Noch immer gehört die Tageszeitung zur informatorischen Grundausstattung der Demokratie. Noch immer lesen zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung eine Zeitung. Das sind mehr Leser als die Fernsehnachrichten Zuschauer haben. Einerseits. Andererseits rutschen die Tageszeitungen, vor allem die regionalen Blätter, immer tiefer in die Krise.
So steht es auf dem Klappentext des Buches „Brauchen wir Zeitungen?“ des renommierten Medienwissenschaftlers und Zeitungsforschers Prof. Dr. Michael Haller. NITRO sprach mit ihm über die Krise in der Zeitungsbranche und wie man junge Leser für Printmedien gewinnen kann.
? Sie fragen in Ihrem neuen Buch, ob wir noch Zeitungen brauchen und stellen zehn Thesen dafür und dagegen auf. Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
! Es gab dafür drei Gründe.
Grund 1: Ich habe mich zunehmend geärgert über die vielen Journalisten, die die Krise der Zeitungsbranche eigentlich nur nutzen, um ihre persönlichen Vorlieben und Eitelkeiten in wohlklingende Worte und Sätze zu fassen. Wenn ich daran denke, was diese sogenannten Edelfedern im vorigen Jahr mit missionarischem Eifer alles von sich gegeben haben, packt mich das Entsetzen. Plötzlich wollen alle Geschichten erzählen, und keiner will mehr recherchieren und informieren. Der Medienwissenschaftler in mir sagt dann: Wenn ihr euch weiter hineinsteigert in eure persönlichen Vorlieben und diese als allgemeingültige Rezepte verkündet, dann wird es den Zeitungen immer schlechter gehen und nicht besser.
Grund 2: Ich bin seit rund acht Jahren in einer Reihe von Zeitungshäusern unterwegs, die das Problem erkannt haben und sagen: Wir müssen was tun, aber wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, wir brauchen eine Außenperspektive. Herr Haller, können Sie uns die bieten? Ich habe es versucht mit meinen Erfahrungen, die ich als Leiter des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig sammeln konnte.
Grund 3: Viele Verlage haben ihr Kerngeschäft, die journalistischen Medien, aus den Augen verloren. In diesen Häusern sind ja auch ganz Andere Leute unterwegs als in den Nachkriegs-Jahrzehnten. Damals waren Publizisten wie Rudolf Augstein, Henri Nannen, Gerd Bucerius tonangebend, aber auch viele Regionalzeitungen besaßen weitsichtige, profilierte Verlegerpersönlichkeiten, an denen sich die Redaktionen reiben konnten. Die dachten als Unternehmer, gewiss, aber sie hatten auch dezidierte Vorstellungen von der gesellschaftlichen Rolle des Journalismus. Vielerorts gab es zwischen der Chefredaktion und dem Verleger befruchtende Debatten um inhaltliche Fragen, um die politische Linie und das Blattprofil.
Journalismus wurde mehr und mehr als Beigabe des Werbeträgers
? Woran lag es, dass diese Kultur unterging?
! Die Verleger wurden alt, sie traten ab, segneten das Zeitliche. Deren Erben und Erbengemeinschaften wollten oder konnten nicht in die Fußstapfen ihrer Väter treten. Also holten sie Manager als Verlagsgeschäftsführer, Leute, die zuvor bei Unilever Waschmittel, bei Dr. Oetker Pizzen oder Continental Winterreifen verkauft hatten – und deren Credo darin bestand, eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften. Dafür wurden sie ja auch geholt. Und wenn sich eine Chefredaktion diesen Vorgaben widersetzte, zog sie den Kürzeren.
? Also wurde das publizistische Denken ersetzt durch die Logik der Betriebswirte?
! Nicht überall, aber vielerorts. Die Generation der Erben erwartete Umsatzrenditen von deutlich über zwanzig Prozent. In der Folge gaben viele regionale Zeitungsverlage ihr publizistisches Grundverständnis auf und stellten sich als kommerzieller Waren- und Dienstleister auf. Journalismus wurde mehr und mehr als Beigabe des Werbeträgers verstanden, dazu da, die Leserschaft, die sich für die publizistisch-journalistischen Inhalte interessiert, an die Werbebranche zu verkaufen. Dass diese Regionalzeitungen dabei mehr und mehr Leser verloren – der Reichweiteschwund setzte bereits Ende der 80er Jahre ein! -, spielte damals keine Rolle. Denn der Werbeträger boomte und boomte und füllte die Kassen.
Die Verlagschefs dachten nicht innovativ, sie verschliefen den Trend
? Woran lag es, dass immer mehr Leser schon damals der Tageszeitung fern blieben?
I Die Zeitungshäuser übersahen, dass ihr Produkt immer konfektionierter daherkam. Auch die Art ihrer Themenvermittlung und ihr Berichterstattungsstil kamen vor allem bei den jungen Leuten nicht an – wie gesagt: lange vor der Zeit des World Wide Web.
? Also verstärkte demnach das Internet nur diesen Trend?
! Ja, wobei der anhaltende Leserschwund auch im Laufe der den 1990er Jahre, also im Zuge der Veralltäglichung des Web, in etwa gleich blieb. Den Verlagen wurde dieses Problem erst bewusst, als ihnen 2001 in der Folge der Dot.Com-Krise die Werbeerlöse wegbrachen. Plötzlich waren diese hohen Einnahmen weg. Zeitgleich bauten clevere Start-up-Initianten im Internet interaktiv funktionierende, attraktive Websites und Portale für Stellenanzeigen, für den Immobilien- und den Autohandel auf. Die Verlagschefs dachten ja nicht innovativ, sie verschliefen deshalb auch diesen Trend. Also brach nun auch noch das lukrative Kleinanzeigengeschäft weg. Die Renditen schrumpften.
? Und? Was war die Strategie der Verlage?
! Viele Häuser verordneten nun Sparrunden. Die Redaktionen wurden ausgedünnt, Lokalteile komplett outgesourct, Rubriken und Themen fremd eingekauft. Ein krasses Beispiel bot die Funke-Gruppe, die vor einem Jahr bei ihrer Dortmunder Zeitung, der Westfälischen Rundschau, die komplette Redaktion entließ und den redaktionellen Inhalt seither fremdproduzieren lässt. Aber einige Verlage waren zum Glück ein bisschen intelligenter und sagten sich: Wir können unsere Redaktionen nicht einfach kaputt sparen, denn dann verlieren wir noch schneller noch mehr Abonnenten und in der Folge noch mehr Anzeigen, weil unsere Reichweite zurückgeht. Wir müssen die wirklichen Ursachen ergründen.
Glaubwürdigkeitsimage des Offline-Produkts
? Dabei klingt der Anfang Ihres Buches eher optimistisch: Ihre Studien besagen, dass immer noch 85 Prozent der Erwachsenen die Tageszeitung für besonders zuverlässig und glaubwürdig halten. 88 Prozent sind sogar der Meinung, dass sie nur durch die Zeitung sachkundige Informationen bekommen und sich die Informationen besser merken können, wenn sie sie in der Zeitung, also auf Papier, gelesen haben. Da fragt man sich doch: Wo ist das Problem?
! Das Problem steckt in der Diskrepanz zwischen dem noch immer starken Glaubwürdigkeitsimage des Offline-Produkts und seiner tatsächlichen Nutzung. Wenn Sie jüngere Erwachsene fragen, ob sie bereit wären, für die Lokal- oder Regionalzeitung am Ort 35 Euro im Monat auszugeben, ernten Sie Kopfschütteln.
? Eine zentrale These Ihres Buches ist, dass der Bedeutungsverlust der gedruckten Zeitung gestoppt werden könnte, wenn sich mehr Blattmacher ernsthaft mit den Wünschen und Erwartungen ihres Publikums auseinandersetzen.
!Das ist der rote Faden durch das ganze Buch.
? Sind die Blattmacher denn so ahnungslos, was ihr Publikum möchte?
! Für einen beachtlichen Teil der Regionalpresse muss man leider konstatieren: ja.
? Warum?
! Das hat mit dem im Nachkriegsdeutschland, vor allem in den 60er und 70er Jahren ausgeformten Berufsbild des Journalismus zu tun. Auch die Nachrichtenjournalisten dachten: Wir sind die Statthalter des öffentlichen Interesses, wir entscheiden, welche Nachrichten, Informationen, Neuigkeiten, Skandale, Krisen oder Konflikte an die Öffentlichkeit kommen, wir sagen, worüber sich die Menschen in dieser Gesellschaft ins Bild zu setzen haben. Wir sind deshalb auch die kompetenten Moderatoren der Öffentlichkeit. Und wenn du Leser unser Veröffentlichung nicht zur Kenntnis nimmst: umso schlimmer für dich! Leider übersahen sie, dass sich seit den 80er Jahren die Gesellschaft verändert hat und weiter verändert
Publizisten, Medienmacher und Verleger
? Wohin?
! Die nachwachsenden Generationen wollen eine stärker interaktive Umwelt, sie wollen als Kommunikationspartner verstanden und ernst genommen werden. Sie wollen das Informationsgeschehen verstehen, sie verlangen nach Transparenz und nutzen Medien, die verschiedene Informationstiefen und Geschwindigkeiten haben. In dieser veränderten Welt dürfte der Journalismus nicht mehr als Einbahnstraßenfahrer auftreten, er müsste sich als dialogisch denkender Kommunikationspartner seines Publikums verstehen. Er müsste sich für sein Publikum wirklich interessieren, es kennen und verstehen lernen. Schauen wir mal in die USA. Dort haben Publizisten, Medienmacher und Verleger sich gesagt: Wenn wir nicht lernen, unsere Leser und User zu verstehen, wenn wir nicht erfahren, was sie beschäftigt und was sie eigentlich wissen müssen, um in ihrem Berufs-, Alltags- und Freizeitleben zu bestehen, dann braucht es uns wirklich nicht mehr. An mehreren Hochschulen und Instituten wurden dort gemeinsam mit Medienhäusern sozialempirische Forschungsmethoden eingesetzt und angewandte Programme des „Audience Understanding“ entwickelt. Viele Redaktionen dort haben nicht einfach – wie bei uns – den Finger nass gemacht und in den Wind gehalten, sondern systematisch untersucht, wie sich im Alltag der verschiedenen Leser- und Usergruppen die unterschiedlichen Medienangebote einbetten lassen.
? Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich das Rollen- und Funktionsverständnis der Journalisten ändern müsse. Sie sagen, wir sollten uns weniger darauf konzentrieren, das Informations- und Meinungsmonopol zu behalten, sondern viel mehr auf die Erlebniswelt der jungen Erwachsenen eingehen. Was meinen Sie damit?
! Wenn wir noch einmal zurückblicken auf die letzten dreißig Jahre, dann ist auffällig, dass sich der Journalismus, insbesondere der Nachrichtenjournalismus in den Tageszeitungen auf Informationsroutinen eingestellt hat. Ich nenne das den institutionellen Journalismus. Die Zeitungen berichten überwiegend über Veranstaltungen, also den Output der Institutionen, Amtsträger oder Funktionsträger – ob aus der kleinen Industrie- und Handelskammer vor Ort, über irgendein Parteiengezänk, über die Kulturveranstaltung oder aus dem Rathaus. Das ist der erwähnte Einbahnstraßenjournalismus.
Weit mehr als zwei Drittel des Lokalstoffs sind Einquellentexte
? Was heißt also, dass diese Einrichtungen die Presse zu ihrem Sprachrohr machen.
! So ist es. Wir haben im Rahmen unserer Zeitungsqualitätsforschung im Laufe der letzten zehn Jahre etwa 60.000 lokale Zeitungsberichte analysiert. Wir fragten: Wer kommt in diesen Texten zu Wort? Um welches Thema geht es? Wie viele Akteure, wie viele verschiedene Positionen kommen in dem Text vor? Aufgrund dieser Daten ist offensichtlich, dass gerade in den Lokalteilen dieser institutionelle Veranstalter dominiert. Weit mehr als zwei Drittel des Lokalstoffs sind Einquellentexte. Und für die Veranstalter interessieren sich vielleicht Leute ab 45 oder 50, aber nicht die jungen Erwachsenen. Die sind von unseren Institutionen ohnehin frustriert, sie vertrauen den sozialen und politischen Institutionen nicht mehr.
? Können Sie das etwas konkreter machen?
! Die jungen Leute sehen beispielsweise, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, dass sämtliche Lebensbereiche, inzwischen auch alternative Energie und Ökologie durchkommerzialisiert sind, dass ihnen zugleich eine heile Glamour-Welt vorgegaukelt wird. Für viele Lebensbereiche gilt: Es ist nicht das drin, was drauf steht. Und das empfinden viele junge Leute auch, wenn sie die Tageszeitung aufschlagen. Hinter der smarten Folie der Wohlstandsgesellschaft sind viel mehr Brüche, Spannungsfelder, Enttäuschungen, Konflikte – und die finden sie nicht in ihrer Zeitung. Dort steht vielmehr, dass unser Autohaus am Ort einen Neubau mit noch größerer Ausstellungsfläche bezogen hat.
? Haben Sie das auch erfragt?
! Kürzlich haben wir ein sehr großes Online-Panel gestartet, das vor allem die 24- bis 35-jährigen Nicht-Zeitungsleser im Fokus hat. Und ich denke, in einem Jahr wissen wir darüber sehr viel mehr. Darüber werden wir eine nächste Publikation herausbringen.
Wie umfassend muss ich informiert sein, um den Durchblick zu haben?
? Gibt es schon Erkenntnisse?
! Die 20- bis etwa 28-Jährigen orientieren sich vor allem im Rahmen ihrer Altersgruppe, die abstrakte Ebene der Gesellschaft spricht sie nicht an. Die Fragen „Wie informiere ich mich?“ und „Wie umfassend muss ich informiert sein, um den Durchblick zu haben?“ stellen sich erst später. Für diese Lebensphase ist Vernetzung und Mobilität besonders wichtig, Bindung eher heikel. Viele dieses Alters sind noch in der Phase des Erfahrungssammelns und können sich nicht festlegen. Wenn Sie einen 25-Jährigen fragen: Würdest du eine Zeitung abonnieren, bekämen Sie zur Antwort: Abonnieren? Mich binden? Was weiß ich denn, wo ich übermorgen bin und was ich dann denke! Umso mehr interessiert ihn die Oberfläche seines Smartphones, auf der sich 30 oder 40 Apps befinden. Und er folgenlos entscheiden kann, welche er diesmal öffnet.
? Junge Leute finden es auch völlig absurd, sich im Fernsehen noch den Wetterbericht anzusehen.
! Richtig.
? Sie sagen: Wozu brauche ich denn die Tagesschau, wenn ich auf meinem iPad oder Smartphone den Ort eingeben kann, an dem ich mich gerade befinde und eine exakten Wetterprognose für diese Region abrufen kann.
! das gehört auch zu diesem explorierenden Lebensgefühl: Die News genau dann zu nutzen, wenn man Lust dazu hat. „Pull“ statt „push“, lautet die Formel, eine andere nennt dieses Verhalten: „News on demand“. Das erzeugt das Gefühl, selbstbestimmt zu handeln, auch wenn es nur Launen sind. Von da her ist das lineare Fernsehen mit seinem formatierten Programm das sterbende Medium, nicht die Zeitung, die schon immer ein mobiles Medium mit hoher Ubiquität war.
Unterschwelliges Wettbewerbs- und Konkurrenzverhalten
? Auf der anderen Seite wird ständig über eine zu große Informationsfülle geklagt.
! Ja, das Internet erscheint als ein unendlicher Raum und wirkt auf viele Leute wie der große Ozean ohne Horizont. Und dieses Gefühl bekommen junge Leute auch, wenn sie in den Social Media wie Facebook unterwegs sind oder wenn sie twittern. Es gibt inzwischen Studien, die aufzeigen, dass junge Leute, wenn sie ein paar Stunden auf den Sites von Facebook waren, hinterher unglücklicher, ratloser sind als vorher.
? Warum?
! Offenbar haben viele ein Gefühl, das dem „lost in translation“ ähnelt – Also: Sie ist heftig unterwegs gewesen, aber nirgendwo wirklich angekommen. Hinzu kommt, dass unter vielen Social Media-Teilnehmern ein unterschwelliges Wettbewerbs- und Konkurrenzverhalten wirksam ist: Wie kann ich mich bei facebook beispielsweise am besten verkaufen? Kann ich coolere Urlaubsfotos posten als die anderen? Habe ich mehr Freunde als die anderen?
? Es herrscht also Konkurrenzdruck.
! Zurück zum Offlinemedium Zeitung: Aufgrund solcher Erfahrungen könnte es durchaus sein, dass sich intelligente junge Leute für eine wirklich gut gemachte Zeitung zu interessieren beginnen, wenn sie nach ihrer Mobilitätsphase in die Etablierungsphase kommen und bindungswillig werden. Egal, ob Papier der digital: Auf 28 redaktionellen Seiten das Wichtigste und Aufregendste von dem, was in den letzten 24 Stunden in der Welt passiert ist, verständlich und übersichtlich präsentiert zu bekommen, das könnte attraktiv sein. Und wenn die Zeitung ihre Nachrichten und Hintergrundberichte crossmedial aufbereitet und zur Printversion noch ein attraktives, also multimedial produziertes App anbietet, könnte sie am Ende als der Gewinner dastehen.
Versagen des Journalismus und der Zeitungsmacher
? Sie fragen in Ihrem Buch: Warum missachtet der Journalismus sein Handwerk? Tut er das?
! Wenn Journalisten nicht mehr verstanden werden und immer weniger Menschen deren Wirklichkeitsbeschreibungen rezipieren, machen sie ihren Job schlecht. Wenn also die Zeitungen untergehen sollten, wäre dies vor allem ein Versagen des Journalismus und der Zeitungsmacher. Das Publikum ist so, wie es ist. Ich kann mich ja nicht hinstellen und sagen: Mir passt das derzeitige Publikum nicht, tauschen Sie es bitte aus. Es ist umgekehrt: Die Lokal- und Regionalzeitungen müssen ihre jungen Leser finden und deshalb in ihrem Verbreitungsgebiet viel kreativer denken als bislang. Noch verfügen sie über eine hohe lokale Kompetenz. Noch.
? Gibt es denn eine Regionalzeitung, die Ihnen hier positiv aufgefallen ist mit neuen Konzepten, um junge Leser für sich zu gewinnen?
! Ein nettes Beispiel ist die Fuldaer Zeitung. Dieser kleine, überschaubare Verlag hat eine ganze Palette an Publikationen entwickelt, die aufeinander aufbauen: von einer Zielgruppe zur nächsten. Die Blattmacher dort haben sich gefragt: Wie erreichen wir die Grundschüler mit unserer Marke, mit unserem Namen? Die Antwort heißt „Schlaufuchs“, eine empathische Figur, die auch im Schulunterricht auftritt, die alle Fragen der Kinder beantwortet und die eine eigene Zeitungsseite hat. Daran schließt sich an: Wie erreichen wir die Teenager und wie die entscheidende Gruppe der 20- bis 30-Jährigen? move36 zum Beispiel heißt ein Magazin, das die Tonalität der 20- bis 25-Jährigen trifft. Ein anderes Projekt haben Volontäre verwirklicht mit tollen Videos, die den Schulabgängern neue, interessante Berufe mit ihren Ausbildungswegen zeigen. Und so weiter.
Werbeerlöse aus ganz verschiedenen Werbeträgern
? Wir reden ja immer davon: Wie kann sich Journalismus wieder finanzieren?
! Zunächst muss man konstatieren: Seit der Freigabe des Anzeigenmonopols vor rund 160 Jahren hat sich der Journalismus noch nie allein finanziert. Nicht mal die von einer Fan-Gemeinde supportierte taz bekommt das hin, sie braucht Genossenschaftler, die immer wieder spenden. Es kann also nur darum gehen: Wo finden und erschließen die Medienhäuser neue Märkte, auf denen sie Einnahmen generieren und so die Kosten für guten Journalismus gegenfinanzieren? Ich denke, in den nächsten zehn Jahren werden solche Medienhäuser gut über die Runden kommen, die rund ein Drittel über Vertriebserlöse – inklusive Paid Content natürlich – einspielen; ein weiteres Drittel sind Werbeerlöse aus ganz verschiedenen Werbeträgern. Und das letzte Drittel muss über eine neue, marktgerecht aufgestellte Palette an lokalen Dienstleistungen und Services eingespielt werden. Es gibt ein paar Regionalverlage, die das schon heute hinbekommen.
? Und noch eine letzte Frage: Können Sie angesichts Tausender arbeitsloser Journalisten den Beruf noch weiterempfehlen?
! Journalismus ist und bleibt ein herrlicher Beruf, der aktuelle Changeprozess macht ihn eher noch interessanter. Vorausgesetzt, man arbeitet für ein aufgewecktes Medienhaus. Die Redaktionen benötigen bundesweit jedes Jahr zwischen 1000 und 1200 Nachwuchsjournalisten. Und so mancher Verlag hat erkannt, dass er diesen Nachwuchs dringend braucht, um den Changeprozess hinzubekommen. Denn das journalistische Tätigkeitsfeld erweitert sich rasant in Richtung Crossmedialität. Vielleicht noch wichtiger ist die besprochene Modernisierung des Berufsbildes und damit auch des eigenen Rollenverständnisses. Manch älterer Journalist hat Mühe, diese Umorientierung mitzumachen. Ich meine damit nicht, dass künftige Nachwuchsjournalisten zur Eier legenden Wollmilchsau werden müssten. Es geht vielmehr darum, die aktuellen Ereignisthemen unter Berücksichtigung der verschiedenen Kanäle managen zu können. Die jungen Journalisten müssen also schon während der Ausbildung lernen, in konvergenten Räumen zu denken.
Künftige Journalisten müssen über profundes Mediennutzungswissen verfügen
? Was heißt das praktisch?
! Als Lokaljournalist, der zu einem Ereignis flitzt, muss ich an Ort und Stelle erfassen: Das hier bringen wir noch nicht auf die Website, aber wir müssen es in einer Stunde über unser digitales Radio und über Twitter anteasern, am Nachmittag kommt dann ein Bericht mit Statements der Akteure auf die Website, dann schreiben wir die ganze Geschichte topaktuell weiter für die Morgenausgabe offline und stellen ein Feature dazu mit dem Hinweis, verstärkt durch Twitter, dass ab 11 Uhr auf der Website ein spannendes Video kommen wird. Mit dem Video verbindet sich auf Facebook die Ankündigung, dass ein interessantes Interview oder eine Kontroverse am nächsten Tag online zu haben sein wird – kostenlos nur für die Abonnenten. Und so weiter. Man muss, mit anderen Worten, wissen, welche Publika welche Medien im Alltag wann und wie nutzen. Die künftigen Journalisten müssen also auch über profundes Mediennutzungswissen verfügen. Und ein bisschen flexibler werden im Kopf.
Das Interview führten Bettina Schellong-Lammel und Heide-Ulrike Wendt
Prof. Dr. Michael Haller studierte in Freiburg und Basel und promovierte in Politischer Philosophie und Soziologie. Er war leitender Redakteur bei der Basler Zeitung, Autor der Weltwoche, 13 Jahre beim Spiegel, dann Ressortleiter bei der Zeit. 1990 wechselte er in die Medienforschung. Von 1993 bis zu seiner Emeritierung Ende 2010 war er Universitätsprofessor, bis April 2014 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig. Seit 2013 leitet er zudem die Journalismusforschung der Hamburg Media School. Er ist Gründungsherausgeber der Fachzeitschrift Message sowie Verfasser verschiedener Journalismus-Fachbücher, zahlreicher wissenschaftlicher Aufsätze und Bücher sowie Experte für Qualitätsforschung mit dem Schwerpunkt Tageszeitung.
Bettina Schellong-Lammel
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