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Darf man so was drucken? Kaum erfunden, schon zensiert: die Geschichte der ersten Zeitung der Welt
Titelblatt der Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien aus dem Jahr 1609.
Bildung

Darf man so was drucken? Kaum erfunden, schon zensiert: die Geschichte der ersten Zeitung der Welt 

Von Martin Welke

Was für ein Geschenk! Viele Menschen sagen freiwillig, was sie wissen. Alle tragen ihr Wissen zusammen, daraus entsteht eine großartige, aktuelle Enzyklopädie – ist das nicht die berühmte Schwarmintelligenz reinsten Wassers? Leider nein. Das große Problem des Erfolgsmodells Wikipedia ist ausgerechnet seine Popularität.

Zeitungen – mit einem Gefühl von Ehrfurcht schreibe ich dieses Wort nieder. Zeitungen sind eines der großen Kulturmittel, durch die wir Europäer Europäer geworden sind, wert, dass sich noch jetzt Franzosen und Deutsche über die Ehre der Erfindung streiten.“ So tief verneigte sich 1805 der Göttinger Historiker und Publizist August Ludwig von Schlözer vor der Presse, freilich ohne zu ahnen, wie lange der Streit um die Herkunft der Zeitung noch währen sollte.

Denn so vergessen der Ort der Erfindung und der Name des Erfinders, so ungewiss war zu Schlözers Zeit der Tag, an dem erstmals eine gedruckte Zeitung erschien.

Erst 1876 entdeckte der Historiker Julius Otto Opel in Heidelbergs Universitätsbibliothek einen kompletten Jahrgang der Relation aller fürnemmen und gedenckwürdigen Historien (was in heutigem Deutsch etwa „Bericht von allen wichtigen und bemerkenswerten Vorfällen“ heißt) aus dem Jahr 1609.

Der Band beginnt mit einem Neujahrsgruß des Herausgebers an den „großgünstigen Leser“ – unterzeichnet von Johann Carolus in Straßburg. Der verspricht seinen treuen Lesern, er werde auch 1609 seine Zeitung „wie nun etlich Jahr beschehen […] continuiren“. Das ließ darauf schließen, dass Carolus’ Blatt schon seit einer geraumen Zeit existierte. Doch seit wann?

Schlüsseldokument für die Entstehung des Mediums

Licht ins Dunkel kam dann noch mal ein Jahrhundert später, als im Mai 1987 der Straßburger Historiker Jean-Pierre Kintz ein Schriftstück präsentierte, das seither als Schlüsseldokument für die Entstehung des Mediums gilt. Es ist eine (undatierte) Bittschrift ebenjenes Verlagsbuchhändlers Carolus. Darin ersucht er den Straßburger Magistrat um Schutz vor Nachdruckern seiner gerade gegründeten Zeitung. Carolus erklärt, dass er seine „wöchentlichen Avisen“, die er bisher handschriftlich vervielfältigen ließ, schon zwölfmal gedruckt habe. Er sei als Erster auf diese Idee gekommen und erhebe deshalb Anspruch auf Abwehr von Nachahmern.

Inzwischen gelang es, das genaue Datum der Bittschrift zu ermitteln – der 21. Dezember 1605 – und damit exakt zu bestimmen, dass die älteste Zeitung der Welt in der zweiten oder dritten Septemberwoche des Jahres 1605 erschienen ist. Im Übrigen wurde der erbetene Schutz vor Nachdruckern vom Magistrat, wie das Ratsprotokoll ausweist, „rundt abgeschlagen“; von einem Monopol für Carolus nämlich wollte man im liberalen Straßburg nichts wissen.

Straßburg war die Geburtsstadt der Zeitung

So hatte von Schlözer mit seiner Bemerkung von 1805, ohne es zu wissen, der Zeitung just zu ihrem 200. Geburtstag gehuldigt. Und der Streit der Deutschen und Franzosen um den Ursprungsort der Presse war mit Straßburg auch auf das Europäischste entschieden.

Doch wer war dieser Erfinder der Zeitung? Geboren am 26. März 1575 als Sohn eines Pfarrers in Mühlbach im elsässischen Münstertal, durchlief Johann Carolus einen kurzen, aber anspruchsvollen Bildungsweg. Anfangs besuchte er die Elementarschule, die von einem Pfarramtskandidaten geführt wurde und somit die Standards dieser Zeit übertraf. Später setzte er seine Ausbildung unter der Obhut seines Onkels fort, des Münsterdiakons in Straßburg.

Wohl aus Geldmangel schlug der glänzend gebildete junge Mann keine akademische Laufbahn ein, sondern erlernte das Handwerk eines Buchbinders. Die Angehörigen dieses Berufsstandes hatten in Straßburg das Recht, Handel mit den von ihnen gebundenen Büchern zu betreiben. So war die spätere Tätigkeit des Johann Carolus vorgezeichnet.

Im Juli 1599 erwirbt er das Straßburger Bürgerrecht durch die Heirat mit der drei Jahre älteren Stiftsköchin Anna Fröhlich. Das erlaubt ihm, ein Unternehmen zu gründen in den Mauern der freien, ob ihres liberalen Geistes gerühmten Stadt – die zudem ein Zentrum der Buchproduktion ist, erschien doch hier 1466 die erste gedruckte deutschsprachige Bibel.

Vom Pfarrerssohn zum Verleger

In seinen Anfängen als freier Unternehmer kann sich der junge Buchbindermeister indes weder auf nennenswertes Eigenkapital noch auf einen ererbten Betrieb stützen, sondern muss ganz auf die eigene Kraft, Bildung und Fantasie bauen. Dabei erweist sich seine Frau, mit der er eine lange und glückliche Ehe führt, als ideale Lebens- und Geschäftspartnerin.

Keine zwei Jahre nach der Heirat erwirbt das Paar ein Wohnhaus an der St.-Thomas-Kirche gegen eine bescheidene Anzahlung und zu einer relativ günstigen Verzinsung der verbleibenden Schuld. Im Kaufkontrakt firmiert Carolus nicht mehr als Buchbinder, sondern als „Buchführer“. Er ist also – in welchem Umfang auch immer – bereits im Sortimentsbuchhandel tätig und trägt sich offenbar zu dieser Zeit mit dem Gedanken, das Bücherbinden aufzugeben.

Obwohl mit der Tilgung der Restschulden aus dem Kauf des Hauses bereits stark belastet, riskiert Carolus im Juli 1604 die Investition seines Lebens: Er erwirbt gegen die horrende Summe von 3.724 Gulden Straßburgs größte und bedeutendste Verlagsdruckerei von den Erben des verstorbenen Thobias Jobin. Dafür erhält er drei Pressen, 34 Zentner Bleischriften, einen großen Vorrat an Druckpapier und ein riesiges Lager ungebundener Bücher.

Offenbar ist es Carolus gelungen, aus seinem Sortimentsbuchhandel so viel Gewinn zu ziehen, dass er die Anzahlung und die erste Rate – immerhin 800 Gulden – aufbringen kann. Die Restsumme von knapp 3.000 Gulden soll in 20 Halbjahresraten abgetragen werden. Es spricht für sein unternehmerisches Geschick, dass er niemals eine Rate schuldig bleibt und überdies noch sieben Gesellen und einem Faktor Brot geben kann.

Die erste Zeitung der Welt

Indes zwingen die Belastungen Carolus, nach zusätzlichen Erwerbsquellen zu suchen – und diese Suche führt direkt zur Erfindung der Zeitung. Seit dem Beginn des Jahres 1604 liefert er einem überschaubaren Kreis Interessierter – er selbst spricht von „ettlichen Herren“ – gegen ein „gewiss[es] Jahrgelt“ (immerhin zwölf Gulden) „wöchentliche Avisen“, also handschriftlich vervielfältigte Zeitungen, deren Vorlage er aus Augsburg bezieht.

Im Spätsommer 1605 kommt ihm eine geniale Geschäftsidee. Wenn die Neugier allen Menschen eingeboren ist, dann sollte doch die Zahl derer, die an Nachrichten aus aller Welt Interesse finden, ungleich größer sein als die der gebildeten und begüterten Bezieher seiner handgeschriebenen Berichte.

Für die breite Masse statt für „ettliche Herren“

Um dieses Publikum zu gewinnen, muss Carolus die Herstellung umstellen, gilt es doch, den Preis drastisch zu reduzieren. Ließ sich eine Kleinstauflage für „ettliche Herren“ in handschriftlichen Kopien rationeller als im Druck herstellen, so ist die angestrebte größere Leserschaft nur über die Presse zu erreichen. Dabei muss die Auflage hoch genug sein, um einen annehmbaren Preis zu ermöglichen. Gibt es aber schon ein hinlänglich großes zahlungsbereites Publikum?

Carolus startet einen zwölfwöchigen Probelauf. Der Erfolg lässt hoffen. Von nun an erscheint das Blatt mit – je nach Nachrichtenlage – vier bis sechs Seiten im kleinen Quartformat. Die Redaktion besteht im Wesentlichen aus ihm selbst, bei Abwesenheit übernimmt sein Faktor Wolfhart Spangenberg, ein gelehrter Theologe, der sich mit Gedichten und den damals so populären Tierfabeln einen Namen gemacht hat.

Der wöchentliche Zeitdruck ist groß. Das Blatt werde „bey der Nacht eylend gefertigt“, lässt Carolus seine Leser wissen und bittet gleich um Pardon für Druck- und andere Fehler. Denn mittwochs trifft der Postreiter mit den handgeschriebenen Nachrichten aus Augsburg und einer regelmäßigen Korrespondenz aus Köln ein, am folgenden Morgen aber schon muss die Post mit den gedruckten Zeitungen an die Bezieher abgehen. Trotz des Tempos wird alles sorgfältig redigiert und, soweit zu recherchieren, korrigiert.

Drei Jahre lang entwickelt sich die Zeitung so kräftig, wie erhofft. Doch dann kommt es zu einem Zusammenstoß mit der Obrigkeit – es ist der erste Zeitungszensurfall der Weltgeschichte.

Der erste Fall von Zensur

Er beginnt harmlos. Im Herbst 1609 berichtet die Straßburger Relation mehrere Wochen lang über das Auftreten einer türkischen Gesandtschaft am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Ziel dieser diplomatischen Mission ist es, einen 20-jährigen Waffenstillstand zwischen dem Osmanischen Reich und dem Kaiser abzuschließen. Während die Verhandlungen stocken und schließlich ergebnislos enden, entsetzt sich der Prager Korrespondent der Relation, offenkundig ein gebürtiger Augsburger, über das barbarische Verhalten der osmanischen Gesandtschaft, die zudem dem Kaiserhofe große Kosten verursache.

Die Mitglieder der Ambassade hätten „vil Muthwillen“ getrieben, „in den Kirchen das Weywasser verschütt und sonsten den Mönchen ihre Ceremonien verspott“. Allerdings seien diese Frevler „auf befehl des [osmanischen] Bottschafters gebrügelt worden“. Dieser Botschafter sei überhaupt ein großer Tyrann, denn er habe sich gerühmt, 300 ungarische Gefangene „dem Türckischen Kayser uberliffert“ und 30 davon eigenhändig „in gegenwart des Sultans […] ­gesebelt“ zu haben. So muss denn den Lesern der Relation der Wunsch des Kaiserhofes, diese Ambassade bald zu verabschieden, nur allzu verständlich erscheinen.

Nach den diplomatischen Gepflogenheiten der Zeit hat der gastgebende Hof die abziehenden Herren mit einem angemessenen „Zehrgeld“ auf die Rückreise zu schicken. Anfang November 1609 meldet der Prager Korrespondent, der Kaiser habe „gnädigst anbefohlen, das die Türckische Bottschafft mit 5000 Thaler auff die Reise sollen abgefertigt werden, weil man aber mit dem Gelt nit auff kommen kan, ist zubesorgen, es werde sich [die Gesandtschaft] ein zeitlang verweilen“.

Eigentlich nichts als eine simple Meldung, doch der Hinweis auf die finanziellen Probleme des Kaisers ist brisant – und erregt sofort das Missfallen des gelehrten Straßburger Ammeisters Peter Storck. Er bringt im Kreise der sogenannten Kammer der XVer, eines Untergremiums des Straßburger Rats, den Vorfall zur Sprache, schließlich sind die XVer auch für das Druckwesen zuständig.

Der Kaiser soll pleite sein? Unerhört!

Nur zwei Tage nach dem Erscheinen der Ausgabe wird der Vorgang behandelt und protokolliert. „Der H[err] Amm[eister]“, so lesen wir da, „zeigt an, das in den gedruckt[en] Zeittungen sich und[er] anderm befindt das der Kay[serlichen] Ma[jes]t[ä]t allerhand zu schimpff und verkleinerung gemeldet. Alß ob sie zu abfertigung der Türckisch[en] bottschafft nicht könten 5000 fl [= Gulden] auffbring[en] u[nd] dan[n] solche getruckte Zeittungen ins Reich hin und wider geschickt werd[en].“ Durch eine solche – wie man heute sagt – „unsachliche und unausgewogene Berichterstattung“ könne der Stadt Straßburg großer Schaden erwachsen. Deshalb lautet der Beschluss, der „buchtrucker“ sei zu ersuchen, „mit dem trucke biß uff weitern bescheid inzuhalt[en]“.

Verleger Johann Carolus ist in heller Aufregung

Wir erfahren hier, dass Carolus bis zu diesem Zeitpunkt keiner Vorzensur ausgesetzt ist. Das Protokoll bezeugt aber auch, dass man in der protestantischen Reichsstadt Straßburg nicht bereit ist, gedruckte Respektlosigkeiten gegen den Kaiser zu tolerieren, auch wenn dieser einer anderen Konfession angehört. Der Straßburger Mentalität entsprechend, wahrt man auch in diesem Falle die Verhältnismäßigkeit der Mittel: Es wird kein endgültiges Verbot ausgesprochen, sondern lediglich ein Einhalten „biß uff weitern bescheid“ verfügt.

Carolus, so dürfen wir annehmen, ist in heller Aufregung. Ein Verbot könnte ihn finanziell ruinieren. Bereits fünf Tage später, am 23. November, hält das Protokoll der XVer fest, der Zeitungsmacher habe sich reuig und kooperativ gezeigt. Es „sey Ime leid, soll hinn fort dergleichen nit mehr geschehen, bitt umb verzeihung mit dem erbietten dß ers mit fleiß ins künfftigmal under lassen auch in zweiveligen fällen bei truckerh[erren] frag[en] und dß Ime wid[er] erlaubt werde die Zeittung zu drucken“.

Hier wird noch einmal bestätigt, dass Carolus bei der Redaktion keine Zensur erfährt, sondern sich selbst zu beaufsichtigen hat und dabei gehalten ist, „ungelegenheiten“ zu vermeiden. Er sagt also nichts anderes zu, als sich selbst in Zukunft sorgfältiger zu zensieren und sich in Zweifelsfällen durch Rückfragen bei der Obrigkeit, den „Truckerherren“, abzusichern. Zu seiner Entschuldigung verweist Carolus, wie später viele von der Zensur bedrängte Zeitungsherausgeber, auf seine Vorlage, die wohl aus Augsburg bezogene handschriftliche Zeitung.

Ganz offen gibt er auch zu bedenken, dass ein dauerhaftes Verbot der Relation ihn in größte Existenznot brächte. Er habe mit der Druckerei „einen schweren Kauff gethan“ und sei „ein arm gesell, dem grösster schaden darauß entstehen möchte“. Das Verbot hätte ihn in der Tat um die gesamten Abonnementsgebühren („Jahrgelder“) des zu Ende gehenden Jahres gebracht. Somit wäre er außerstande gewesen, seine Kredite zu bedienen. Dies berücksichtigend, heben die XVer das Verbot sofort auf. Erleichtert liefert Carolus die festgehaltene Ausgabe seinen Lesern nach.

Zensur und Selbstzensur greifen ineinander

Geschickt vermeidet er es allerdings, in der Relation eine Korrektur der beanstandeten Meldung zu bringen. Stattdessen macht er sein „Vergehen“ auf diskretere Art wieder gut. Hat der Wolfenbütteler Aviso, der aus derselben Quelle – jenem handgeschriebenen Augsburger Wochenblatt – schöpft, die Aufwendungen der kaiserlichen Regierung für die türkische Gesandtschaft auf insgesamt 50.000 Taler beziffert, so erhöht Carolus in der vorletzten Ausgabe des Jahres diese Summe beträchtlich: „Den 6. Diß[es Monats Dezember] sind die Türcken von hinnen mit 200 Pferd Begleidt worden, die haben die zeit hero ihre May[estät] Bey 80.000 thaler gekostet.“

Der Vorgang zeigt aufs Schönste, wie schon gleich zu Beginn, in den allerersten Jahren der Zeitung überhaupt, Zensur und Selbstzensur ineinandergriffen. Auch dies gehört zur Geschichte eines der „großen Kulturmittel, durch die wir Europäer Europäer geworden sind“, von Anfang an dazu.

Für Carolus sollte es der einzige ernste Zensurkonflikt bleiben. Zum Ammeister Peter Storck entwickelte er später ein freundschaftliches Verhältnis, schrieb für dessen Begräbnis sogar die Leichenpredigt. Und die Relation florierte. Johann Carolus, von dem uns leider kein Bildnis überliefert ist, brachte es in seinen letzten vier Lebensjahren bis zum Ratsherrn. Als er am 15. August 1634 in Straßburg als durchaus wohlhabender Mann starb, übernahm sein Sohn Moritz die Relation, die noch bis 1667 nachweisbar ist. Carolus’ Erfindung setzte ihren Siegeszug fort, und in welcher Form sie auch immer weiterleben wird, analog oder digital, ohne sie ist diese Welt nicht mehr vorstellbar.

 

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