leider hat Samuels Mutter kein einziges davon gelesen. Sie lässt den Knaben streuseln, bis ich ihm den Zuckerstreuer schließlich wegnehme und die erste klare Ansage seines Lebens mache. Sie lautet: Nein!

Seitdem habe ich im Café lebenslanges Hausverbot – das betrifft auch die Außer-Haus-Angebote wie Coffee to go, frische Waffeln, Eis oder Zupfkuchen.

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