von Georg Schwede
Wie viel Zeit bleibt uns noch? Diese Frage treibt mehr und mehr Menschen um, die die Konsequenzen und Dringlichkeit von Klimawandel und Artensterben wahrnehmen. Es ist schon viel Zeit verloren, doch gibt es einen Termin, zu dem geliefert werden muss: Die internationale Staatengemeinschaft muss sich im Oktober 2020 auf dem Weltbiodiversitätsgipfel auf ehrgeizige Ziele einigen. Dann kann die sechste Aussterbewelle aufgehalten werden, die wir Menschen verursachen, und damit würde auch unsere eigene Zukunft gesichert. Die Bundesregierung spielt eine Schlüsselrolle, der sie nur gerecht wird, wenn sie endlich das Gemeinwohl gegenüber eigennützigen Partikularinteressen durchsetzt.
Our house is on fire!
Mit dieser Botschaft rüttelte uns Greta Thunberg auf. Der vergangene Sommer hat uns deutlich gemacht, dass Gretas Bild keine Panikmache ist, sondern alarmierende Realität. Ob die verheerenden Brände bei uns vor der Haustür in Mecklenburg oder in Kalifornien, im Amazonasgebiet, der Arktis, Südostasien – selten zuvor stand unser Haus so in Flammen wie in diesem Jahr. Mit gravierenden Auswirkungen auf die tragenden Fundamente unseres Hauses: die biologische Vielfalt und das Klima.
Allein im Amazonasbecken, entscheidend für das Weltklima und zugleich ein Hotspot der Biodiversität, verbrannten in diesem Sommer 29 944 Quadratkilometer. Das entspricht der Fläche Belgiens. Die Klimabilanz der Brände in Sibirien kommt den jährlichen CO2-Emissionen Schwedens gleich.
Wie alarmierend es insgesamt um den Zustand unserer Erde bestellt ist, wurde im Mai dieses Jahres durch den Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) zum globalen Zustand der biologischen Vielfalt deutlich. Die bisher umfassendste und wissenschaftlich fundierte Bestandsaufnahme zum Zustand der biologischen Vielfalt lässt keinen Zweifel, dass sich die Menschheit aufgrund des fortschreitenden Klimawandels sowie des rasanten Verlustes der biologischen Vielfalt mit zwei existenziellen globalen Krisen konfrontiert sieht. Diese haben bereits dramatisch wachsende wirtschaftliche, soziale und ökologische Folgen.
So mahnt der Weltbiodiversitätsrat eindringlicher als je zuvor, dass wir an einem kritischen Wendepunkt sind, der richtungweisend für die Zukunft der Menschheit ist. Er macht deutlich, dass 80 Prozent der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) und zentrale Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens nicht erreicht werden, wenn nicht umgehend wirksame Maßnahmen gegen den Verlust der biologischen Vielfalt ergriffen werden. Beide Krisen hängen also zusammen: Unser Klima ist nur dann zu retten, wenn wir auch das Artensterben stoppen.
Einige der alarmierenden Erkenntnisse des Berichts zum weltweiten Zustand der Natur lauten: 85 Prozent aller Feuchtgebiete sind zerstört, seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hälfte aller Korallenriffe verschwunden, zwischen 2010 und 2015 wurden 32 Millionen Hektar tropischer Regenwald abgeholzt, ein Viertel der Landfläche des Planeten ist nicht mehr nutzbar, der Verlust von Bestäuberinsekten bedroht die Produktion von Nahrungsmitteln im Wert von 235 bis 577 Milliarden Dollar pro Jahr.
Der IPBES–Bericht macht deutlich, dass die Biodiversitätskrise bisher nie dagewesene Dimensionen erreicht hat. Der Trend: rasant abwärts. Schuld daran sind wir selbst. Innerhalb von zwei Generationen zerstören wir nicht nur, was die Evolution über Millionen von Jahren geschaffen hat, sondern nehmen auch unseren eigenen Kindern, was sie zukünftig zum Leben benötigen.
Doch jetzt gibt es ein Zeitfenster, innerhalb dessen wir das Blatt zum Besseren wenden können. Denn im Oktober 2020 werden zunächst die 196 Vertragsstaaten der CBD (Übereinkommen zur biologischen Vielfalt) in Kunming, China, zur COP 15 zusammenkommen, um eine neue Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt zu verabschieden. Bis dahin muss sich die internationale Staatengemeinschaft auf ehrgeizige und transformative Ziele zum Schutz der biologischen Vielfalt verpflichten. Andernfalls laufen wir Gefahr, in der nächsten Dekade bis zu eine Million Arten und ganze Ökosysteme, samt deren für uns Menschen und den Klimaschutz elementaren Leistungen, zu verlieren. Kurz darauf findet im November in Glasgow der wichtigste Weltklimagipfel seit 2015 statt, die COP 26. Dort tritt das Pariser Weltklimaabkommen formell in Kraft, und alle Vertragsstaaten müssen ihre Klimaziele höherstecken, sollten die vorliegenden nationalen Klimapläne nicht für einen Zwei-Grad-Pfad ausreichen. In genau einem Jahr also werden wir wissen, ob wir dieser historischen Verantwortung gerecht geworden sind und die entscheidenden Weichenstellungen für Auswege aus der Biodiversitäts- und Klimakrise vorgenommen wurden.
Auf Deutschland wird es ankommen; in mehrfacher Hinsicht hat unser Land eine Schlüsselrolle. Nach der Verabschiedung des „Klimapäckchens“, das Gefahr läuft, den „Stresstest“ auf dem Weltklimagipfel in Glasgow nicht zu bestehen, gilt dies insbesondere für die Verabschiedung der neuen globalen Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt im kommenden Jahr.
Diese Schlüsselrolle und Verantwortung gründet zum einen auf der Tatsache, dass Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehat und damit stellvertretend für die EU die Verhandlungen in Kunming führen wird. Zum anderen trägt Deutschland eine große Mitverantwortung für den rasanten Verlust der biologischen Vielfalt weltweit. Nach einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) belegt Deutschland den vierten Platz weltweit beim Verbrauch natürlicher Ressourcen, wie zum Beispiel Baumwolle, Kaffee, Palmöl, Soja und Holzprodukte. Allein für die Sojaimporte, die vornehmlich aus Brasilien stammen, wird eine Fläche benötigt, die der Hälfte der Schweiz entspricht.
Um dieser Schlüsselrolle 2020 gerecht zu werden, fordert die „Campaign for Nature“, dass sich die Bundesregierung umgehend ressortübergreifend auf ehrgeizige und konkrete nationale, europäische und internationale Ziele und Positionen zum Schutz der biologischen Vielfalt verständigt und diese innerhalb der EU und international vertritt. Zu den Eckpfeilern eines solchen Paketes gehört Folgendes:
- den Schutz von Klima und biologischer Vielfalt als gemeinsame und gleichrangige Aufgabe umzusetzen aufgrund der vielfältigen Wechselwirkungen,
- ein klares Bekenntnis zu dem von der Wissenschaft geforderten globalen Ziel, bis 2030 den wirksamen Schutz von mindestens 30 Prozent der wichtigsten Land- und Meeresökosysteme sicherzustellen. So würden 70 Prozent der biologischen Vielfalt und gleichzeitig wichtige Kohlenstoffspeicher und -senken in ihrer Funktion für den Klimaschutz gesichert.
- eine deutliche Erhöhung der Finanzmittel, um diese ambitionierten Schutzgebietsziele umzusetzen und „Paper Parks“ zu vermeiden,
- markante Änderungen im Konsumverhalten hin zur Nachhaltigkeit als Leitprinzip und dem Ziel, den ökologischen Fußabdruck bis 2030 zu halbieren und
- die Mitgliedschaft Deutschlands bei der von einigen CBD-Vertragsstaaten gegründeten High Ambition Coalition (HAC), um die richtigen Weichenstellungen auf der COP 15 sicherzustellen.
Lesen Sie den kompletten Artikel in der aktuellen Ausgabe.
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