Von Kai Rehländer
Innerhalb von nur fünf Jahren hat sich der einstige Werbeplakatekleber Ströer zu einem digitalen Medienkonzern gemausert. Allein das Portal t-online.de verzeichnet mehr Besucher pro Monat als SPON, Focus oder Bild.de: 27 Millionen.
Die Lage und das Ambiente stimmen und sagen aus: Hier weht der Geist eines Start-up-Unternehmens. Die Rede ist von den Redaktionsräumen von t-online.de in Berlin-Mitte, die bereits im vergangenen Jahr im Beisein des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller eröffnet wurden. Im wohl modernsten Newsroom Deutschlands ist Googles Sprachassistentin Alexa sogar auf der Toilette behilflich und verliest dort die aktuellen Aktienindizes.
Seit dem 1. September 2017 versucht Chefredakteur Florian Harms, t-online.de als „digitales Leitmedium“ in Deutschland zu etablieren. Mit rund 27 Millionen Nutzern pro Monat laut Agof-Zählung (Stand September 2018) liegt das Portal vor Focus Online, Spiegel Online und auch Bild.de, was wohl auch daran liegen kann, dass diese Domain oft Startseite von Telekom-Kunden ist. Harms, der mal Chefredakteur von Spiegel Online war, hat nicht nur die modernste Technik hingestellt bekommen, sondern durfte auch seine Berliner Mannschaft neu rekrutieren, nachdem die alte 100-köpfige Redaktion im beschaulichen Darmstadt aufgelöst und abgefunden wurde. Es gibt sogar einen US-Korrespondenten und – für Berlin vielleicht naheliegend – einen Parlamentsreporter. Die Botschaft lautet: Hier sollen journalistische Inhalte produziert werden, und es wird sogar etwas Geld dafür investiert.
Seit 2015 gehört t-online.de nicht mehr der Telekom, sondern wurde zusammen mit dem Vermarkter Interactive Media von der Werbefima Ströer gekauft, die dem Magenta-Riesen dafür Aktien im Gegenwert von 300 Millionen Euro überließ. Durch diesen Kauf wurde der „Plakatekleber“ Ströer zum wichtigsten Onlinevermarkter und – was die eigentliche Geschichte ist – noch mehr zu einem Medienunternehmen, das eigenen journalistischen Content für das Internet herstellt und gewinnbringend vermarktet.
Das Manager Magazin bestätigte Ströer, dass kaum ein anderer deutscher Konzern sein Geschäft so rasant, radikal und riskant digitalisiert. Die Axel Springer SE zum Beispiel setzt zwar auch auf Digitalmarken, hat aber traditionelle Content-Lieferanten wie die Illustrierten und Tageszeitungen (außer Bild und Welt) an die Funke-Mediengruppe veräußert. Die wiederum kommt digital nicht in die Pötte, unter anderem weil das für die Tageszeitungen so wichtige Rubrikenanzeigengeschäft wie Immobilien-, Autos und Stellenmarkt sozusagen bei Springer verblieben ist. So zum Beispiel in Beteiligungen wie Autohaus24, Immowelt oder Stepstone.
Während andere Medienkonzerne wie die Hubert Burda Media sich zwischenzeitlich als Partnerschaftsanbahner (ElitePartner) oder Tierfutterversender (Zooplus) versuchten, kaufte Ströer rund 100 Start-ups auf. Dazu gehören die Aktienmehrheit an dem Zahlenhuber-Portal Statista, die Schulfreundesuche Stayfriends (mit 14 Millionen Einträgen), Kino.de, Firmen für Dialogmarketing, Social Media, Spieleplattformen, Regio-Helden, Big-Data-Spezialisten und so weiter.
Das Unglaubliche an der Geschichte ist: Erst 2012 hat für Ströer das digitale Geschäft begonnen. Das Kerngeschäft der Aktiengesellschaft war bis dahin die Außenwerbung – Plakatekleben und so genannte Stadtmöblierung, unter anderem an Bushaltestellen. Vor fünf Jahren betrug der Anteil dieser Außenwerbung am Umsatz noch 90 Prozent. Im ersten Halbjahr 2018 kamen mehr als 50 Prozent des Konzernumsatzes aus den Bereichen Content Media und Direct Media. 2012 kaufte Konzernchef Udo Müller, nachdem die Aktie zwei Jahre nach dem Börsengang am Abschmieren war, die Firma Adsale und drei Online-Vermarkter auf und stieg so gleich im großen Stil ins digitale Geschäft ein.
„Wir müssen akzeptieren, dass gewisse Themen von den großen Playern wie Google, Facebook et cetera besetzt sind. Deswegen müssen wir uns auf Themen konzentrieren, die (…) für lokale, sprich nationale Player in einer globalen Businesswelt profitabel und nachhaltig entwickelt werden können“, beschreibt Müller gegenüber dem Mediendienst Turi 2 die Strategie von Ströer.
In Deutschland ist Ströer in der Onlinevermarktung mittlerweile ein ganz großer Player mit beeindruckenden Zahlen. Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr 1,3 Milliarden Euro, für 2018 werden bereits 1,6 Milliarden prognostiziert. Insgesamt 13 000 Menschen an mehr als 100 Standorten arbeiteten Mitte 2018 für ein Unternehmen von Ströer. Der Konzern betreibt mehrere Tausend Webseiten und eigene Social-Media-Kanäle. Auf 300 000 Außenflächen können Out-of-home-Werbebotschafen platziert werden. Das Sahnestück in den Angeboten sind die 4 300 Public-Video-Screens an Bahnhöfen und anderen Orten mit hoher Besucherzahl. Unglaubliche fünf Milliarden Kontakte werden hier monatlich generiert.
Desktop, Mobile und Public – das sind die Kanäle, auf denen sich die Journalisten bei Ströer tummeln müssen. Dazu gehören seit dem vergangenen Jahr auch die Kollegen von Watson.de. Diese in Berlin-Mitte angesiedelte Eigengründung ist eine Lizenzübernahme aus der Schweiz, die jüngeres Publikum, das mit klassischen Nachrichten nichts anfangen kann, zu den Ströer-Angeboten locken soll.
Lesen Sie den ganzen Artikel im aktuellen Heft „Pressefotografie“.
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