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Michael Wolffsohn: Wie Bonn das Bündnis gefährdete
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Ausland

Michael Wolffsohn: Wie Bonn das Bündnis gefährdete 

Beim Jom-Kippur-Krieg im Nahen Osten vor 40 Jahren stand die Welt am Rand des Atomkriegs. Für die Brandt-Regierung war das arabische Öl damals wichtiger als die Unterstützung Israels. 

Von Michael Wolffsohn

Ein Atomkonflikt drohte am 25. Oktober 1973. US-Soldaten bezogen an der Grenze zur DDR und zur ČSSR Stellung. Nur während der Kubakrise ein Jahr zuvor hatten die damaligen Weltmächte USA und Sowjetunion näher vor dem Dritten Weltkrieg gestanden. Was war geschehen? Am 6. Oktober 1973 überfielen Ägypten und Syrien den jüdischen Staat Israel. Israel drohte die Auslöschung, der zweite Juden-Holocaust im 20. Jahrhundert. Die Verluste an Menschen und Material waren enorm, Waffen und Munition gingen aus. Erst eine Woche nach Kriegsanfang begannen die USA, Israel Nachschub an Material zu liefern. Auch aus der Bundesrepublik wurden US-Kriegsgeräte abgezogen.

Israels Armee stand kurz vor Kairo und Damaskus

Die amerikanische Hilfe rettete Israel. Es ging zur Offensive über. Am 22.Oktober verfügte der UN-Sicherheitsrat einen Waffenstillstand. Da stand Israels Armee kurz vor Kairo und Damaskus. Die Kämpfe gingen weiter. Nun drohte die Sowjetunion, ihrerseits zugunsten der arabischen Verbündeten einzugreifen. Daraufhin lösten die USA am 25. Oktober den Atomalarm aus. Dies ist der Hintergrund des folgenden deutsch-amerikanisch-israelischen Dramas. Seit Kurzem zugängliche Dokumente der Bonner und Jerusalemer Entscheidungsträger, aus denen die Zitate dieses Textes stammen, zeichnen ein neues Bild. Am Denkmal Willy Brandts und Walter Scheels werden Risse sichtbar.

Die US-Regierung unter Richard Nixon lieferte das überlebenswichtige Kriegsmaterial aus den USA über die portugiesischen Azoren. Sie zog es aber auch – ohne Vorankündigung – aus der Bundesrepublik ab. Dies verärgerte die Bundesregierung. Trotzdem gab Außenminister Scheel am 16. Oktober US-Botschafter Martin Hillenbrand grünes Licht. Deutschland zeige „besonderes Verständnis für die besondere Rolle seines Hauptverbündeten“, heißt es im Protokoll. Das entsprach auch der Haltung des Bundeskanzlers Willy Brandt.

Das Beste war nicht das Ehrlichste

Außenminister Scheels größte Sorge indes galt, so wieder das Protokoll, nicht der Strategie für Israels Überleben, sondern der taktischen Frage: „Wie soll man die Tatsache dieser Transporte der Öffentlichkeit und den arabischen Ländern am besten erklären?“ Das Beste war nicht das Ehrlichste: „Was die arabischen Staaten angeht, so wollten wir sie nicht über den Umfang der amerikanischen Lieferungen aus der Bundesrepublik Deutschland unterrichten.“ An eben diesem 16. Oktober beschlossen die Ölexportstaaten, ihre Fördermenge zu drosseln. Über die vermeintlich besonders proisraelischen USA und die Niederlande verhängten sie ein Ölembargo.

Ungeachtet der auch nach dem UN-Waffenstillstand fortgesetzten Kämpfe verlangte Paul Frank, Staatssekretär im Auswärtigen Amt (AA), am 24. Oktober in Bonn vom US-Gesandten Frank Cash das Ende der US-Waffenlieferungen „unter Benutzung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland“. Die „Notsituation“ sei „vorüber“. Der Gesprächsaufzeichnung zufolge widersprach der US-Gesandte. Es sei eben „nicht klar, ob die Notsituation tatsächlich vorüber ist“. Wusste Staatssekretär Frank nicht, dass am selben Tag heftige Boden- und Luftkämpfe zwischen Israel und Ägypten sowie auf den Golanhöhen mit Syrien tobten; und dass an eben jenem 24. Oktober die Sowjetunion drohte, zugunsten von Kairo und Damaskus militärisch zu intervenieren?

Bonn war bereit, die Zusammenarbeit der NATO zu gefährden

Daraufhin lösten die USA am 25. Oktober „Defcon 3“ aus, die erhöhte Einsatzbereitschaft der Atomstreitkräfte. Auch die US-Truppen in der Bundesrepublik wurden alarmiert. An diesem Tag, an dem ein Atomkrieg der Großmächte drohte und amerikanische Soldaten die deutsche Grenze schützten, attackierte der deutsche Staatssekretär Frank verbal US-Botschafter Hillenbrand. Und umgekehrt. Knallhart, direkt und undiplomatisch, auch persönlich, fielen beide auftragsgemäß übereinander her.

Kanzler Brandt wirkte eher als Statist, Scheel und Frank spielten die Hauptrollen. Erst nachträglich, am 26. Oktober, informierte das Außenministerium das Bundeskanzleramt über beide Gespräche. Dort, so der Vermerk, hielt der verantwortliche Ministerialdirigent Per Fischer eine Vorlage beim Bundeskanzler „für entbehrlich“. Man ließ den Urlauber Brandt die französische Riviera in La Croix Valmer in Ruhe genießen.

Trotz drohenden Weltkriegs war Bonn bereit, die Zusammenarbeit der NATO zu gefährden. Einerseits, so zeigt jener Vermerk, rief der undiplomatische deutsche Diplomat die USA zur Bündnisordnung, andererseits trat er in die Fußstapfen Kaiser Wilhelms II: „Unsere ausgewogene Politik sei diktiert durch vitale deutsche Interessen.“ Wusste der Staatssekretär nicht, dass die vitalen, also lebensentscheidenden Interessen Deutschlands an seinen Grenzen von US-Soldaten gesichert wurden, während er in seinem Büro Amerikas Botschafter abkanzelte? Er wusste es. Aber etwas anderes schien ihm vitaler: arabisches Öl.

Kissingers Donnerwetter erreichte das Bundeskanzleramt

Botschafter Hillenbrand war am Ende seines Diplomatenlateins. Außenminister Henry Kissinger oder Präsident Nixon persönlich müsse sich nun einschalten, signalisierte er. Am 26. Oktober donnerblitzte Kissinger auf den deutschen Botschafter Berndt von Staden. Der berichtete: „Die Haltung der Bundesregierung zur Verschiffung amerikanischer Waffen aus der Bundesrepublik hat in Washington sehr erstaunt.“ Die USA gedächten keine proisraelische Politik zu betreiben. Diese Zeit sei vorüber. Umso mehr sei er erstaunt, dass wir in dieser Lage fundamentale Allianzfragen berührt hätten. Nixon wolle deshalb eine persönliche Botschaft an den Bundeskanzler senden. Kissinger gab später selber zu, Israels militärische Schwächung, sein „Bluten“, in Kauf genommen zu haben, um es zu politischen Zugeständnissen zwingen zu können. „Let Israel bleed a bit but not too much“, hatte er zunächst nur Vertraute wissen lassen.

Kissingers Donnerwetter erreichte das Bundeskanzleramt. Nun wurde auch Urlauber Brandt informiert. Der Kanzler, sein Amt und das Außenministerium kamen überein: Es sei „psychologisch günstig“, dem Brief des US-Präsidenten zuvorzukommen. Brandt selbst solle schlichten. Außenstaatssekretär Frank verfasste einen Entwurf. Kanzleramtschef Horst Grabert bat ihn brieflich, „an einigen Stellen (…) die allzu deutliche Sprache zu mildern“. „Im Sinne der Milderung“ sollte auch der im Kanzleramt für Nahost zuständige Per Fischer den Text „noch einmal durchsehen“. Brandts Urlaubsmannschaft sowie Bundesminister Egon Bahr legten ebenfalls Hand an. Brandt hat dann den Text „stark bearbeitet“, so der Vermerk eines Mitarbeiters.

Öffentliche Protest des Auswärtigen Amtes

Dann das: Die endgültige, am 28. Oktober versandte Fassung hatten der deutsche Botschafter in Washington und Staatssekretär Frank offenbar erneut eigenmächtig poliert. Fischers Wut ist schriftlich dokumentiert: „Obwohl die Textänderungen nicht schwerwiegender Natur sind, halte ich einen derartigen Eingriff in vom Bundeskanzler selbst redigierte Schreiben für unstatthaft.“ Der Vorfall zeigt, wie gewichtslos der Kanzler für die Spitzen des Außenamts inzwischen war. Gleiches galt für Teile seiner eigenen Partei. Kurz zuvor hatte der Spiegel SPD-Fraktionschef Herbert Wehner mit der Bemerkung über Brandt zitiert: „Der Herr badet gerne lau.“

Wie Israels Botschafter Ben Chorin „aus absolut zuverlässiger und hochstehender Quelle“ erfahren und seinen Vorgesetzten berichtet hatte, sei Brandt selbst für die Fortsetzung der amerikanischen Waffenlieferungen gewesen, aber in der entscheidenden Kabinettssitzung habe er geschwiegen. Er konnte oder wollte sich gegen Scheels Amt nicht durchsetzen. So wenig wie Verteidigungsminister Georg Leber (SPD), der sich immerhin in der Ministerrunde vehement gegen den Lieferstopp ausgesprochen hatte. „Persönlich und geheim“ kooperierte Leber mit den Israelis. Der öffentliche Protest des Auswärtigen Amtes gegen die Waffenverschiffung sowie der dadurch ausgelöste Presserummel beendeten diese Leber-Hilfe ans gefährdete Israel, so Israels Botschafter.

US-Präsident Nixon, Außenminister Kissinger und Verteidigungsminister Schlesinger

Zwar musste auch das AA Federn lassen, aber zumindest in der Politik jener Tage gegenüber den USA, der NATO und Nahost bestimmte nicht der Kanzler die Richtlinien der Politik, sondern der AA-Staatssekretär. Gegen die öffentliche Wut von US-Präsident Nixon, Außenminister Kissinger und Verteidigungsminister Schlesinger allerdings vermochte der AA-Staatssekretär nichts auszurichten.

Am 29. Oktober wurde eine scheinsalomonische Lösung eingeleitet: Die USA sollten ihre Waffen nicht mehr mit israelischen Schiffen und Flugzeugen liefern, sondern mit eigenen oder mit denen solcher Nationen, „die nicht im Nahost-Konflikt involviert“ seien. So das Protokoll der Vereinbarung zwischen Botschafter Hillenbrand und Staatssekretär Frank.

Scheel wollte eine neue deutsche Nahost-Strategie begründen

Nun trat auch der Kanzler wieder in Erscheinung. Am 7. November 1973 reagierte Brandt wortgewaltig auf den Überfall Ägyptens und Syriens. Bei einem Empfang der Universität Bonn erwähnte er den „erpresserischen Druck“, den „die Ölstaaten“ auf die Bundesrepublik ausübten, doch dem werde sich sein Land keinesfalls beugen, selbst dann nicht, „wenn wir einen harten Winter erdulden“. Das lesen wir im Dokument des Kanzleramts. Sogar im Kabinett bot Brandt Außenminister Scheel Paroli. Da war der Krieg vorbei, Israel nicht mehr existenziell bedroht und aus Staatsraison heraus das deutsch-amerikanische Verhältnis sowie die NATO wieder „intakt“, vornehm ausgedrückt. Mit der ihm eigenen Taktik indes wollte Scheel eine neue deutsche Nahost-Strategie begründen: „Besondere Beziehungen“ sollten nicht mehr allein Israel gelten, sondern auch der arabischen Welt.

Die Quintessenz jener bewegten Tage: Es hätte im Herbst 1973 wenig gefehlt, und ein Atom-Weltkrieg wäre ausgebrochen. In dieser heiklen Situation setzte die von Scheel mehr als von Brandt geführte Bundesrepublik ihre Ölinteressen über die Partnerschaft zu Amerika und Israel sowie die Bündnissolidarität. Dabei ignorierte die Bundesregierung wissentlich die Tatsache, dass selbst bei einem arabischen Boykott genügend iranisches Öl über Israel nach Deutschland gelangt wäre. Bonns Haltung war panisch und grenzte an Selbstmord. Brandt, Scheel und vor allem Staatssekretär Frank hatten den USA und Israel die ersten Ansätze eines neudeutschen Wilhelminismus gezeigt. Unter Helmut Schmidt und Gerhard Schröder gingen die damals noch zarten Blüten auf.

 

Autor:

Professor Dr. Michael Wolffsohn ist Historiker und einer der führenden Experten für die Analyse internationaler Politik und der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden auf staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ebene. Er wurde 1947 in Tel Aviv geboren und übersiedelte 1954 mit seinen Eltern nach West-Berlin. Nach Wehrdienst in Israel und Studium in Berlin, Tel Aviv und New York lehrte er von 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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