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Antisemitismus geht durch alle Gesellschaftsschichten
Arye Sharuz Shalicar im Berliner Stadtteil Wedding, wo er seine Jugend verbrachte - Foto: © Bernd Lammel für NITRO
Bildung

Antisemitismus geht durch alle Gesellschaftsschichten 

Arye Sharuz Shalicar ist iranischer Jude, wuchs in Berlin auf und gehörte in seiner Jugend der Graffiti-Szene im Stadtteil Wedding an. Nach dem Abitur 1997 legte er eine beeindruckende Karriere hin. Er studierte Politologie, wanderte nach Israel aus und wurde Pressesprecher der israelischen Armee. Shalicar hat es aus einem Berliner Problembezirk zum Direktor und Berater im Büro des israelischen Ministerpräsidenten geschafft. In seinem Buch „Der neu-deutsche Antisemit“ sieht er ein reales Gefahrenpotenzial des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft, und er spart nicht mit Kritik an einigen Medien, denen er undifferenzierte Berichterstattung vorwirft.

? Ihr Buch trägt den provokanten Titel „Der neu-deutsche Antisemit“, und es hat unter Journalisten in Deutschland viele, teils heftige Diskussionen ausgelöst. Was war der Anlass, ein solches Buch zu schreiben?

Es gab mehrere Anlässe. Ich wollte schon mit meinem ersten Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ eine Art Schlussstrich ziehen unter vieles, was ich in meiner Jugend in Berlin erlebt habe. Ich hatte Frust im Bauch und im Kopf, den ich lange mit mir herumgeschleppt habe. Ich wollte mit der Vergangenheit aufräumen, mit dem Antisemitismus und mit allem, was mich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland geschmerzt hat. Der Antisemitismus ist heute wieder im deutschen Alltag angekommen. Das schmerzt mich besonders, und ich wollte es thematisieren.

„Juden ins Gas!“ war für mich eine Grenzüberschreitung

? Können Sie ein Beispiel nennen?

! Natürlich. Ich möchte drei zentralen Vorfälle beschreiben. Am Brandenburger Tor gab es 2015 eine Demonstration – hauptsächlich von Palästinensern – und dort wurden Israelflaggen verbrannt, und die Demonstranten riefen: „Juden ins Gas!“ Es war für mich eine Grenzüberschreitung, dass so etwas in Deutschland wieder möglich ist. Am 17. April 2018 kam es im Stadtteil Berlin-Prenzlauer Berg zu einem Vorfall, bei dem ein syrischer Einwanderer mehrfach völlig unvermittelt mit einem Gürtel auf einen Israeli eingeschlagen hat. Den identifizierte er offenbar wegen seiner Kippa als Jude, denn er rief beim Zuschlagen „Yahudi! Yahudi!“ (Arabisch für „Jude!“, Anm. d. Red.). Dieses Ereignis hat mich an meine Kindheit und Jugend in Berlin-Wedding erinnert, wo ich auch extrem angefeindet wurde, wenn ich mich als Jude zu erkennen gab. Ich hatte ein Déjà-vu. Das dritte Beispiel ist ein Ereignis aus dem Jahr 2018 und ist das traurigste Vorkommnis dieser Art. An der Berliner Paul-Simmel-Schule in Tempelhof drohte ein muslimischer Mitschüler einem jüdischen Mädchen der 4. Klasse mit dem Tod, weil sie nicht an Allah glaube. Schon zuvor soll es zu Anfeindungen gekommen sein. Antisemitismus in einer deutschen Grundschule. Aber der Schulleiter hat den Vorfall als Einzelfall bezeichnet und verharmlost. Einige Tage später räumte er ein, er hätte die Geschehnisse falsch dargestellt, und sprach von weiteren Vorkommnissen dieser Art, wo Kinder auf dem Schulhof mit den Worten: „Du Jude!“ bedrängt wurden. Er nannte das Verhalten zwar menschenverachtend, aber es zeigt doch, dass der Antisemitismus in Deutschland wieder im Alltag angekommen ist. Ich habe diese Entwicklung schon Ende der 1990er Jahre beobachtet, und sie waren der Grund, warum ich Deutschland im Jahr 2001 verlassen habe.

Als Jude bin ich natürlich in erster Linie Israel zugeneigt

? Sie haben die Entwicklung in Deutschland von Israel aus weiter beobachtet und dann in einem Buch verarbeitet?

! Ich habe mich immer über die Ereignisse in Deutschland informiert, aber der Vorfall an der Paul-Simmel-Schule in Tempelhof hat mich deshalb so erschüttert, weil es Kinder sind, die Kindern so etwas antun. Ich führte mir vor Augen, es hätten meine Kinder sein können, wäre ich in Deutschland geblieben. Ich spreche hier aber nicht nur von Antisemitismus, der von vielen Muslimen ausgeht. Meiner Ansicht nach sitzt er auch bei anderen Menschen in Deutschland tief und ist nicht verarbeitet worden. Sie können ihn bei Muslimen und Christen bei Rechten und Linken, bei Zuwanderern, AfD-Politikern und -Anhängern antreffen, er geht durch alle Gesellschaftsschichten.

? Sie haben iranische Wurzeln, sind als Jude in Deutschland aufgewachsen und später nach Israel ausgewandert. Wie muss man sich Ihre Jugend in einem solchen biografischen Spannungsfeld in Deutschland vorstellen?

In meiner Jugend kannte ich mich in der Politik nicht aus. Ich hatte damals wenig Bildung, weil ich als Jugendlicher wenig gelesen habe, sondern ständig auf der Straße unterwegs war. Ich kannte mich nicht in der Welt, aber sehr gut in meinem Weddinger Kiez aus. Da gab es Gangs und Streit und Konflikte, und ich war als Jude mittendrin. Es zählte des Recht des Stärkeren, deshalb war dieses Spannungsfeld für mich damals normal. Heute bin ich mir meiner „bemerkenswerten Biografie“ und meiner drei Identitäten natürlich bewusst.

? Welchem der drei Länder fühlen Sie sich heute verbunden? Ist es Deutschland, Israel oder der Iran?

Als Jude bin ich natürlich in erster Linie Israel zugeneigt. Die Vergangenheit Deutschlands gegenüber den Juden ist eine Sache, die ich nicht ausblenden kann, und als Iraner bin ich damit konfrontiert, dass der Iran Israel „ausradieren“ möchte. Das ist eine heftige Situation, die die Allerwenigsten nachvollziehen können.

Auf Lesereise in vielen Oberschulen und Gymnasien in Deutschland

? Im Buch der „Der neu-deutsche Antisemit“ schreiben Sie, dass Antisemitismus und Judenfeindlichkeit heute in Deutschland wieder etwas „Selbstverständliches“ seien. Definieren Sie damit bestimmte gesellschaftliche Gruppen, oder sind Antisemitismus und Judenfeindlichkeit latent in der gesamten Gesellschaft zu finden?

Latent und in allen Gesellschaftsschichten. Nicht nur bei älteren Menschen, die den Nationalsozialismus miterlebt oder von den Eltern davon erfahren haben. Auch viele junge Menschen finden nichts dabei, „Jude“ als Schimpfwort zu verwenden. Ich bin mit meinem Buch in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland auf Lesereise gewesen und wurde von vielen Oberschulen und Gymnasien eingeladen.

Wenn ich vor den Schülern stehe, sieht man mir nicht an, dass ich Jude oder Israeli bin – viele halten mich für einen Moslem. Eine der ersten Fragen, die ich immer stelle: „Habt ihr in letzter Zeit Judenwitze gehört?“ Und immer kommt als Antwort: „Na klar.“ Und: „Jude als Schimpfwort – schon mal gehört?“ „Na klar.“ Kennt ihr auch Witze über Muslime und Christen oder über Buddhisten?“ „Nee, dass macht keinen Sinn.“ Gut, sage ich, und gebe mich als Jude zu erkennen. Dann werden die Schüler oft blass und sind sprachlos. In Köln sagte mir ein Gymnasiast, ich sei der erste Jude, den er in seinem Leben getroffen habe. Der erste Jude, und da frage ich mich natürlich: Ein Jugendlicher von 17 Jahren kennt Judenwitze, und Jude als Schimpfwort ist ihm geläufig, obwohl er noch nie einen Juden getroffen hat? Fazit: Der Antisemitismus scheint in Deutschland Alltag zu sein.

Ein besonderes Problem ist der israelbezogene Antisemitismus

? Meinen Sie, es ist eine Frage von Bildung oder liegt es an mangelnde Gelegenheiten, jüdischen Menschen zu begegnen?

! Sowohl als auch und viel mehr als das. Es gibt natürlich den klassischen Antisemitismus, es gibt aber auch den religiös bezogenen Antisemitismus, der unter Muslimen verbreitet ist. Es gibt Nazis und Rechte, die die Juden immer noch als Ungeziefer oder Untermenschen bezeichnen, und es gibt den Antisemitismus unter Linksradikalen. Ein besonderes Problem ist inzwischen der israelbezogene Antisemitismus. Das heißt, wenn früher – vor der Staatsgründung Israels – der Jude als Individuum das Problem war, ist inzwischen das Kollektiv der Juden der Hauptfeind vieler Antisemiten, die statt „Scheiß Jude!“ auch gern „Scheiß Israel!“ brüllen.

?  Auf dem Gemeindetag Mitte Dezember 2019 hat Bundespräsident Steinmeier den Antisemitismus als Angriff auf die gesamte deutsche Gesellschaft verurteilt. Er sagte in Bezug auf den Anschlag auf die Synagoge in Halle: „Wenn Jüdinnen und Juden in dieser Weise angegriffen werden, dann ist diese Republik in ihrem Herzen angegriffen.“ Meinen Sie, dass der Bundespräsident mit einem solchen Appell, der in allen Zeitungen, im Fernsehen und in Internetforen veröffentlicht wurde, Antisemiten oder Judenhasser erreicht?

!  Nein. Vor allem reicht es nicht, Ansprachen zu halten. Wenn Deutschland nicht mehr gegen rechtes Gedankengut, gegen Neonazis und muslimischen Antisemitismus tut, sind es lediglichLippenbekenntnisse.

Ich habe ein Problem mit Terror und Terroristen

?  In einem Ihrer zahlreichen Interviews zu Ihrem Buch sagten Sie: „Es gibt Journalisten, die wollen gar nicht differenziert über das Thema Israel berichten.“ Betrifft das in ersten Linie Korrespondenten, die aus Israel berichten? Oder kritisieren Sie auch Journalisten, die aus Deutschland über Israel berichten?

Sowohl als auch.

? Worauf führen Sie das zurück?

Es ist eine Geschichte der 1968er-Generation. Mit der 1968er-Revolution wurde das alte System auf den Kopf gestellt – mehr und mehr Linksintellektuelle übernahmen die Wortführerschaft. Im Grunde ist das eine Sache, die ich wirklich gut finde, denn Antifaschisten haben meine volle Sympathie. Allerdings begannen die 1968er, sich zunehmend mit der PLO zu solidarisieren und für die Rechte der Palästinenser einzutreten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe kein Problem damit, den Palästinensern Rechte einzuräumen, aber ich habe ein Problem mit Terror und Terroristen. Vor allem aber habe ich ein Problem mit einseitiger Berichterstattung.

?  Welche Medien meinen Sie?

!. Da die 1968er-Generation seit mehr als 20 Jahren in vielen Medien in führenden Positionen sitzt, geben sie den Ton an – vom Spiegelüber die SüddeutscheZeitung, ARD, ZDFund DPA. Bei der Berichterstattung über Israel werden Aktion und Reaktion, Täter und Opfer leider oft verdreht – entweder, weil man es nicht versteht, oder weil Sachverhalte bewusst ignoriert werden.

Es fehlt nicht an Qualitätsmedien, die differenziert berichten

?: Gibt es auch Medien die differenzierter berichten?

Absolut – ZEIT, zeitonline, NZZ, Welt, Jüdische Allgemeine. Es fehlt also nicht an Qualitätsmedien, die differenziert berichten. Leider hat sich der Spiegel mit einem Beitrag über zwei „jüdische Lobby-Organisationen“ im letzten Jahr als sehr undifferenziert und antijüdisch entlarvt. An dem Beitrag waren sechs Spiegel-Redakteure beteiligt, und nachdem es massive Kritik von vielen Seiten gegeben hatte, sah sich die Chefredaktion am 15. Juli 2019 zu einer Stellungnahme veranlasst. Darin wies sie alle Vorwürfe als „unbegründet“ und„nicht nachvollziehbar“ zurück. Aber ich bleibe dabei: Der Beitrag war undifferenziert und dazu geeignet, Hetze und Hass gegen Juden in Deutschland zu unterstützen.

?  Glauben Sie, dass Juden in Deutschland sicher sind?

Der Überfall auf die Synagoge in Halle war nicht der erste und nicht der letzte antisemitische Überfall, und er hat nichts verändert. Die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland geht zur Tagesordnung über. Im Bundestag sitzt eine demokratisch gewählte Partei, die AfD, deren Fraktionsvorsitzender auf einer Veranstaltung sagte: „Der Nationalsozialismus ist ein Vogelschiss in der Geschichte der Deutschen.“ Dieser Mann ist demokratisch gewählt, ins höchste deutsche Parlament. Erinnern wir uns an 1933 – Hitlers NDSAP wurde auch demokratisch gewählt, und wir wissen, wohin das geführt hat.

Im Herbst 2020 kommt der Film „Nasser Hund“ in die Kinos

?  Stimmt es, dass Warner Brothers im vergangenen Jahr einen Kinofilm produziert hat, in dem es um Ihre Biografie geht?

Ja, das ist richtig. In meinem ersten Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ geht es um meine Jugenderlebnisse als Jude unter Muslimen in Berlin, um die Nachkriegszeit in Deutschland und um Hardcore-Antisemitismus der Zugewanderten. Die Produktionsfirma Carte Blanche International und Warner Brothers haben daraus einen Filmstoff gemacht, denn sie haben verstanden, dass meine Mikrogeschichte keine Geschichte aus Berlin-Wedding ist, sondern eine globale Geschichte. Es geht um Minderheiten, um Problembezirke, um Kriminalität, um Einwanderung, Integration, Assimilation, Hass und Liebe, Freunde, Feindschaft, um Angst und natürlich um Antisemitismus – die Geschichte könnte also überall auf der Welt spielen. Ich und meine Freunde aus dem damaligen Wedding werden von jungen Berliner Türken, Arabern, Afghanen und Iranern gespielt. Die leben alle in Problembezirken, sind nicht Teil der Gesellschaft, haben keine Wurzeln und keine Zukunftsvisionen. Diese jungen Männer sind Teil eines Projekts, in dem es um einen Juden geht. Stellen Sie sich das mal vor. Ein muslimischer Türke spielt mich, einen Juden! Ein libanesischer Moslem spielt meinen jüdischen Vater, und das alles ist an Originalschauplätzen in Berlin-Wedding gedreht. Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen auf den Film, der im Herbst 2020 mit dem Titel „Nasser Hund“ in die Kinos kommt – Regie führt Damir Lukacevic.Vor allem hoffe ich, dass der Film in Deutschland ein positives Echo bekommen wird.

Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel

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