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UTOPIE Verkehrswende
RADIO-Journalismus im TRANSIT
Birgit Wentzien, Chefredakteurin
Elitejournalismus

RADIO-Journalismus im TRANSIT 

Wir gehören allen. Wir sind als öffentlich-rechtlicher Sender nur unseren Hörern und Usern verpflichtet und belastbaren Argumenten. Wir senden bundesweit, werbefrei und in ganzen Sätzen. Und wir sind uns dieser Privilegien bewusst.

von Birgit Wentzien

Hörer und User noch mehr als bisher in unsere Arbeit einzubeziehen – das ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung für den öffentlich-rechtlichen Journalismus. Hörer und User ernst nehmen und sich selbst nicht wichtig. Hörer und User mit ihrem Echo und mit ihren Anregungen einbeziehen. Nicht nur senden also, sondern auch empfangen und die journalistischen Produkte so noch umfangreicher, komplexer und lebensnäher werden lassen.

Die Wirklichkeit des öffentlich-rechtlichen Journalismus

Und wir wollen und müssen auskommen mit unseren Mitteln, mit der Haushaltsabgabe der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Wir wollen da sein, wo Hörer und User sind. Und das bedeutet: mehr Engagement für unsere Inhalte in sozialen Netzwerken, dafür strategisch investieren und Mittel souverän verlagern. Denn auch das ist die Wirklichkeit des öffentlich-rechtlichen Journalismus: Unsere Mittel sind uns überantwortet, und wir selbst haben damit transparent und verantwortlich umzugehen.

Unsere Reihe Hörerwelten im Deutschlandfunk ist ein Beispiel dafür. Unsere Inlandskorrespondenten sind zu Gast bei Hörern und Usern, die unser Programm empfangen und uns von ihren Anregungen und Erfahrungswelten berichten. Sie haben Experten, Politiker bei uns gehört und selbst ganz andere Erfahrungen gemacht. Davon ist zu berichten.

@Mediasres im Deutschlandfunk ist ein Beispiel dafür. Den Kolleginnen und Kollegen unserer täglichen Mediensendung geht es um Fakten statt Fakes, um Dialog statt Abschottung, um Einordnung statt Tickerwissen. Die aktuellen Mediendebatten werden begleitet und das eigene Handwerk im Haus wird erklärt. In Zeiten wie diesen, in denen Medienkritik der neue politische Breitensport ist, müssen wir Journalistinnen und Journalisten unsere Arbeit erklären: Wie finden wir Themen, wie gewichten wir, woran messen wir Relevanz?

DLF24, die Nachrichten-App des Deutschlandradio

DLF Aktuell im Deutschlandfunk ist ein Beispiel. Moderierte Kurzreports mit Korrespondenten und Experten als aktuelle Fenster im Programm, immer dann, wenn die Lage es erfordert und das Geschehen eingeordnet, belegt und erklärt werden kann und muss. Und davor wird kritisch geprüft. Wer kann für uns berichten, wo sind weitere Quellen und wie belastbar sind diese Quellen. In der Nacht des Amoklaufs von München gab es zunächst mehr Falschmeldungen als brauchbare Informationen, auch und gerade in den sozialen Netzwerken. Weil das so war, haben wir genau das zum Thema gemacht. Ruhig, abwägend und konzentriert.

Und schließlich – DLF24, die Nachrichten-App des Deutschlandradio, ist ein Beispiel. Der Chefredakteur der New York Times, Dean Baquet, sagt, der Kampf um Nachrichten wird auf dem Smartphone gewonnen oder verloren. Da sind wir jetzt. DLF24informiert über wichtige Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Forschung, Kultur und Sport und macht dafür die wichtigsten Meldungen aus den Deutschlandradio-Fachredaktionen in nachrichtlicher Kürze unter einer Adresse verfügbar, mit Links zu den vollständigen Beiträgen und mit Verweisen auf die Originalquellen.

Birgit Wentzin
Foto: Bettina Staub Deutschlandradio

 

Wir sind indes nicht Bestimmer von Wirklichkeit

Die Erwartungen gegenüber öffentlich-rechtlichem Journalismus sind immens, das Wissen über öffentlich-rechtlichen Journalismus ist gering. Und der Wert dieses Journalismus ist zu verteidigen. Er ist aus meiner Sicht durchaus in Gefahr.

In den USA gibt es kein einziges Medium mehr, das von allen anerkannt wird. Wissen atomisiert, die sozialen Netzwerke sorgen mehr und mehr dafür, dass jeder Nutzer in seiner Welt bleibt. Diese Echokammern sind selbstbestätigend, nur! Und einige Politiker versuchen an Journalisten vorbei zu kommunizieren. Wenn wir in die USA schauen und Donald Trump mit seinen Twitter-Meldungen wahrnehmen, hat dessen Art, in 140 Zeichen zu kommunizieren, Methode: Die klassischen Journalisten werden in des Wortes Bedeutung übergangen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich manche in unserem Gewerbe ihres Deutungsmonopols zu sicher waren. Wir sind indes nicht Bestimmer von Wirklichkeit, wir sind mit unseren professionellen Möglichkeiten die Finder von Wirklichkeit, und wir filtern mit unserem Wissen und unserer Recherche: Unterscheiden das Wichtige vom Unwichtigen, ermöglichen Nachdenken über Inhalte, und wir kommentieren – klar, strukturiert und aufgrund von Wissen.

Journalistinnen und Journalisten im Deutschlandfunk

Dazu gehört, dass wir uns gern kritisieren und in Frage stellen lassen. Aber auch öffentlich-rechtliche Journalisten müssen sich nicht bedrohen lassen.

Hinsehen, Hingehen, Dranbleiben – das ist unsere Aufgabe. Und mein Traum für die nächsten Generationen der Journalistinnen und Journalisten im Deutschlandfunk– das sind Teams: im Land unterwegs, immer wieder in den Funkhäusern und auch im hauseigenen Lab zu Hause. Sie rotieren von Reporterplätzen draußen auf Redakteurs- und Moderationsplätze drinnen und ins Reporter-Lab des Deutschlandfunk. Außenreportage, Innendienst in den Redaktionen und Zukunftslab – das sind ihre Arbeitsplätze. Diese drei Beritte gehören zusammen, sind ohne einander nicht denkbar.

Die Idee dahinter: Auf den Perspektivwechsel kommt es an. Der Reporter ist ohne Datenjournalist nicht denkbar, der Mediengestalter spürt bei der Recherche bereits, welche Akzente auf welcher Online-Fläche wie umgesetzt werden können: Die ersten Originaltöne, Originalfotos und auch visual radio-Momente sind in den sozialen Medien unterwegs, um Appetit zu machen auf mehr – im linearen Beitrag, im Podcast und auch online.

Ohne Ahnung und Haltung kein Wissen

Das Ziel dieser Radiomacher stammt aus den Anfängen des Journalismus, die einfach nicht alt werden: Es geht um starke, kräftige Inhalte, um Fakten und ihre Geschichte, um Meinungen und Kommentare. Denn bei aller neuen Technik und aller Mehr-Medialität ist das Handwerk entscheidend. Ohne Ahnung und Haltung kein Wissen. Ohne Wissen kein Finden von relevanten Inhalten. Und ohne diese wesentlichen, wichtigen Inhalte keine Sendung, gleich wo und wie.

Wir machen viel und wir machen Fehler. Auch damit gehen wir offen um. In den DLF-Korrekturen geht es um Fehleinschätzungen und Falschmeldungen. Unsere Reporter, Redakteure, Kommentatoren, Medientechniker und Mediengestalter liegen nicht immer richtig, stehen oft im Feuer oder im Nebel von Ereignissen, können damit souverän umgehen und das auch eingestehen. Und in einem „Journalistischen Selbstverständnis“ haben sich alle verpflichtet, miteinander im Austausch zu sein und sich selbst immer wieder in Frage zu stellen.

Wissen liefern, Verstehen ermöglichen – darauf kommt es an. Und Dasein für künftige Generationen von Journalistinnen und Journalisten wird immer wichtiger. Wir Ältere kennen Konjunkturkrisen. Unsere jüngeren Kolleginnen und Kollegen müssen mit Strukturkrisen leben und arbeiten, und sie brauchen jede Unterstützung dafür.

 

Autorin:

Birgit Wentzien wurde 1959 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München sowie ein Studium der Kommunikationswissenschaften und Politologie an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität. Es folgte 1985 bis 1986 ein Volontariat beim Süddeutschen Rundfunk(SDR) in Stuttgart. Im Anschluss war sie bis 1992 als Redakteurin, Moderatorin und Autorin im Bereich Politik für den SDRtätig, ging 1993 als Korrespondentin nach Berlin. Seit 1999 amtierte sie als stellvertretende Leiterin des SWR-Studios Berlin, ab 2004 als Leiterin des Studios, und seit dem 1. Mai 2012 ist Birgit Wentzien Chefredakteurin des Deutschlandfunk.

 

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