Die Humboldt-Universität – seit 1810 ein Ort der Wissenschaft und der Forschung, an der Professoren wie Georg Hegel, (Philosophie), Friedrich Karl von Savigny (Jura) und Christoph Wilhelm Hufeland (Medizin) das Profil der Fakultäten im humboldtschen Sinne prägten. „Die Humboldt“, wie sie von denen genannt wird, die hier studieren oder studiert haben, gehört mit mehr als 35 000 Studierenden zu den größten Universitäten Deutschlands. Sie hat 29 Nobelpreisträger hervorgerbacht und ist seit 2012 Exzellenzuniversität. NITRO sprach mit der Präsidentin der Humboldt-Universität, Prof. Dr. Sabine Kunst, über die anspruchsvolle Aufgabe der humboldtschen Idee von der Einheit von Lehre und Forschung und wie die Humboldt gegenüber anderen Universitäten in Europa und weltweit konkurrenzfähig bleibt.
? Frau Professorin Kunst, Sie waren von 2011 bis 2016 Wissenschaftsministerin in Brandenburg, zuvor sechs Jahre Präsidentin der Universität Potsdam. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt, Präsidentin der größten und ältesten Berliner Universität zu werden?
! Ja, ich war über viele Jahre als „Wanderin zwischen den Welten“ in der Leitung großer Institutionen und der Politik unterwegs. Als ich im Dezember 2015 gefragt wurde, ob ich als Präsidentin der Humboldt-Universität kandidieren würde, entschied ich mich dafür. Denn diese großartige Universität hat nicht nur eine besondere Tradition und eine privilegierte Lage im Herzen von Berlin, sie hat auch ein einzigartiges Charisma. Ein Reiz dieser Aufgabe lag und liegt auch darin, dass sich hier in besonderer Art und Weise junge Menschen aus der ganzen Welt mit der Vielfalt des neuen Berlins nach der deutschen Wiedervereinigung begegnen. Die Humboldt-Universität hat eine außerordentliche Dynamik und Lebendigkeit, die intellektuelle Herausforderungen und einen unkomplizierten Kooperationswillen braucht.
Diese Aufgabe hat einen ganz besonderen Reiz
? Die Berliner Humboldt-Universität gilt als die Mutter aller modernen Universitäten – ein Verdienst des Universitätsgelehrten Wilhelm von Humboldt. Wie groß ist die Identifikation dieser Universität mit Humboldt heute?
! Sie ist enorm groß. Die allermeisten Hochschullehrer und die vielen Mitarbeitenden, die die Universität tragen, fühlen sich als Humboldtianer in einer besonderen Art und Weise gleichermaßen der Lehre und der Forschung verbunden. Das humboldtsche Modell von Universität ist unbestritten ein Weltexportschlager Deutschlands und wird heute insbesondere auch in den angelsächsischen Ländern in der von Humboldt intendierten Form gelebt. Das bedeutet eine sehr starke Konzentration auf eine moderne, exzellente Lehre. Andererseits muss die Humboldt-Universität neben diesem hohen Anspruch aber auch der Realität einer Massenuniversität gerecht werden, und das heißt, wir müssen und wollen mehr als 35 000 Studierende anständig betreuen und ausbilden.
? Sie sprechen von Humboldtianern. Hört sich fast so an, als gäbe es ein Humboldt-Gen, wenn sich Studierende, Professoren und die Mitarbeiter so mit der Universität identifizieren.
! Die allermeisten lieben es, Mitglied der Humboldt zu sein, für viele Professoren und Professorinnen ist die Berufung an die Humboldt die Krönung ihrer akademischen Karriere. Ich erinnere mich an die Begeisterung einer Professorin der Sprach- und Literaturwissenschaften, die mir sagte: „Es ist immer wieder ein erhebendes Gefühl, wenn ich über den Bebelplatz komme und mich in der Gemeinschaft so vieler großartiger Persönlichkeiten weiß, die hier einmal gelehrt und gelebt haben. Es ist ein wenig so, dass hier aus jedem Stein Tradition tropft, und gleichzeitig sind die Herausforderungen jeden Tag anders.“
? Sie erwähnten gerade die Anzahl der Studierenden. 1810, als der Lehrbetrieb aufgenommen wurde, waren es 256 Studenten. Heute sind es über 35 000, was nicht nur eine Frage der Quantität ist, sondern eine große Herausforderung in der Qualität. Wie stellen Sie sich den Herausforderungen, so vielen Studierenden im universitären Betrieb gerecht zu werden?
! Das Besondere an der Humboldt-Universität ist, dass hier alle Professorinnen und Professoren tatsächlich in die Lehre involviert sind. Anders als an anderen Universitäten gibt es bei uns keine komplette Lehrbefreiung. Es gehört zur DNA der Humboldt, dass auch Professoren, die sehr stark in der Forschung eingespannt sind, trotzdem Lehre übernehmen und Studierenden Wissen vermitteln. Ich finde das großartig, und in den Berufungsverhandlungen achten wir in der Leitung der Universität auf eine conditio sine qua non (Lat.: „Bedingung, ohne die nicht“, sinngemäß: Unabdingbar; Anm. d. Red.). Die Bewerberinnen und Bewerber wissen also, dass eine komplette Herausnahme aus der Lehre bei uns nicht möglich ist.
? Ihnen ist die von Humboldt entwickelte Idee der Einheit von Lehre und Forschung sehr wichtig?
! Absolut. Das gilt über die gesamte Breite der akademischen Lehre auch für wissenschaftliche Mitarbeiter, ohne die die Lehre in dieser Qualität nicht erfolgen könnte. Sie sind neben den Lehrstühlen die Säule für eine exzellente Betreuung der Studierenden. Dazu wurde über viele Jahre ganz systematisch ein Tutorien- und Mentoring-Programm aufgebaut. Es müssen viele Schritte ineinandergreifen, um den mehr als 35 000 Studierenden adäquat gerecht zu werden.
29 Nobelpreisträger sind ein hoher Anspruch
? Die Friedrich-Wilhelms-Universität, wie die Humboldt-Universität früher hieß, hat 29 Nobelpreisträger hervorgebracht. Das ist eine große Verpflichtung. Wie kann die heutige Generation diesem hohen Anspruch gerecht werden?
! Es gab eine sehr respektable Anzahl von Nobelpreisträgern vor dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren die Berliner außeruniversitären Forschungsinstitutionen noch in die Friedrich-Wilhelms-Universität integriert. Heute ist das anders, und es ist nicht mehr möglich, an der Humboldt in dem Maße Nobelpreisträger hervorzubringen. Die heutigen deutschen Nobelpreisträger haben fast ausschließlich in Max-Planck-Instituten geforscht, denn dort können sie sich ausschließlich der Forschung widmen. Natürlich sind sie mit der Universität sehr verbunden, und es gibt an der HU eine ganze Reihe von Forschern, die nobelpreisverdächtig sind, aber tatsächlich einen Nobelpreisträger hervorzubringen, ist deutlich schwieriger als in früheren Jahrzehnten. Wir haben eine andere Situation, erreichen aber mit der kooperativen Forschung, die wir in den Exzellenzclustern sehen, heute Weltniveau. Und natürlich hoffen wir auf die nächsten Nobelpreisträger.
? Welchen Einfluss hatte die Umbenennung in Humboldt-Universität im Jahr 1949 auf die Maßstäbe und Ziele der Universität? Haben 40 Jahren Bildung in der DDR bis heute Spuren hinterlassen?
! Es war wichtig und klug, der Universität den Namen Humboldt-Universität zu geben. Wir profitieren heute von dieser Entscheidung. Nach der Wiedervereinigung hat es in Berlin eine entscheidende Universitätsreform gegeben. Bei dieser Reform wurden die alte Humboldt und auch die anderen Berliner Universitäten quasi halbiert, um die Koexistenz von drei beziehungsweise vier Universitäten möglich zu machen. Man kann also die heutige Humboldt nicht mehr mit der zu DDR-Zeiten vergleichen. Sehr starke Forschungsbereiche sind nach wie vor geblieben, sodass es die besondere Ausprägung in den sogenannten Humanities, die es früher gab, auch heute gibt. Andere Bereiche, wie zum Beispiel das gesamte Ingenieurwesen, sind heute in der Technischen Universität konzentriert. Die gemeinsame Strukturänderung für die Berliner Universitäten im Jahr 2004 hat in vielen Bereichen zu einem kompletten Wechsel geführt, auch in der Fächerstruktur.
Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt
? Was macht die Universität heute so besonders – abgesehen von der einzigartigen exponierten Lage im historischen Berlin?
! Zum Beispiel haben wir an der Humboldt-Universität seit einigen Jahren die Berliner Integrations- und Migrationsforschung. Ein Projekt, das von der Politik an uns herangetragen wurde, um ein deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung aufzusetzen, und das arbeitet inzwischen deutschlandweit. Heute sind an der Humboldt-Universität alle Religionen vertreten – von der alten evangelischen und der katholischen Theologie, der islamischen Theologie und in Ansätzen der christlich-jüdischen, um uns auch in der theologischen Auseinandersetzung zu positionieren, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft überaus relevant ist. Wir können so den Wertekanon der Gesellschaft strukturell abbilden und dazu wissenschaftlich arbeiten und ausbilden.
? Die Humboldt-Universität ist seit fünf Jahren Exzellenzuniversität. Wie stellen Sie sich den Herausforderungen dieser Exzellenzposition in Zukunft?
! Die gute Nachricht ist: Wir sind 2012 Exzellenzuniversität geworden und sind es 2019 geblieben – im Verbund der Berlin University Alliance (BUA). Wir haben vier Exzellenzcluster eingeworben. Eines verantworten wir allein. In den drei anderen arbeiten wir mit den Akteuren der BUA gemeinsam. Das damit verbundene noch stärkere Zusammenwachsen, das Zusammenfügen unserer Stärken mit denen der anderen Berliner Universitäten sichert Berlin die internationale Exzellenz. Wir als Humboldt-Universität haben in der Tradition unseres Namensgebers in einzelnen Disziplinen eine besondere Interdisziplinarität entwickelt. Unsere Professuren haben heute besondere Anforderungsprofile, dass beispielsweise kulturwissenschaftliche Orientierungen in den Sprachwissenschaften bevorzugt werden und dass es nicht rein sprachwissenschaftliche oder rein linguistische Denominationen gibt. Ähnliche Beispiele finden Sie in den Naturwissenschaften, beispielsweise in der mathematischen Physik.
? Die Humboldt hat eine starke Bindung zu dieser Stadt. Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, sich beispielsweise im Humboldt Forum oder in der langen Nacht der Wissenschaften gesellschaftlich stärker einzubringen?
! Was ist sogar ein besonderes Anliegen der Humboldt-Universität. Wir sind nach den Programmen zum 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt im vorigen Jahr auch 2020 unterwegs, salopp gesagt „Open Humboldt“ zu machen, also die Bürger mit unterschiedlichen Formaten zu erreichen und mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten.
Wir sind privilegierter Partner im Humboldt Forum, haben dort mit dem Humboldt Labor eine große Ausstellungsfläche mit Arbeitsräumen, und wir liefern Inhalte für die Humboldt Akademie im Humboldt Forum. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftscampus in der Invalidenstraße – einer großartigen unentdeckten Fläche in der Mitte Berlins. Wir engagieren uns dort gemeinsam mit dem Museum für Naturkunde in der Berlin School of Public Engagement. Am Palais am Festungsgraben entsteht eine Begegnungsstätte direkt im Herzen der Stadt. Und den neue Kreuzungsbahnhof der U5 – Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße gestalten wir als einen Bahnhof der Wissenschaften.
Kooperationen mit Princeton, Singapur und São Paulo
? Kooperiert die Humboldt-Universität mit namhaften Universitäten in Europa oder der Welt beziehungsweise gibt es Partneruniversitäten?
! Es gibt ein ganzes Netzwerk. Wir kooperieren unter anderem mit Princeton und Singapur, und mit São Paulo in Südamerika haben wir eine privilegierte internationale Partnerschaft. Wir sind verbunden mit Melbourne und kooperieren mit den Universitäten in Mittel- und Osteuropa wie Prag, Warschau und Budapest. Eine sehr wichtige Kooperation gibt es zudem über die Berlin University Alliance mit Oxford.
? Wir leben in Zeiten starker Veränderungen, und die Digitalisierung wird an der Forschung nicht spurlos vorübergehen. Fühlen Sie sich von Deutschland ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet?
! Wir sind nicht unbescheiden. Geld brauchen auch wir immer. Für unsere wissenschaftlichen Arbeiten gibt es tatsächlich eine zufriedenstellende Finanzierung, für die wir dankbar sind. Aber einige unsere wunderbaren historischen Liegenschaften haben Renovierungsbedarf, sodass wir in den nächsten Jahren dringend mehr Investitionsmittel für die Gebäudesanierung brauchen.
? Wo sehen Sie die Humboldt-Universität in den nächsten zehn Jahren? Welche Entwicklung wird es Ihrer Meinung nach in Forschung und Lehre geben oder geben müssen, um die Universität in die Zukunft zu führen?
! Ich gehe davon aus, dass wir der Hotspot für die Interaktion zwischen Gesellschaft und Wissenschaft sein werden, und ich hoffe, dass es wieder substanzielle Forschung gemeinsam mit den Museen geben wird. Es wird eine stärker digitalisierte Wissenschaft geben, sodass sich neue Methoden in der Forschung etablieren werden. Sicher wird es Kooperationsfelder geben, die wir heute noch gar nicht vermuten. Und in den Naturwissenschaften werden sich Verbindungen zwischen Physik und Medizin ergeben, die wir heute auch noch nicht abschätzen können.
Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel
Prof. Dr.-Ing. Dr. Sabine Kunst ist seit 2016 Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1972 bis 1982 studierte sie an der Universität Hannover Biologie, Politologie und Wasserwirtschaft und promovierte 1982 im Ingenieurwesen und 1990 in Politologie. Von 2007 bis 2011 war sie Präsidentin der Universität Potsdam und ab 2011 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg. Sabine Kunst war – als erste Frau überhaupt – von 2010 bis 2011 Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der größten Organisation für den weltweiten Austausch von Forscherinnen, Forschern und Studierenden.
Bettina Schellong-Lammel
Ähnliche Beiträge
Neueste Beiträge
Drei Fotografen fotografieren ein Dorf
„70 Jahre Dorfleben in Bildern, 70 Jahre von drei Fotografen, ein Dorf“, so steht es im Klappentext. Es geht um Berka, ein Dorf in Thüringen, um den Müller Ludwig Schirmer, der als Amateurfotograf das Dorfleben in den 1950er- und 1960er-Jahren in Schwarz-Weiß-Fotos eingefangen hat und…
Der Osten bleibt anders
35 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben wir hitzige Diskussionen über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte, schreibt der Soziologe Professor Steffen Mau in seinem neuesten Buch „Ungleich vereint“, das im Juni 2024…