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KRIEG UND FRIEDEN
So oder so ist das Leben
Foto: © Bernd Lammel für NITRO
30 Jahre Mauerfall

So oder so ist das Leben 

Katrin Sass ist eine herausragende Schauspielerin, die sich nicht nur eine eigene Meinung erlaubt – sie besitzt auch die Stirn, sie auszusprechen. Katrin Sass ist charismatisch und natürlich, vor allem aber ist sie unverwechselbar. 1982 gewann sie, mit gerade einmal 25 Jahren, bei der Berlinale den Silbernen Bären. Danach wurde sie vom DDR-Regime erst einmal „kaltgestellt“, denn der Preis kam nicht aus Moskau, sondern vom Klassenfeind. Nach der Wende schaffte sie mit „Good Bye, Lenin!“ einen Welterfolg und bezeichnet den Film heute noch als ihren Türöffner. Die gebürtige Schwerinerin kann aber nicht nur Film, sie kann auch Gesang. In ihren Liederabenden thematisiert sie die DDR und was vom euphorischen Aufbruch seit dem Fall der Mauer übriggeblieben ist. Mit NITRO sprach Katrin Sass darüber, warum sie in der DDR kein Star sein durfte, über ihre Filme und Auszeichnungen vor und nach der Wende und über ihren recht unspektakulären 9. November 1989.

 

? Sie waren und sind eine der gefragtesten Charakterdarstellerinnen Deutschlands. „Bis dass der Tod euch scheidet“ war Ihr Debütfilm 1978 in der DDR (unter der Regie von Heiner Carow, Anm. d. Red.). Es folgten unzählige Fernseh- und Kinoproduktionen vor und nach der Wiedervereinigung. Erinnern Sie sich, welches Engagement Sie im November 1989 hatten oder wo Sie gedreht haben?

! Ich hatte im November 1989 weder ein Engagement noch war ich bei Dreharbeiten. Ich stand am 9. November in Babelsberg bei meinem damaligen Mann in der Küche und habe abgewaschen. Als Schabowski den Satz sagte, dass die DDR-Bürger ab sofort reisen können, bin ich zu meinem Mann ins Wohnzimmer gegangen, der gerade über einem neuen Drehbuch saß, und sagte: „Schabowski hat gerade im Fernsehen gesagt, dass man jetzt reisen kann.“ Er antwortete: „Nee, nicht alle, da hat er sicher die mit Antrag gemeint.“ Ich antwortete: „Aha. Schade“.

? Der 9. November 1989 war für Sie also eher unspektakulär. Ihre Karriere war es absolut nicht. Sie haben für den Film „Bürgschaft für ein Jahr“ auf der Berlinale 1982 den Silbernen Bären als beste Darstellerin erhalten. Für die meisten Schauspielerinnen wäre eine solche Auszeichnung der internationale Durchbruch gewesen. Sie sollen in einem Interview sinngemäß gesagt haben: „Die DDR war ein Staat, der keine Stars duldete.“ Hat diese großartige Auszeichnung Ihrer Karriere in der DDR mehr geschadet als genutzt?

! Dass die DDR Stars nicht geduldet hat, stimmt nicht ganz. Das Wort „Star“ durfte gar nicht erwähnt werden. Mitte der 1980er-Jahre sprach mich ein Journalist auf der Bühne an und sagte: „Sie sind in der DDR jetzt ein Star.“ Bevor ich antworten konnte, nahm mir der Chefdramaturg das Mikro aus der Hand – er hatte wohl Angst, dass ich etwas Falsches sage – und antwortete an meiner Stelle: „In der DDR gibt es keine Stars. Bei uns sind alle Künstler gleich.“

Gagenerhöhung von 150 Mark und zwei Jahre nicht mehr besetzt

? Es waren nicht alle „gleich“. Sie hatten einen Silbernen Bären gewonnen, eine wirklich renommierte internationale Auszeichnung!

! Die DDR hatte wohl Angst, dass ich „abhebe“. Doch da hatten die mich völlig falsch eingeschätzt, ich wäre nie abgehoben. Ich war 25 Jahre alt und konnte es gar nicht fassen, dass ich diesen Preis ­neben Michel Piccoli erhalten habe (Michel Piccoli erhielt den Silbernen Bären für die beste männliche Hauptrolle im Film „Eine merkwürdige Karriere“, Anm. d. Red.).

? Sie konnten Ihr Glück nicht fassen … 

! Es war einfach zu viel für mich! Ich bekam 40 Grad Fieber und wusste nicht, ob ich das nur träume. Nach der Preisverleihung bin ich mit dem Bären voller Stolz zurückgegangen in mein Land. Der Termin beim Filmminister war ernüchternd: Er schlug mir auf die Schulter und sagte: „Aber jetzt schön auf dem Teppich bleiben.“

? Das war alles?

! Nein, nein. Ich erhielt eine kleine Gagenerhöhung von 150 Mark und dann wurde ich zwei Jahre nicht mehr besetzt, bekam keine Rollen mehr. Das war in der DDR kein finanzielles Problem, denn wir waren ja am Theater alle fest engagiert. Aber der Film war für mich ganz wichtig, und auf einmal kam nichts mehr. Nach dem Silbernen Bären bekam ich keine Angebote und wurde tatsächlich nicht mehr besetzt.

Ich erhielt den Preis beim Klassenfeind und nicht in Moskau

? Wie wurde das begründet?

! Gar nicht. Es gab Gerüchte, dass ich schwanger sei. Aber auch nach neun Monaten meldete sich niemand. Dann erfuhr ich, es ginge das Gerücht, ich wolle in den Westen. Das haben die sehr subtil gemacht, denn sagen konnten die mir ja nicht, dass sie erst warten wollten, bis ich am Boden liege. Und als ich am Boden lag, konnte es langsam wieder losgehen.

? Die DDR hätte doch stolz darauf sein können, dass eine Schauspielerin aus ihrem Land den Silbernen Bären gewonnen hatte … 

! Ich hatte den Preis aber beim Klassenfeind erhalten und nicht in Moskau – das war der Unterschied. Wäre es ein Filmpreis aus Moskau gewesen, hätte ich mich danach vor Angeboten nicht retten können und wahrscheinlich drei DEFA-Filme auf einmal gemacht. Aber beim Klassenfeind, da musste ich auf Eis gelegt werden.

? Wann wurden Sie wieder in Filmen besetzt?

! Es ging zwei Jahre nach diesem Tief wieder los, von heute auf morgen. Ich bekam Angebote, machte einen Kinofilm nach dem anderen und drehte von 1984 bis 1988 fünf DEFA-Filme (Ab heute erwachsen (1984) Meine Frau Inge und meine Frau Schmidt (1984), Das Haus am Fluss (1985), Der Traum vom Elch (1986), Fallada – letztes Kapitel (1988); Anm. d. Red.). Sie haben es geschickt gemacht, sodass ich es nicht wirklich nachvollziehen konnte.

Matti Geschonneck hielt eine ganz liebenswerte Rede

? Nach dem Motto Daumen hoch, Daumen runter.

! Ganz genau.

? Das war sicher sehr deprimierend. Wie haben Sie die Zeit überstanden?

! Es war deprimierend, aber irgendwie dachte ich, geht das Leben weiter. Bei mir funktioniert das auf eine merkwürdige Weise. Und als ich später das Leben mit dem Freund Alkohol beendet hatte, passierte in meinem Leben wieder unglaublich viel Positives – beruflich und privat, sodass ich manchmal dachte: So viele Zufälle kann es im Leben nicht geben.

? Wenn Sie auf die vergangenen 30 Jahre zurückblicken – wie war Ihr Start ins Film-Business nach dem Mauerfall?

! Der Regisseur Matti Geschonneck hat mir das erste Angebot im Berliner „Tatort“ gemacht – es waren zwei Drehtage. Günter Lamprecht war der „Tatort“-Kommissar. Meine Rolle: Ich musste eine Tür aufmachen und sagen: „Nee, weiß ich nicht, ich bin die Putzfrau“. Als ich das Angebot bekam, sagte ich mir: Da gehst du nicht hin! Die werden sagen: Guck mal, da kommt die Kleindarstellerin. Aber dann sagte ich mir: Vielleicht musst du das jetzt einfach machen, und habe zugesagt.

? Am Set hat Sie sicher niemand für eine Kleindarstellerin gehalten …

! Nein. Matti Geschonneck hat gleich zu Beginn eine ganz, ganz liebenswerte Rede gehalten, dass er mich schon lange kennt und was ich alles in der DDR gespielt habe. Als das Team klatschte, war ich sehr erleichtert. Ich hatte zwei Drehtage, und im nächsten Tatort hat mich Geschonneck mit sechs Drehtagen besetzt. Da ging es nach Fuerteventura. Das war schon toll.

„Good Bye, Lenin!“ war der Türöffner

? Dann ging es aber für Sie steil nach oben.1999 spielten Sie in „Sperling und der brennende Arm“ eine Gastwirtin und erhielten dafür den Deutschen Fernsehpreis für die beste Nebenrolle. Außerdem spielten Sie in „Heidi M.“ eine Frau, die sich nach der Trennung eine neue Lebenschance erarbeiten muss. Dafür wurden Sie mit dem Deutschen Filmpreis und dem Deutschen Filmkritikerpreis als beste Darstellerin ausgezeichnet. 

! Ich war ja tatsächlich durch meine private Situation mit dem Alkohol ganz unten. Der erste Film, der mich zurückgebracht und an die DEFA erinnert hat, war „Heidi M.“

? 2003 spielten Sie neben Daniel Brühl in  „Good Bye, Lenin!“ und wurden einem internationalen Publikum bekannt.

! Tatsächlich hat mich der Regisseur Wolfgang Becker in „Heidi M.“ gesehen und gesagt: „Die hole ich mir zum Casting für ‚Good Bye, Lenin!‘“…

? Sie haben sofort ja gesagt, nachdem Sie das Drehbuch gelesen hatten?

! Nach den Vorgesprächen dachte ich, es sei eine tragende Rolle, dabei war es eine liegende, denn ich lag über weite Strecken des Films im Bett.

? „Good Bye, Lenin!“ war für Sie aber schon der große Durchbruch?

! Es war der Türöffner und ist es bis heute.

? Der Film wurde mit Preisen überschüttet, erhielt den Europäischen Filmpreis in gleich sechs Kategorien. 

! Nach „Good Bye, Lenin!“ erhielt ich viele Angebote, denn der Film lief ja nicht nur in Deutschland, er ist in 180 Ländern gelaufen. Da denkst du: Das gibt’s doch gar nicht. Was können denn die Menschen in China mit dem Thema anfangen? Vieles, was nach „Good Bye, Lenin“ passierte, war irgendwie unfassbar.

Programm in der Berliner „Bar jeder Vernunft“

? Kommen wir zum Gesang. Die meisten Menschen kennen Sie als Schauspielerin – wann haben Sie Ihre Leidenschaft fürs Singen entdeckt?

! In der ARD-Serie „Weißensee“. In meiner Rolle als Dunja Hausmann habe ich gesungen und wurde danach immer wieder darauf angesprochen.

? In diesem Sommer haben Sie in der Berliner „Bar jeder Vernunft“ mit dem Programm „So oder so ist das Leben“ gastiert. Im Programm und Ihren Liedern geht es um 30 Jahre Mauerfall. Innerhalb von Stunden waren die Karten für alle Veranstaltungen ausverkauft. Wie erklären Sie sich dieses riesige Interesse an dem Thema?

! Ich kann nicht erklären, warum das Interesse so groß ist, auch bei den Medien ist es ja auf großes Interesse gestoßen. Vielleicht liegt es einfach am Jubiläum?

? Es liegt ganz sicher auch an Katrin Sass. Werden Sie mit dem Programm in weiteren Städten gastieren?

! Es gab Anfragen, und es sind weitere Veranstaltungen geplant, aber ich kann noch nicht sagen, wo genau die stattfinden werden.

Eine Rolle in der Netflix-Serie „Dogs of Berlin“

? Sie haben nicht nur Fernseh- und Kinofilme gedreht, Sie sind auch in der Netflix-Serie „Dogs of Berlin“ zu sehen. Dort spielen Sie die Mutter eines Rechtsradikalen. Wie sehen Sie die Entwicklung in Deutschland 30 Jahre nach der Wende, was den Rassismus betrifft? 

! Ich finde es erschreckend! Ich bin nicht von Angst besetzt, aber bei dieser Entwicklung kann einem schon mulmig werden. Wenn ich Menschen sagen höre: „Man hat uns unsere Identität genommen“, dann frage ich mich: Wie kann man jemandem seine Identität nehmen? Ich bin noch genauso hier wie immer, und meine Identität hat sich nicht verändert.

? Die Netflix-Serie „Dogs of Berlin“ war sehr erfolgreich. Was unterscheidet die Arbeit für Netflix von Fernsehproduktionen im Öffentlich-Rechtlichen beispielsweise? 

! Es war unpersönlicher.

? Unpersönlich, aber auch professionell?

! Klar, aber ich habe oft nicht gewusst, wer gehört hier eigentlich dazu? Da waren 180 Leute am Set, wo ich sonst 40 sehe. Es ging gerade noch ein „Guten Morgen!“ und dann wurde hintereinander gedreht, und ich dachte: Das ist also Hollywood? Christian Alvart ist ein wahnsinnig effektiver Regisseur und ich war total überrascht, was der alles gleichzeitig macht. Manchmal fragte ich mich: Wann fällt der um? Der muss doch jeden Moment umfallen bei dem Arbeitspensum. Der Mann ist unglaublich. Unersättlich! Er ist in der Endproduktion einer Serie und dreht schon die nächste, und zwischendurch geht er zu einer Premiere. Mir drehte es sich, wenn ich ihn bei der Arbeit sah.

? Geht es weiter mit „Dogs of Berlin“? 

! Damit geht es erst mal gar nicht weiter, und das finde ich schon sehr schade.

? Mit Katrin Sass geht es aber weiter, denn Sie sind sehr gefragt. Welche Filme sind geplant?

! Im Oktober geht es weiter mit den Usedom-Krimis – ich drehe bis März. Ab und zu lese ich aus meinem Buch „Das Glück wird niemals alt“ – das mache ich sehr gern. Ich hatte auch ein Filmangebot für einen Kinofilm, der mich sehr interessiert hätte. Aber da steht die Finanzierung noch nicht, und ich lasse mich überraschen, ob es noch klappt. Ansonsten nehme ich es, wie es kommt, oder wie mein Programm heißt: „So oder so ist das Leben“.

Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel

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