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UTOPIE Verkehrswende
Von der Küche ins Klassenzimmer mit dem Radio: Jugendliche für Politik interessieren
Foto: Bernd Lammel
Digitalisierung

Von der Küche ins Klassenzimmer mit dem Radio: Jugendliche für Politik interessieren 

Raus aus dem Alltagstrott, Neues ausprobieren und vor allem aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausbrechen. Vier Rundfunkjournalisten wagten vor bereits zwölf Jahren diesen Schritt. Ihre Beweggründe: Das staatliche Radio ächzt unter der Bürokratie, setzt dementsprechend langsam Ideen um, reagiert zu träge auf Trends. Das neue gegründete Küchenradio, das inzwischen Küchenstud.io heißt, sollte mit alldem aufräumen. Ist das geglückt? NITRO sprach mit dem Gründer Philip Banse über die Anfänge, die Entwicklung und die Zukunft des Radios aus der Küche.

? Vor zwölf Jahren haben Sie mit drei Kollegen das Küchenradiogegründet, inzwischen heißt es hieß es Küchenstud.io. Wie hat sich das Küchenprojekt in den vergangenen Jahren entwickelt?

! Das Küchenradiowurde am 24. April 2005 von vier Rundfunkjournalisten gegründet, einer davon war ich. Wir haben damals beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet und wollten neue Möglichkeiten im Medium Radio finden. Es ging uns vor allem Podcasting und darum, Konventionen zu brechen und Neues auszuprobieren. Das ging eine ganze Weile gut, und wir waren auch relativ erfolgreich.

?… dann lief es nicht mehr so gut?

Das ist ähnlich wie in einer Band.  Man macht eine Weile gute Musik, nimmt das eine oder andere gute Album auf, aber irgendwann hat man keinen Bock mehr, dieselben Leute jede Woche zu sehen.

? Die „Radio-Band“ hat sich getrennt?

! Ja, aber zum Glück nicht im Streit. Wir treffen uns noch, wir mögen uns alle, wir sind noch befreundet, und das klappt viel besser, wenn wir nicht zusammenarbeiten.

? Wie ging es mit dem Küchenradio weiter?

! Ich wollte das Format nichtsterben lassen, sondern Podcasting weiter in anderen Formatideen ausbauen.

? Dafür wurde das Küchenstud.io gegründet?

! Genau. Das Küchenstud.ioist inzwischen ein Podcast-Label, in dem verschiedene Formate zu Hause sind. Es ist erfolgreich, aber das Küchenradioals Format gibt es auch noch.

? Wie viele Kollegen stehen in der Radioküche?

! Im Moment sind sieben Kollegen dabei. Einige intensiv, andere sporadisch.

? Wenn Sie sich an die Anfänge des Radios in der Küche erinnern, wie haben sich die Themen von damals zu heute verändert?

! Die Themen sind vielfältiger und differenzierter geworden. Im Küchenradiohaben wir damals eigentlich fast alles gemacht. Interviews über Kornkreise, den Klimawandel und den Milchmarkt in der EU. Wir sind durch die Stadt gelaufen und haben aus Kiezen berichtet, wie die Leute in Neukölln leben oder im Prenzlauer Berg, was sie antreibt und was sie interessiert. Inzwischen bekommt jedes Thema seinen eigenen Podcast und, was mir ganz wichtig ist, es gibt das Themenfeld Politik und Zeitgeschehen.

? Küchenstud.io ist politischer geworden?

Das Küchenstud.io ist eindeutig politischer geworden. Politik wird ja traditionell dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugeordnet. Ich wollte es in die Podcast-Sphäre holen, wo alles ein wenig nischig, ein bisschen nerdig, ein bisschen techy ist. Politik und Zeitgeschehen in die lockerere, persönlichere und völlig andere Kommunikationsart des Podcast zu holen, fand ich reizvoll. Gleichzeitig konnte ich damit mehr Hörer ins Podcasting holen, die sich vielleicht nicht für Tech, aber für Politik interessieren und die merken, da wird über Politik auf eine ganz andere Art gesprochen.

! Ist das geglückt?

! Absolut. Mit dem Format „Lage der Nation“ ist das überraschend gut gelungen. Das Feedback ist hoch und es gibt einen großen Anteil Podcast-Ersthörer.

66 Prozent der Hörer sind Männer zwischen 24 und 35 Jahren

? Gibt es eine Übersicht über die Hörerstruktur?

! Über Spotify, die Podcasts vom Küchenstud.iolisten, gibt es eine relativ genaue Demografie. 66 Prozent der Hörer sind Männer zwischen 24 und 35 Jahren. Das deckt sich mit dem Feedback, das über Kommentare, über Tweets oder über persönliche Ansprachen hier ankommt. Wir erreichen immer mehr Schüler, die an Küchenstud.io schreiben, weil sie ein Podcast als Vorbereitung für ihren Staatskunde- oder Politikunterricht nutzen oder weil sie Infos für eine Klassenarbeit brauchen.

? Dann nimmt Küchenstud.io einen Bildungsauftrag wahr?

! Auf jeden Fall. Mir ist das total wichtig, und es freut mich natürlich, wenn Küchenradiomit dieser Form der Ansprache Jugendliche dazu bringen kann, sich für Politik zu interessieren …

Das bekannteste Format ist die „Lage der Nation“

? … von denen ja gern behauptet wird, sie interessierten sich nicht für Politik.

! Sie interessieren sich schon, nur anders als die Eltern. Das Feedback, das von Schülern und Lehrern kommt, ist: Hey, das ist eine ganz andere Art, junge Menschen für Politik zu begeistern und auch die anzusprechen, die sich bisher nicht für Politik interessiert haben. Das, finde ich, ist doch cool.

?  Wie findet Küchenstud.io seine Themen?

! Es gibt bei Küchenstud.ioverschiedene Formate. Das immer noch vorhandene Küchenradio– dort entscheide ich allein über die Themen. Es gibt das Medienradio, bei dem ich ebenfalls allein entscheide, welches Thema mir unter den Nägeln brennt. Das bekannteste Format ist inzwischen die „Lage der Nation“. Hier entscheiden Ulf Buermeyer und ich über die Themenwahl. Wir lassen die für uns wichtigsten Geschehnisse der Woche Revue passieren und überlegen, welche Themen sich aktuell aufdrängen. Oft gibt es Dinge, mit denen sich einer von uns schon intensiver beschäftigt hat. Das müssen keine Themen sein, die auf der absoluten Mainstream-Agenda stehen. Aber wenn wir uns damit beschäftigt haben und meinen, dass etwas ins Format passt, entscheiden wir uns dafür, wenn wir substanziell etwas dazu zu sagen haben.

? Gibt es auch Themenvorschläge von den Hörern?

!:  Ja. Die Hörer schlagen uns ebenfalls Themen vor, und es gibt Korrekturen oder Kritik aus der Hörerschaft. Nach einer „Lage der Nation“ kommen zwischen 180 und 200 Kommentare zur Sendung. Es gibt Kritik, weil wir etwas „falsch dargestellt“ hätten oder Anregungen, Thema XY aufzugreifen. So ein Feedback ist für uns super, denn wir wissen dann, was die Hörer von uns erwarten.

Spenden, Abos, der Küchenstud.io-Shop und Küchenstud.io-Veranstaltungen

? Wie viele Podcasts produziert ihr im Monat?

Pro Monat vier Folgen „Lage der Nation“. Es ist momentan das dominante Format, und das versuchen wir in erster Linie zu finanzieren. Alle anderen haben keine zeitliche Regelmäßigkeit.

? Wie finanziert sich das Küchenstud.io?

! Es sind vier Säulen. Spenden, Abos, der Küchenstud.io-Shop, in dem wir T-Shirts oder Tassen verkaufen, und Küchenstud.io-Veranstaltungen.

? Ihr macht Live-Auftritte und bringt das Küchenstud.io zu den Hörern?

Klar, warum nicht?

Radiomachen, Vorträge oder Workshops

? Dafür findet ihr ausreichend Publikum?

! Da kommen bis zu hundert Leute, nicht nur aus Berlin. Sogar aus Rostock, Leipzig oder Hannover reisen sie an.

? Wo macht ihr das?

! Wir haben es bisher in der Wikimedia am Tempelhofer Ufer gemacht, bei dem Verein, der Wikipedia in Deutschland betreut. Die haben uns die Location freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

? Könnt ihr vom Küchenstud.io leben?

! Nein, auf keinen Fall. Wir machen das aus Spaß an der Freude …

? … und mit Leidenschaft für den Radio-Nebenjob?

! Auf jeden Fall. Es hat aber einen Selbstmarketing-Aspekt. Dadurch, dass die „Lage der Nation“ relativ erfolgreich ist, werden wir bekannter und kommen auch an ganz gut bezahlte Jobs für Radiomacher wie Vorträge oder Workshops. Diese Querfinanzierung gab und gibt es von Anfang an. Ziel soll aber sein, dass sich das Küchenstud.io einmal selbst trägt.

Podcasting hat viel mehr Formate

? Das heißt aber, der Weg kann noch lang sein.

! Stimmt. Aber für Podcasts entwickelt sich gerade ein Werbemarkt. Den gab es lange nicht, weil Firmen nicht wussten, was Podcast ist. Die Werbe- und Mediaagenturen hatten keinen Bock auf Podcast, weil es ihnen zu kleinteilig erschien und weil sie nicht verstanden haben, wie es funktioniert.

? Das ändert sich jetzt?

! Es ändert sich langsam. Podcasting hat viel mehr Formate, es sind mehr Leute, die Podcast machen, und jetzt gibt es auch Podcast-Shows. Damit entwickelt sich der Werbemarkt, und Firmen fragen plötzlich, ob sie Werbung schalten können.

Priorität ist on demand und Podcasts auf Abruf

? Ähnlich wie bei Bloggern?

! Ja. Für Blogger interessieren sich ja jetzt auch plötzlich viele Agenturen.

? Auf welchen Geräten werden eure Podcast gehört?

! Aus unseren Statistiken sehen wir, dass plus/minus 90 Prozent der Audiodateien aus dem Feed abgerufen werden. Das heißt, die Leute hören uns unterwegs.

? Machen wir noch einen Ausblick in die Zukunft. Wo steht Küchenstud.io in den kommenden zehn Jahren?

! Ich hoffe, es gelingt, ein Label aufzubauen. Ich möchte journalistische Podcasts produzieren, die nachhaltig finanziert sind.

? Was würden Sie sich wünschen – wie sollte sich das klassische Radio in den nächsten zehn Jahren entwickeln?

! Ich hoffe, dass die Priorität des Linearen verschwindet. Das Lineare ist viel zu teuer zu produzieren. Die Sender könnten sehr, sehr viel Geld sparen und sehr viel bessere Produkte machen, wenn sie sagen würden: Wir machen linear, aber die Priorität ist on demand und Podcasts auf Abruf. Es wäre auch super, wenn öffentlich-rechtliche Sender sich entscheiden, dass sie den Hintergrund zum Beispiel im Deutschlandfunk produzieren, aber nicht primär fürs lineare Programm, sondern eine durchrecherchierte super Sendung machen, die dort zwar läuft, aber primär ist das Ding ein Podcast. Mal sehen, ob wir da in Zukunft überrascht werden.

Das Interview führte Bettin Schellong-Lammel

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