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Heute schon gewallrafft?
Günter Wallraff / Foto: Bernd Lammel
Fernsehen

Heute schon gewallrafft? 

Günter Wallraff ist einer der bekanntesten Journalisten Europas. In Schweden setzte man ihm schon vor 30 Jahren ein sprachliches Denkmal – dort sprechen die Journalisten bei der investigativen Recherche vom „wallraffen“.NITRO sprach mit Wallraff über den Journalismus in Deutschland und seine neuen Projekte.

? Sie sind vor mehr als 40 Jahren mit Industriereportagen in den Journalismus eingestiegen, als Popkultur, Mode und Lifestyle die angesagten gesellschaftlichen Themen waren. Warum sind Sie gegen den Strom geschwommen, haben in den Tiefen der Gesellschaft recherchiert?

! Ich wollte nie „in“ sein, habe immer versucht, meinen eigenen Weg zu gehen. Am Anfang meines journalistischen Schaffens stand eine soziale Identifizierung, die bis heute anhält. Meine ersten Industriereportagen waren von französischen Arbeiterpriestern und einer Gruppe protestantischer Industriepfarrer inspiriert, die aus Fabriken berichteten. Ich hatte einen Deutschlehrer, der uns an Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky und die Anti-Kriegs-Literatur herangeführt hat. Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ konnte ich auswendig. 1966, vor fast 50 Jahren, erschien mein erstes Buch „Wir brauchen Dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben“ und jetzt schließt sich der Kreis zu meiner Arbeit mit „Team Wallraff“ bei RTL heute. Das sind auch Industriereportagen; wir recherchieren soziales Unrecht und wollen damit eine größere Öffentlichkeit erreichen und vor allem auch junge Menschen. Ich freue mich, wenn es gelingt, die eigentliche Zielgruppe, Arbeiter und Angestellte zu motivieren.

? Sie begeben sich oft selbst in schwierige Situationen, spielen Rollen von Menschen am Rand der Gesellschaft und sagen, dass es Ihnen mitunter sogar Spaß macht.

! Ja, es gibt urkomische Situationen, da fühlt man sich wie in einem surrealen Film. Da sagt man sich: Das kann doch wohl nicht wahr sein. Natürlich ist es auch eine privilegierte Stellung, die ich da habe. Andere müssen die Demütigung ertragen und wegstecken, weil sie sich nicht wehren können, weil sie sonst ihren Job verlieren. Das muss ich mir so nicht zu eigen machen. Ich kann jederzeit sagen: Das gebe ich Euch zurück, das wird alles öffentlich. Dadurch kann ich die Dinge natürlich leichter ertragen als jemand, der dem dauerhaft ausgeliefert ist.

? Sie haben bei Thyssen als Türke Ali malocht und danach das Buch „Ganz unten“ geschrieben. Nach Ihrem Undercover-Einsatz bei Bild erschien das Buch „Der Aufmacher: Der Mann, der bei Bild Hans Esser war“. Der Bericht aus dem Innern der Bild-Zeitung ist inzwischen legendär. Hat sich Journalismus in Deutschland, außer bei Bild, verändert?

? Der Journalismus ist zum Glück nicht Bild aber bei Bild hat sich inzwischen auch einiges geändert, das muss ich gerechtigkeitshalber sagen. Das, was früher bei Bild tagtäglich an Lügen und Fälschungen, an Hetze gegen Minderheiten und an rassistischem Gedankengut vorkam, ist zum Glück nicht mehr Alltag bei diesem Blatt. Es gibt dort inzwischen Journalisten, die versuchen, verantwortungsvoll zu arbeiten, auch wenn Bild von Zeit zu Zeit rückfällig wird.

? Erwarten Sie künftig eine seriöse Berichterstattung von der Bild-Zeitung?

! „Wer noch lebt, sage nicht: niemals.“ (Bertolt Brecht) Aber wir sollten uns von Bild nicht täuschen lassen: Es kommt vor, dass Bild über ein paar Wochen mal eher unauffällig oder ganz harmlos berichtet, sogar aufklärerische Ansätze hat und dann wird sie wieder rückfällig. Bei Bild kann man keine grundsätzliche Entwarnung geben.

? Das Bemühen ist da?

! Ja, ich erkenne da ein Bemühen und daran habe ich wohl auch meinen Anteil – durch ständige Kritik. Nach meinem Eindringen bei Bild hat der Springer Verlag über Jahre versucht, mich mit Dutzenden Klagen tot zu prozessieren. Ich habe bis zum Bundesgerichthof und Bundesverfassungsgericht durchgehalten und ein erstaunliches Grundsatzurteil erstritten, nach dem die Bild-Zeitung als Zentralorgan des Rufmordes und professionelle Fälscherwerkstatt genannt werden durfte. Die Kernaussage des Urteils lautete: Wenn es um gravierende Missstände geht, hat die Öffentlichkeit das Recht, darüber informiert zu werden und wirtschaftliche Interessen haben dahinter zurückzustehen, auch wenn die Informationen unter Täuschung, also undercover, recherchiert wurden. Außerdem stellten die Richter fest: Da es sich bei Bild um eine Fehlentwicklung im deutschen Pressewesen handele, müssen meine Methode rechtmäßig sein.
Insgesamt würde ich schon sagen, dass wir in Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, noch eine Vielfalt konkurrierender Presseerzeugnisse haben. Wir könnten uns sehr gut informieren, wenn wir die Zeit dazu hätten, denn in einer so beschleunigten Gesellschaft ist das oft nicht einfach. Ich gehöre zu denen, die noch Zeitungen und Zeitschriften abonniert haben.

? Welche?

! Süddeutsche, Taz, Zeit, Frankfurter Rundschau, Spiegel, als kritische Korrektur zum Zeitgeist Ossietzky und hin und wieder lese ich auch den Freitag.

! Die Medien in Deutschland berichten seriös und umfassend?

? Das ist zu pauschal. Wenn es darum geht, Einzelne an den Pranger zu stellen, um sie zur Strecke zu bringen, wird eine regelrechte Stimmungsmache betrieben, die fast an Hysterie grenzt. Menschen werden „zum Abschuss“ freigegeben. Ich habe das vor einiger Zeit in der Spiegel-Blattkritik am Beispiel Wulff zum Hauptthema gemacht. Der Spiegel, Seit an Seit mit Bild, hat Christian Wulff, regelrecht entwürdigt. Das grenzt an Menschenrechtsverletzung. Die haben sich bei ihm zu entschuldigen!

? Die Medien waren gleichgeschaltet?

! So weit würde ich nicht gehen, aber in Einzelfällen beobachte ich, dass sich ein Meuteinstinkt im Journalismus entwickelt, der in Menschenjagd gipfelt. Hier ist der Begriff Hetzjagd angebracht, bei der jeder versucht, noch eins draufzusetzen, um den finalen Fangschuss abzugeben, selbst wenn jemand am Boden liegt. Wenn sich die Justiz zusätzlich instrumentalisieren lässt und dem Spiegel nicht öffentliche Vernehmungsprotokolle zuspielt, entsteht eine Menschenjagd, die nichts mehr mit seriöser Berichterstattung zu tun hat.

? Gibt es aktuell etwas undercover aufzudecken?

! Ja, zurzeit bin ich mit einzelnen Kollegen meines Teams unterwegs. Bei einigen Themen stehen wir kurz vor der Veröffentlichung.

? Wenden sich immer noch so viele Menschen an Sie, die Ihnen Missstände erzählen?

! Ich werde überhäuft mit Briefen. Die Hilferufe nehmen in einer unglaublichen Weise zu und ich merke, dass in einigen Bereichen der Wirtschaft eine dramatische Entrechtung von Arbeitnehmern stattfindet. Aus diesem Grund habe ich das Büro „Workwatch“ gegründet, das ich aus meinen Honoraren finanziere. Über die Hälfte meiner Arbeit besteht darin, Menschen Hilfestellungen zu geben und Missständen auf den Grund zu gehen.
Es wenden sich inzwischen sogar Manager an mich, zum Beispiel, wenn aus Leitenden Leidende geworden sind. Oft bin ich dann nicht mehr in der Rolle des Journalisten, sondern eher in der eines Mediators. Das alles mache ich unentgeltlich.

? Haben Sie eigentlich schon mal Schauspielunterricht genommen?

! Nein. Ich glaube, ich wäre kein guter Schauspieler. Ich könnte keine vorgegebene Rolle spielen, ich kann es nur situationsbedingt. Wenn es sein muss, dann kommen bei mir Eigenschaften zum Vorschein, die mir sonst abgehen. In einer fremden Rolle habe ich eine unheimliche Präsenz, da spüre ich mehr, bin wacher, kreativer, aufnahmefähiger.

? Warum erkennt Sie eigentlich nie einer bei Ihren Recherchen, obwohl Sie so im Lichte der Öffentlichkeit stehen?

! Mich wundert das auch. Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Richard Meier hat mir einmal attestiert, ich hätte so ein schwer zu observierendes Allerweltgesicht.

? Sie wurden wirklich noch nie erkannt?

! Ich bin schon erkannt worden. Neulich erst, als ich für RTL in der Sicherheitsbranche recherchiert habe. Ich war als Investor für die Sicherheitsbranche in einem Hotel, um mir die Angebote von Sicherheitsfirmen unterbreiten zu lassen. Da war ein türkischer Security-Unternehmer, und plötzlich kommt der auf mich zu, umarmt mich und sagt: „Günter Wallraff. Mensch, Ali, das ist aber eine Enttäuschung. Wieso wechseln Sie denn in diese Branche?“

? Undercover unterwegs zu sein, um Missstände aufzudecken, heißt ja auch, in Gefahr zu sein, möglicherweise aufzufliegen. Hatten Sie davor nie Angst?

! Nein. Indem ich an die Angstmacher rangehe, überwinde ich eigene Ängste. In Ausnahmesituationen war ich sogar bereit, mein Leben aufs Spiel zu setzen.

? Bislang sind vier Folgen von „Team Wallraff“ bei RTL gelaufen, Ende des Jahres soll eine weitere folgen. Warum eigentlich ausgerechnet bei RTL? Hatten die öffentlich-rechtlichen Sender nach Mitternacht keinen Sendeplatz mehr frei?

! Das hat mehrere Gründe. Erstens erreiche ich bei den öffentlich-rechtlichen Sendern die Jüngeren nicht mehr. Dort gibt es ein Bildungsbürgerpublikum – in der Regel ab 50 plus. Ich möchte aber diejenigen erreichen, die unter den schlechten Arbeitsbedingungen leiden. Hinzu kommt, dass Öffentlich-Rechtliche mit freien Produzenten arbeiten und dort wird an allem gespart.

? Liegt es wirklich nur am Geld?

! Bei RTL werden meine Sendungen zur besten Sendezeit ausgestrahlt und mit einem größeren Aufwand und vor allem mit mehr Zeit produziert, denn für unsere Themen braucht man wirklich Zeit. Und: Wir bleiben an den Themen dran und versuchen, Verbesserungen durchzusetzen.

? Warum findet eigentlich Ihre Form der Undercover-Recherche ansonsten keine nennenswerten Nachahmer?

! Es ist beschwerlich, es ist mühselig, es ist prozessgefährdet und die meisten Journalisten, die das gerne machen würden, werden von ihren Redaktionen nicht solange freigestellt.

? Haben Sie deshalb unlängst die Günter-Wallraff-Stiftung gegründet, um junge Journalisten zu unterstützen?

! Ich hoffe natürlich, dass ich Nachfolger finde, die es sich zur Aufgabe machen, so eine Arbeit fortzuführen, wenn ich das nicht mehr kann. Die Stipendiaten sind junge Journalisten und im Moment mehr Frauen als Männer. Die Frauen haben oft mehr Mumm, mehr Leidensbereitschaft und mehr Engagement. Wer in der Stiftung mitarbeitet, kann Themen vorschlagen, sie mit mir zusammen entwickeln und dann in bestimmte Bereiche abtauchen.

? Unser Magazin erschien vor zehn Jahren, am historischen 9. November 2004, zum ersten Mal. Sie sind einer der ersten und nachhaltigsten Unterstützer unseres Kollegenprojektes „Berliner Journalisten“. Trauen Sie uns weitere zehn Jahre zu?

! Unbedingt. Ich habe großen Respekt vor Eurer Leistung. Es grenzt an ein Wunder, dass ihr in Zeiten der Medienkrise so etwas zustande bringt – oft mit Überraschungseffekten und guten Fotos. Es ist nicht irgendein Blättchen, es ist ein richtig gut gemachtes Magazin mit aktuellen Themen. Was ihr bisher geschafft habt, ist bemerkenswert, in einer Presselandschaft, wo ansonsten das große Sterben im Gange ist.

? Vielleicht können wir mal zusammen wallraffen?

! Warum nicht? Lassen wir uns was einfallen!

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