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Lokaljournalismus: Im Kampf gegen die Filterblase
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Lokaljournalismus: Im Kampf gegen die Filterblase 

von Juliane Wiedemeier, Fotos: Nikolai Schmidt

Normalerweise interessiert sich die Tagesschau nicht für den Ausgang von Oberbürgermeister-Wahlen in Mittelstädten. Mitte Juni war das anders. Am Sonntagabend des 16. Juni 2019 um kurz nach acht informierte Jan Hofer Millionen von Zuschauern über den Sieg des CDU-Kandidaten im sächsischen Görlitz. Das war der vorläufige Höhepunkt eines Medieninteresses, wie es die ostdeutsche Stadt noch nicht erlebt hatte – und das schon Wochen vor der Wahl begann.

Sebastian Wippel war der erste AfD-Kandidat mit einer realistischen Chance, direkt zum Oberbürgermeister gewählt zu werden. Und zahlreiche Journalisten wollten wissen: Warum? Erste Reportagen erschienen im April. Am Wahltag, waren dann alle da: RTL, n-tv, MDR, Süddeutsche Zeitung, Zeit Online, taz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt. Auf Twitter trendete für einen Abend #görlitz.

So läuft das im Journalismus oft bei herausragenden Ereignissen, die abseits der Metropolen passieren. Zeitungen schicken Reporter, die fragen, was da los ist. Alle berichten, manchmal auch das Gleiche. Und selbst wenn die Antworten wenig zufriedenstellend ausfallen, ebbt die Aufmerksamkeit nach wenigen Tagen oder Wochen wieder ab.

Im Fall Görlitz sorgte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer noch am Wahlabend für Ärger, weil sie ihre Partei wegen des Erfolgs als „die bürgerliche Kraft gegen die AfD“ feierte – Tenor: Sache erledigt.

Aber in Görlitz ist nichts erledigt. Die Themen, über die gestritten wurde, sind weiter ungelöst. Die Stadt bleibt gespalten. Nur die Reporter sind weg.

Sebastian Beutler von der Sächsischen Zeitung (SZ) ist noch da. Der 48-Jährige ist in Görlitz geboren, hat in Leipzig Journalismus studiert und dann bei der SZ angefangen. Heute leitet er die lokale Redaktion mit sieben Reportern, fünf Mitarbeitern am Desk und einem Netz aus freien Fotografen. „Natürlich sind Lokalzeitungen Orte, an denen sich demokratische Diskussionen abbilden. Wenn das wegfällt, hätten wir eine andere Gesellschaft“, sagt er.

Görlitz ist eine Stadt voller Kontraste. Viele Gründerzeithäuser im Zentrum sind aufwändig saniert worden. In anderen Vierteln verfallen Straßenzüge, weil sie seit Jahren unbewohnt sind. Die Zeiten mit 100 000 Einwohnern und einer bunten Zeitungslandschaft sind jedoch lange vorüber. Einen Teil dieser Vielfalt verboten die Natio­nalsozialisten. In der DDR reichte der SED eine lokale Zeitung pro Bezirk aus.

Davon hat sich die Medienlandschaft auch nach 1989 nicht erholt, zumal heute nur noch etwas mehr als halb so viele Menschen in der Stadt leben. In der Fußgängerzone betreibt der MDR ein Radio­studio. Auch Radio Lausitz, Anzeigenblätter und das Online-Magazin 3Mag behalten die Region im Drei-Länder-Eck mit Polen und Tschechien im Blick. Jeden Tag und mit dem Anspruch, Politik und Wirtschaft auf die Finger zu schauen, berichtet jedoch nur die SZ. Sie gehört zur DDV-Mediengruppe, an der Gruner+Jahr und die SPD-Gesellschaft ddvg beteiligt sind.

Beutlers Büro liegt im „City Center“, einem Einkaufszentrum aus den frühen 2000ern mit günstigen Läden wie Norma und KiK. Im zweiten Stock befinden sich ein Bowling-Center und ein Spiel-Casino. Die Redaktion der Sächsischen Zeitung liegt im dritten. Die Auslegeware undefinierbarer Farbe und die schlichten Bürozellen sind so uninspiriert, dass selbst „Stromberg“-Ausstatter diese Räumlichkeiten als zu klischeehaft abgelehnt hätten. Der einzige Schmuck in Beutlers Büro sind Berge an Papier und Aktenordner.

Der Verlag habe früh in alternative Einnahmequellen wie Lesereisen oder Postversand investiert, sagt Beutler. „Uns geht es daher noch verhältnismäßig gut.“ Dennoch müssen seine Mitarbeiter jeden Tag ein bis zwei Artikel schreiben. Für tiefe Recherchen oder gar Investigatives bleibt da kaum Zeit. Dabei ist genau das ist nötig, wenn eine Zeitung lokale Akteure kritisch beobachten und hinterfragen will.

Die Journalisten der SZ machen keinen schlechten Job: selten Vereinsberichte, Texte über Scheckübergaben oder stumpf abgeschriebene Pressemitteilungen. Dafür setzt die Redaktion eigene Schwerpunkte: Braucht es einen Zaun um den frisch ausgerollten Rasen am Wilhelmplatz, damit dort niemand mehr Fußball spielt? Gibt es auf den Schulhöfen der Stadt ein Drogenproblem? Und hat Bürgermeister-Kandidat der AfD Sebastian Wippel tatsächlich Verwaltungswissenschaften studiert, wie er behauptet?

„Ich bin der Auffassung, dass die Zeitung kein Inhalte-Problem hat, sondern ein Bezahlproblem“, sagt Beutler. Jeden Tag verkauft die SZ in Görlitz 10 700 Exemplare, davon 450 E-Paper. Zwanzig Jahre zuvor war die Auflage noch doppelt so hoch. Die Einführung des Mindestlohns für die Zusteller, steigende Papierpreise und die Lkw-Maut drücken die Erlöse.

Zwar erreicht die Zeitung heute via Facebook mehr als 15 000 Menschen. Von denen lesen viele jedoch nur Foto, Überschrift und Teaser. Seit vergangenem Herbst gibt es online eine Bezahlschranke. Zehn Euro kostet der Digitalzugang pro Monat. „Wir stellen ganz bewusst auch recherchierte Geschichten hinter die Paywall“, so Beutler. Ihm ist wichtig, im Netz nicht nur mit Klicks einbringenden Polizeimeldungen, sondern mit allen inhaltlichen Facetten präsent zu sein und zu zeigen: Gute Inhalte kosten Geld. Die intensive Politik-Berichterstattung im Vorfeld der Wahl habe „ein gerüttelt Maß an Neukunden“ eingebracht. Doch für eine Umkehr des Abwärtstrends reicht es nicht.

Das könnte auch daran liegen, dass sich die Attraktivität des Angebots bislang in Grenzen hält. Online-Journalismus sind in Görlitz Artikel, die für die Printausgabe geschrieben und online gestellt wurden. Zudem fragen manche Leser sich: Warum für journalistische Texte bezahlen, wenn anderswo Informationen kostenlos erscheinen? „Ich glaube, viele kennen den Unterschied zwischen Presse und PR nicht“, sagt Beutler.

Tatsächlich kritisieren viele Görlitzer die Zeitung nicht für langweilige Themen, schlechte Schreibe oder unsaubere Recherche. In persönlichen Gesprächen stößt man immer wieder auf fehlendes Verständnis dafür, dass andere Seiten im Blatt zu Wort kommen. Ein elementares Element des Journalismus wird als Einsatz für eine andere Position als die eigene und damit als unangenehme Parteinahme durch die Zeitung wahrgenommen.

Manchen sind selbst kritische Nachfragen schon zu viel. Zwei Wochen vor der Wahl hatte die SZ die beiden verbliebenen Bürgermeister-Kandidaten von AfD und CDU zur Podiumsdiskussion ins Theater geladen. Moderator Beutler konfrontierte den Kandidaten Wippel mit den Recherche-Ergebnissen zu seinem Studienabschluss. Schon das brachte die Anhänger des AfD-Politikers so in Rage, dass die Situation kurzzeitig zu eskalieren drohte.

Widersprüche zu ertragen und andere Meinungen zu akzeptieren, scheint schwieriger zu werden, wenn man seine Informationen hauptsächlich über soziale Medien bezieht. Lässt das auch die SZ-Redakteure manchmal an ihrer Arbeit zweifeln? „Die Anfeindungen kommen von links und rechts“, sagt der Lokalchef. „So falsch können wir also nicht liegen.“ Die Kritik auszuhalten, sieht er als Teil seines Jobs.

Tatsächlich kommen in der SZ regelmäßig Politiker aller großen Parteien, von Linke bis AfD, zu Wort. Gleichzeitig trägt die Zeitung aber durch einen Entschluss von 2016 auch selbst zur aufgeheizten Stimmung in der Stadt bei. Seitdem nennt sie bei Straftaten die Nationalität von Verdächtigen – entgegen der Empfehlung im Pressekodex. „Gewisse Delikte werden häufig von Menschen bestimmter Nationalitäten begangen. Die Leute vor Ort wissen das. Also schreiben wir das auch“, sagt Beutler. Andernfalls würde nur das Misstrauen verstärkt, dass bewusst etwas verschwiegen würde.

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