Im Mai dieses Jahres hat der Weltbiodiversitätsrat nach drei Jahren in Paris seinen Bericht zum Artensterben vorgelegt. Dieser Bericht, der im Auftrag der UN-Organisation IPBES* erstellt wurde und an dem 150 Wissenschaftler aus 50 Ländern beteiligt waren, macht deutlich, dass die Biodiversitätskrise bisher nie dagewesene Dimensionen erreicht hat. Einer der drei verantwortlichen Weltbiodiversitätsräte ist der deutsche Wissenschaftler Prof. Dr. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). NITRO hat den Agrarbiologen am Department für Biozönoseforschung des UFZ in Halle besucht und mit ihm über den Zustand der Arten und die internationale Zusammenarbeit bei der Auswertung von 200 000 Publikationen für den Biodiversitätsbericht gesprochen.
? Professor Settele, die Medien bezeichnen Sie als Agrarbiologen und als Agrarökologen? Welche Bezeichnung ist korrekt?
! Beide. Ich habe Agrarbiologie studiert, ein Diplom in Agrarbiologie gemacht, in Agrarwissenschaften promoviert und mich in Agrarökologie habilitiert. An der Universität Halle bin ich Professor für Ökologie und decke somit das ganze Spektrum ab. Mal als Agrarwissenschaftler in der Landwirtschaft, mal als Agrarbiologe oder Agrarökologe oder als Ökologe – das ist dann eher für die Hardcore-Naturwissenschaftler das richtige Etikett.
? Am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung beschäftigen Sie sich mit Biozönoseforschung. Was genau versteht man darunter?
! Biozönose ist ein sperriges deutsches Wort für das Zusammenspiel von Arten – also Pflanzen und Tieren –, die in der Natur eine Art Gemeinschaft bilden. Im Englischen gibt es dafür die Bezeichnung Community Ecology – Gemeinschaftsökologie. Wörtlich kann man das nicht übersetzen, weil man sofort an Menschen denkt, aber es geht um tierische und pflanzliche Gemeinschaften.
? Sie sind Vorsitzender des Weltbiodiversitätsrats. Wer hat den Weltbiodiversitätsrat ins Leben gerufen?
! Ich bin einer von drei Co-Vorsitzenden des globalen Assessments des Weltbiodiversitätsrats. Das ist eine Initiative der Vereinten Nationen, ebenso wie der Weltklimarat. Der Weltbiodiversitätsrat, exakt Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES, wurde nur wesentlich später als der Weltklimarat gegründet, nämlich im Jahr 2014.
Nominiert vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
? Wie kam es dazu, dass die Wahl für den Weltbiodiversitätsrat auf Sie gefallen ist?
! Von 2011 bis 2014 habe ich für den Weltklimarat gearbeitet und war dort koordinierender Leitautor für das Kapitel Ökosysteme beim letzten großen Weltbericht. Auf diese Position hatte ich mich mit einem kritischen Kommentar beworben. Ich argumentierte, dass wir uns nicht nur um das Klima, sondern auch um Arten kümmern müssten. Dieser kritische Kommentar führte dazu, dass die Auswahlkommission auf mich aufmerksam wurde.
? Ein kritischer Kommentar hat Sie zum Leitautor für das Kapitel Ökosysteme gemacht?
! Im Grunde schon. Zusätzlich war die Nominierung einer wissenschaftlichen Einrichtung und natürlich der Regierung notwendig. Im Anschluß daran habe ich dann auch schon für den Weltbiodiversitätsrat gearbeitet – zum Beispiel war ich im Bestäubungs-Assessment involviert. Um als Co-Chair für das globale Assessment in Frage zu kommen kam es zusätzlich auf prozedurale Erfahrungen an – die hatte ich. Und ich war einer der wenigen, der in solche Prozesse schon involviert war. Um aber überhaupt in das Auswahlverfahren zu gelangen, wurde ich von der Bundesregierung und vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung nominiert.
? … und dann fiel die Wahl auf Sie …
! Ja, aber gerechnet hatte ich damit nicht.
? Warum?
! Für männliche Naturwissenschaftler aus Mitteleuropa ist die Chance auf eine solche Position eher gering, weil es davon die meisten Wissenschaftler gibt. Es gibt zu wenige Frauen, es gibt zu viele Europäer und zu viele Amerikaner, dafür aber zu wenige Wissenschaftler aus Afrika, Asien und Südamerika. Am Ende wurden drei Vorsitzende als Weltbiodiversitätsräte der UN ausgewählt: Sandra Díaz aus Argentinien – sie ist in einem Naturwissenschafts-Sozialwissenschafts-Zwischenbereich tätig (Anm. der Red.: Sandra Díaz ist Professorin für Ökologie an der Nationalen Universität von Córdoba). Außerdem Eduardo Sonnewend Brondizio, ein Anthropologe aus Brasilien, der den Amazonas erforscht. Und dann noch ich als Agrarbiologe beziehungsweise Agrarökologe aus Deutschland. Ich war der Dritte im Bunde.
Gender Balance und die wissenschaftlichen Disziplinen wichtig
? Als Co-Chair hatten Sie die Aufgabe, Wissenschaftler auszuwählen, die am Biodiversitätsbericht mitgewirkt haben. Wie lange dauerte der Auswahlprozess für das Autorenteam und wie viele Kollegen waren letztlich beteiligt?
! Der Nominierungsprozess dauerte einige Monate. Mindestens genauso wichtig wie das Prozedere selbst war aber, dass die Wissenschaftler, die nominiert wurden, nicht wieder absprangen. Fünf Tage, nachdem ich offiziell zugesagt hatte, verbrachte ich mit 13 weiteren nominierten Kollegen ein Wochenende damit, 450 Lebensläufe auszuwerten und ein Kernteam von Autoren zusammenzustellen. Dabei wurde nicht nur nach fachlicher Expertise entschieden, sondern auch nach Geografie – also von welchem Kontinent kommen die Nominierten, die Gender Balance war wichtig und natürlich die wissenschaftlichen Disziplinen. Es wurden letztlich 150 Wissenschaftler aus 50 Ländern berufen, und die haben alle neben ihrer Arbeit – also ehrenamtlich – am Biodiversitätsbericht mitgewirkt.
? Ehrenamtlich?
! Ja. Den Kollegen, die nicht aus Europa und oder den USA kamen, hat der IPBES immerhin die Reisekosten finanziert. Der IPBES als Organisation hat ein Budget, dessen Hauptressourcen aus Deutschland und Norwegen kamen – es sind die beiden größten Financiers des Weltbiodiversitätsrats. Inzwischen beteiligt sich aber auch die Europäische Union ähnlich stark.
? Verkürzt gesagt ging es im Bericht des Weltbiodiversitätsrates um den Zustand der Arten auf der Welt beziehungsweise um Arten, die sterben, schon gestorben sind oder demnächst von der Erde verschwinden werden.
! Es ging primär um die Ökosysteme der Welt und wie sie funktionieren. Es ging um die Gesamtheit der Arten und deren Interaktionen und um die Fragen: Wie funktionieren die Ökosysteme? Wie funktionieren Agrarlandschaften? Wie ist der Zustand des Sauerstoffhaushalts und des Kohlenstoffhaushalts, um die Frage der Artenvielfalt als Basis für Stickstoffbindungen und die Wasserreinigung. All diese Dinge laufen in der Natur über Systeme, und die sind durch Organismen geprägt. Zusammengefasst geht es um Zustand der Ökosysteme und der Natur.
Von allen Publikationen wurden 30 000 ausgesucht
? Wer hat die Vernetzung von 150 Wissenschaftlern aus 50 Ländern und deren Arbeitsgebiete koordiniert?
! Die Koordination haben wir drei Co-Chairs übernommen. Der Biodiversitätsbericht wurde in acht Kapitel unterteilt und diesen wurden Zuständigkeiten zugeordnet. Es gab Wissenschaftler, die arbeiteten an der Frage: Wie erreichen wir unsere Nachhaltigkeitsziele? Andere entwarfen Szenarien für den Ist-Stand der Natur und Szenarien für die Zukunft. Jedes Kapitel-Team bestand am Ende aus ca. 20 Autoren, die so ausgewählt wurden, dass eine Komplementarität** vorhanden ist. Wir mussten also dafür sorgen, dass die Quervernetzung passt, dass Sachverhalte kompatibel zueinander sind und sich nicht widersprechen.
? Für die Erstellung des Biodiversitätsberichts hatten Sie drei Jahre Zeit. Hätten Sie sich mehr Zeit gewünscht?
! Sagen wir so, dass Zeitfenster war anspruchsvoll, aber das Projekt war von Anfang an auf drei Jahre begrenzt und die Verabschiedung auf Mai 2019 in Paris terminiert. Es war schwierig, dieses Zeitfenster einzuhalten, und natürlich wäre mehr Zeit besser gewesen.
? Wie sah die Arbeit der Wissenschaftler aus?
! In einem Auswertungszeitraum von zehn Jahren gab es von tausenden Wissenschaftlern hunderttausende Publikationen zum Zustand der Natur und der Arten in allen Teilen der Welt. Allein zum Thema Bestäubung waren es innerhalb von zehn Jahren 200 000 Publikationen. Von allen Publikationen wurden etwa 30 000 der relevantesten ausgesucht, und etwa 18 000 flossen als Zitate in den Bericht ein. Wir stellten fest, dass das Wissen über den Zustand der Arten und der Natur da ist, aber es ist unendlich groß und unsortiert. Die Aufgabe der Wissenschaftler war es, das Wissen zu sortieren und zu bündeln und die Kernaussagen aufzuarbeiten.
Wir sprechen von einer Million bedrohter Arten
? Können Sie zusammenfassen, was die Kernaussagen zu unseren Ökosystemen und zu den Arten sind und wie dramatisch das Ergebnis ist?
! Der Weltbiodiversitätsbericht nimmt Stellung zu den Aussterberisiken beziehungsweise den Aussterberaten von Tieren und Pflanzen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa ein Achtel aller Arten vom Aussterben bedroht ist. Ausgehend von acht Millionen Arten sprechen wir von einer Million bedrohter Arten – konservativ gerechnet. Eine der Aufgaben war es, herauszufinden, wo die Ursachen für dieses Phänomen liegen, und wir wollten wissen, welche Triebkräfte entscheidend sind. Im Ergebnis der Studien, die wir auswerten konnten, stellte sich heraus, dass die Landnutzungsänderungen bislang hauptverantwortlich für das Artensterben waren, gefolgt von direkter Ausbeutung – also Holzschlag im Regenwald und Fischerei im Meeresbereich. An dritter Stelle ist der Klimawandel verantwortlich, und an vierter Stelle steht die Umweltverschmutzung durch Chemikalien und Plastik, an Platz fünf gefolgt von den Effekten invasiver Arten. Diese fünf Phänomene sind die direkten Treiber. Diesen zugrunde liegen die indirekten Triebkräfte wie das Konsumverhalten der Menschen und wie Regierungen auf diesen Gebieten arbeiten – aber auch die Philosophie das Wohlergehen der Menschen am wirtschaftlichen Wachstum festzumachen, muss in Frage gestellt werden.
? In den 1980er-Jahren wurden Frösche, Kröten, Molche und Lurche dezimiert. Trifft es zu, dass in den vergangenen 30 Jahren Vögel und Insekten am meisten dezimiert wurden?
! Lurche stehen nach wie vor ganz oben auf der Agenda, also generell alle Amphibien. Ihnen machen Pilze und der Klimawandel große Schwierigkeiten. Vögel sind weltweit stark bedroht. Und wir haben generell und überall einen Rückgang der Diversität von Insekten. Nehmen wir zum Beispiel die Ergebnisse des Tagfalter-Monitoring in Deutschland, das seit 2004 durchgeführt wird. Da gibt es zwar auch nach 14 Jahren keinen negativen Trend bei der Anzahl der Falter – aber es gibt auch hier weniger Arten. Das ist ein Zeichen für die Homogenisierung unserer Landschaft, denn das wiederholt sich bei der Vegetation. Die Vielfalt der Lebensräume nimmt ab – selbst wenn beispielsweise noch genauso viel Masse an Faltern vorhanden ist, gibt es weniger Arten und weniger Vielfalt.
In Europa ist ein enormer Rückgang der Artenvielfalt zu verzeichnen
? Gibt es Gebiete oder Länder, wo das Artensterben ganz besonders dramatisch und sichtbar geworden ist?
! Ja, ganz besonders sichtbar ist es in den tropischen Ländern mit Regenwald und auf den Inseln in Südostasien. Nehmen wir die Philippinen, die haben 7 000 Inseln. Einige von diesen Inseln waren vor 30 Jahren noch bewaldet. Jetzt gibt es dort fast keinen Wald mehr, und die Arten sind ausgestorben. Das ist in Papua-Neuguinea und natürlich in Südamerika ähnlich – besonders in Brasilien. Nur dort sind es keine kleinen Inseln, dort wird ein riesiger Regenwald durch Brände vernichtet. Die Artenvielfalt, die dadurch verlorengeht, ist unermesslich. Oder nehmen Sie die Korallenriffe – die „Regenwälder der Meere“: Die sind durch den Klimawandel und die Meeresübersäuerung so stark gefährdet, dass sie fast nicht mehr zu retten sind. Auch dort ist ein massiver Artenschwund zu verzeichnen. Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen, denn auch in Europa ist ein enormer Rückgang der Artenvielfalt zu verzeichnen.
? Welche Arten sind in Deutschland besonders betroffen?
! Bei den Insekten sind es zum Beispiel die Wildbienen – da ist die Hälfte der Arten auf der roten Liste. Bei den Tagfaltern ist es mehr als die Hälfte. Weniger betroffen sind die Libellen, da sind es vielleicht 20 oder 30 Prozent. Im Ganzen kommen wir in Deutschland bei den Insekten auf eine Gefährdung von 40 bis 50 Prozent der Arten.
Insektenprogramm der Bundesregierung
? Unternimmt Deutschland genug gegen das Artensterben?
! Deutschland ist momentan in Sachen Öffentlichkeitsarbeit sehr aktiv, bei der Umsetzung muss aber noch viel mehr getan werden, aber auch hier kommt allmählich Bewegung auf, wie z.B. durch das Insektenprogramm der Bundesregierung.
? Letzte Frage: Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland, das im Oktober 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehat und für die EU die Verhandlungen beim Weltbiodiversitätsgipfel in China führen wird, um eine neue Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt zu verabschieden?
! Deutschland hat durch die Ratspräsidentschaft die einmalige Chance zu zeigen, wie ein transformativer Wandel, den die Staatengemeinschaft durch Annahme unseres Abschlussdokumentes sich zum Ziel setzte, konkret angegangen werden kann. Werden neue Strategien verabschiedet, dann werden die erst glaubwürdig, wenn auch gezeigt wird, dass man neben der Entwicklung von Strategien auch willens und in der Lage ist, solche Strategien umzusetzen.
Das Interview führte
Bettina Schellong-Lammel
* Die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services ist eine UN-Organisation mit 132 Mitgliedsstaaten zur wissenschaftlichen Politikberatung, zur Erhaltung und zum nachhaltigem Nutzung von biologischer Vielfalt und Ökosystemdienstleistungen.
** Komplementarität ist ein Begriff der Erkenntnistheorie für zwei widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen, die in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhalts im Ganzen notwendig sind.
Bettina Schellong-Lammel
Ähnliche Beiträge
Neueste Beiträge
Drei Fotografen fotografieren ein Dorf
„70 Jahre Dorfleben in Bildern, 70 Jahre von drei Fotografen, ein Dorf“, so steht es im Klappentext. Es geht um Berka, ein Dorf in Thüringen, um den Müller Ludwig Schirmer, der als Amateurfotograf das Dorfleben in den 1950er- und 1960er-Jahren in Schwarz-Weiß-Fotos eingefangen hat und…
Der Osten bleibt anders
35 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben wir hitzige Diskussionen über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte, schreibt der Soziologe Professor Steffen Mau in seinem neuesten Buch „Ungleich vereint“, das im Juni 2024…