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Wie real ist die Vier-Tage-Woche?
picture alliance / Markus Scholz/dpa
Aktuell

Wie real ist die Vier-Tage-Woche? 

Belgien macht es vor: Dort können Arbeitnehmer zukünftig zwischen der Vier- und der Fünf-Tage-Woche wählen. Das finden auch viele Arbeitnehmer in Deutschland gut, doch die Regelung in Belgien hat auch einen Haken: Die Wochenarbeitszeit bleibt gleich. Ein Gastbeitrag von Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am RheinAhrCampus Remagen der Hochschule Koblenz.

In Belgien können Arbeitnehmer künftig zwischen der Vier- und Fünf-Tage-Woche wählen. Ihre Arbeitszeit bleibt bei beiden Optionen gleich. Auch in Deutschland spricht sich eine Mehrheit dafür aus. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv würden es 71 Prozent der Befragten begrüßen, wenn Deutschland dieses Modell übernehmen würde“, ist beispielsweise einer Meldung auf t-online zu entnehmen, Überschrift: „Mehrheit der Deutschen für Einführung der Vier-Tage-Woche“.[1] Interessant auch dieser differenzierende Hinweis: „Auf Zustimmung stoße das ‚belgische Modell‘ vor allem bei den 30- bis 44-Jährigen (81 Prozent) und den Befragten mit höherem Bildungsabschluss (Abitur, Studium: 75 Prozent).“

Was ist der Hintergrund für solche Begeisterungsstürme? Um was geht es überhaupt bei diesem „belgischen Modell“?

„Arbeitnehmer in Belgien sollen ihre Arbeit künftig flexibel an vier statt fünf Tagen verrichten können. Die belgische Regierung einigte sich auf eine entsprechende Arbeitsmarktreform“, teilte Premierminister Alexander De Croo mit. „Der erste Pfeiler ist, den Arbeitern mehr Flexibilität, mehr Freiheit zu geben“, sagte De Croo. Vollzeit-Arbeitnehmer sollen am Tag länger arbeiten dürfen, damit alle erforderlichen Stunden in vier Tagen geleistet werden können. Das solle etwa der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zugutekommen, so De Croo. Zu der Arbeitsmarktreform gehöre auch ein gesetzlich geregelter Zugang zu Weiterbildungen für Arbeitnehmer. „Außerdem werde es mehr Flexibilität bei den Nachtdienstregeln geben, um vor allem den Onlinehandel anzukurbeln“, erfährt man in einem Beitrag vom RDN: „Belgien will Viertagewoche bei gleicher Arbeitszeit einführen.“[2]

In einem Teil der Medien wurde der belgische Vorstoß sofort begeistert aufgenommen: „Auch in Deutschland werden Unternehmen diesen Wunsch vieler Mitarbeiter nicht mehr lange ignorieren können“, meint etwa Tobias Kaiser in seinem Kommentar in der Welt: „Vier-Tage-Woche – auch Deutschland wird sich dem Druck bald beugen müssen.“[3] Er verweist auch auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel, der die Verhandlungsmacht in Richtung der Beschäftigten verschiebt, die mehr „Flexibilität“ einfordern.

Man muss an dieser Stelle auf den entscheidenden Punkt hinweisen (der durchaus von Bedeutung ist für die Interpretation der hohen Zustimmungswerte in den schnell durchgeführten Umfragen, ausgehend von der nicht unplausiblen Annahme, dass ein Teil der Befragten davon ausgeht, dass alles so bleibt, wie es bislang war, nur eben einen Tag weniger Erwerbsarbeit): Das bislang in einer Fünf-Tage-Woche zu leistende Arbeitsvolumen wird bei einer Verkürzung auf eine Vier-Tage-Woche eben nicht verkürzt, sondern bleibt gleich, was im Gegenteil zur Verkürzung der Arbeitswoche eine Verlängerung des bisherigen Arbeitstages bedeuten muss. Wir sprechen dann also nicht mehr von einem Acht-Stunden-Tag, sondern es geht um mindestens 9,5 Stunden pro Arbeitstag.

Insofern verwendet Dominik Reintjes mit „Viertagewoche light“ eine passende Beschreibung in seinem Artikel in der WirtschaftsWoche: „Die richtige Viertagewoche ist noch in weiter Ferne.“[4]

Man muss schon in Frage stellen, ob wirklich allen, die man in einer Umfrage um einen Daumen hoch oder runter bittet, klar ist, was für Arbeitstage dabei herauskommen würden. Außerdem: Möglicherweise sind die besonders hohen Zustimmungswerte bei bestimmten Altersgruppen und mit formal hohen Bildungsabschlüssen auch dadurch beeinflusst, dass man dort durchaus unterscheiden kann zwischen der offiziellen und der tatsächlich gestalteten Arbeitszeit. Was bei so einigen Jobs schon immer eine „Herausforderung“ war, in Zeiten des Homeoffice für viele Büro-Jobs aber hinsichtlich ihrer Ambivalenz nochmals und in einer ganz anderen Größenordnung ein Thema und eine Erfahrung wurde.

Der Nebenhinweis auf die Erfahrungen, die wir pandemiebedingt mit der Ausweitung des Homeoffice gemacht haben, verweist auf eine bedeutsame Spaltungslinie, die sich auch bei der erneut aufbrechenden Diskussion über eine Vier-Tage-Woche erkennen lässt: So war und ist Homeoffice ein Thema und eine von einem Teil der Beschäftigten auch nach Corona geforderte „Flexibilisierung“ der Art und Weise des Arbeitens. Aber wir wissen auch, dass Homeoffice hochgradig ungleich verteilt ist, beispielsweise hinsichtlich der Korrelation mit höheren Einkommen und höheren formalen Bildungsabschlüssen. Für Millionen Arbeitnehmer und darunter sehr vielen in den unteren Einkommensbereichen stellt sich aufgrund dessen, was sie tun (müssen), gar nicht die Frage nach Homeoffice ja oder nein. Sie müssen vor Ort in den Betrieben, draußen auf den Baustellen oder Autobahnen arbeiten, in den Pflegeeinrichtungen und Kliniken.

Und damit einher gehen eben auch ganz andere Arbeitszeitintensitäten. Anders ausgedrückt: Nicht wenigen, die in typischen Homeoffice-fähigen Berufen arbeiten, stellt sich ein auf dem Papier vereinbarter Zehn-Stunden-Tag anders (gestaltbar) dar, als wenn man die Arbeitszeit real – und dann auch noch kollektiv eingebunden und überwacht – am Fließband, in einem Pflegeheim oder als getrackter Paketzusteller in einem mehr oder weniger fahrtüchtigen Zustellfahrzeug ableisten muss.

Ein auf dem Papier stehender Zehn-Stunden-Arbeitstag hat folglich eine andere Qualität, je nach dem konkreten Arbeitsumfeld, und zumindest diejenigen unter den Arbeitnehmern, die eben arbeitsbedingt keine besonderen oder überhaupt keine Gestaltungsoptionen haben, werden in die Nähe oder sogar über ihre Überlastungsgrenze getrieben, während andere das gut „wegstecken“ können. Insofern verbietet sich eigentlich von allein eine Debatte über „die“ Vier-Tage-Woche.

Vor dem Hintergrund der hier bereits angesprochenen scheinbar überwältigenden Zustimmung (gemessen an Umfragewerten) muss man genauer hinschauen, was auch Befürworter des Ansatzes tun. Beispielsweise Alexander Hagelüken in seinem Beitrag mit der scheinbar unmissverständlichen Überschrift „Die Vier-Tage-Woche“: Aus vielen Gründen – er spricht beispielsweise die enorme Zunahme der Arbeitsintensität in vielen Berufen oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie an – kann es helfen, einen Tag weniger die Woche zu arbeiten.

Das belgische Modell nützt aber nur eingeschränkt. Es schenkt zwar Flexibilität, Beschäftigte können ihre Arbeitszeit auf vier statt fünf Tage verteilen. Das kann etwas bringen, wenn man sich um die Großeltern kümmert oder einen zusätzlichen Tag ausspannen will. Doch dafür muss man bei Belgiens Modell länger in die Firma – etwa an den übrigen vier Tagen zehn statt acht Stunden. Das dürfte viele Arbeitnehmer noch mehr schlauchen. Und die Kita hat auch selten so lange auf. Sein Punkt ist: „Beschäftigte haben mehr davon, wenn eine Vier-Tage-Woche damit kombiniert wird, dass sie insgesamt weniger arbeiten.“ Und er betont: Eine „Vier-Tage-Woche mit weniger Arbeitsstunden durchzusetzen, wird nicht einfach“. Nochmals zur Erinnerung: Das wäre eine andere Vier-Tage-Woche als die, die uns als „belgisches Modell“ aktuell bewegt.

Eine echte Vier-Tage-Woche im Sinne einer entsprechenden Arbeitszeitverkürzung („natürlich“ aus Sicht der Arbeitnehmer idea­lerweise kombiniert mit vollem Lohnausgleich, der aber eher unwahrscheinlich sein wird) war schon in der Vergangenheit kaum oder wenn, dann nur partikular umsetzbar. Nun sind aber aus Sicht der Unternehmen zwei weitere Aspekte hemmend dazu gekommen: Zum einen rutschen immer mehr Teilarbeitsmärkte, darunter vor allem auch die personalintensiven Arbeitsmärkte, in einen zunehmenden Arbeitskräftemangel, wo man überhaupt kein Personal mehr findet, sodass bereits der Ersatz des ausscheidenden Personals eine Herkulesaufgabe wird, geschweige denn die Rekrutierung zusätzlicher Kräfte, die man bei einer echten Arbeitszeitverringerung braucht. Zugleich haben sich gerade viele Dienstleistungen mit einer hohen Arbeitsnachfrage arbeitszeittechnisch dahingehend „verkompliziert“, dass die Anwesenheitszeiten ausgedehnt wurden (man denke hier an die jahrelange Entwicklung einer Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten). Zugleich haben viele Beschäftigte, ob nun freiwillig oder aufgrund der Umstände, gezwungenermaßen schon in der Vergangenheit eine „individuelle Arbeitszeitverkürzung“ vorgenommen, indem sie „nur“ Teilzeit arbeiteten und dann auch noch in Deutschland mit einem besonderen Schwergewicht auf kleine Teilzeit in Form der geringfügigen Beschäftigung.

Hier sei allen der Zahn gezogen, es handele sich um eine irgendwie neue, „moderne“ Entwicklung, über die jetzt am Beispiel des „belgischen Modells“ diskutiert wird:

Im Heft 4 des Jahres 1973 der Zeitschrift Personal berichtete Hans Friedrichs über „Vor- und Nachteile einer Vier-Tage-Woche“ (S. 144–146) und dabei auch von entsprechenden Modellprojekten in deutschen Unternehmen, die damals von entsprechenden Versuchen in den USA angereizt wurden, unter anderem in der Marmeladenfabrik Schwartau in Bad Schwartau bei Lübeck. Auch bei den damaligen Modellen ging es um eine Verkürzung der Arbeitstage pro Woche bei konstantem Arbeitszeitvolumen, also genau der Ansatz, der jetzt in Belgien promoviert wird.

 

An eine etwas andere, weil hier im Sinne einer tatsächlichen Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit einer – zumindest teilweisen – Gehaltskürzung ausgestalteten Variante der „Vier-Tage-Woche“ werden sich manche erinnern und das mit diesem Unternehmen verbinden: die Volkswagen AG in Wolfsburg. „Dort einigten sich die Tarifpartner Ende 1993 in tiefster Rezession (1,6 Mrd. DM Verlust allein im 1. Halbjahr) auf die Einführung der Vier-Tage-Woche. 20 Prozent weniger arbeiten (28,8 Stunden pro Woche), zwölf Prozent weniger verdienen, dafür ein 100 Prozent sicherer Arbeitsplatz. Mit Hilfe dieser Formel schien der drohende Abbau von 30 000 Arbeitsplätzen fürs erste abgewendet. Durch gestrichene Zulagen im Schichtbereich, entfallenden Sonderurlaub und anderer Zusatzleistungen sparte der Konzern durch diese Regelung bereits 1994 1,6 Mrd. DM ein. Teure Abfindungen entfielen. Die IG Metall klügelte ein System aus vorgezogenen Tariferhöhungen sowie umgelegten Jahressonderzahlungen und Urlaubsgeld aus. Das Ergebnis: Trotz 20 Prozent weniger Arbeit verringert sich das Jahresbruttoeinkommen lediglich um zwölf Prozent.“ (Quelle: Cornelia Wolber: Vier-Tage-Woche bei VW, 11.04.1997)[5]. Bei VW hatte der Ansatz einer Vier-Tage-Woche eine betriebswirtschaftliche und zugleich auch vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit eine arbeitsmarktpolitische Dimension.

Den gesamten Beitrag lesen Sie in der gedruckten Ausgabe

Fußnoten

[1] https://www.t-online.de/leben/id_91694870/arbeitszeit-mehrheit-der-deutschen-fuer-einfuehrung-der-vier-tage-woche.html

[2] https://www.rnd.de/wirtschaft/belgien-will-vier-tage-woche-bei-gleicher-arbeitszeit-einfuehren-XEI5LTRSF546QLXF5GKDDZ7NIY.html

[3] https://www.welt.de/wirtschaft/article236946813/Vier-Tage-Woche-Auch-Deutschland-wird-sich-dem-Druck-bald-beugen-muessen.html

[4] https://www.wiwo.de/erfolg/trends/vorbild-belgien-die-richtige-viertagewoche-ist-noch-in-weiter-ferne/27920934.html

[5] https://www.welt.de/print-welt/article636075/Vier-Tage-Woche-bei-VW.html

[6] https://aktuelle-sozialpolitik.de/2019/02/08/mindestlohn-und-arbeitszeiten/

[7] https://autonomy.work/wp-content/uploads/2021/06/ICELAND_4DW.pdf

Von Stefan Sell

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