Die Region Kursk ist gegenwärtig als Schlachtfeld des Ukrainekriegs immer wieder in den Nachrichten. Im August 1993 führte mich eine Reportage in die Region Kursk, tief im Herzen des damals noch als GUS bekannten Russlands. Es jährte sich damals der 50. Jahrestag der Panzerschlacht am Kursker Bogen. Sie war der Wendepunkt an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg. In einer nie dagewesenen Materialschlacht verlor die deutsche Wehrmacht die Oberhand.
Fünfzig Jahre später berichteten viele Medien über das geschichtsträchtige Ereignis im Vorfeld des 50-jährigen Kriegsendes im Mai 1945. Der damals auf Hochtouren laufende Abzug der Westgruppe der Sowjetarmee aus der ehemaligen DDR bekam einen Bezug zur Geschichte. In Köthen flog eine MIG-29-Staffel zurück in die Region Kursk. Der Abschied war ein Medienereignis. Der Spiegel versuchte, eine Genehmigung zum Besuch der Jagdflieger-Einheit in Kursk zu bekommen. Als die Genehmigung kam, brach der Spiegel-Journalist Christian Habbe aus dem Berliner Büro sofort Richtung Moskau auf. Er hatte sich rechtzeitig um ein Visum bemüht. Am nächsten Morgen, als Habbe bereits in Moskau angekommen war, rief mich die Spiegel-Bildchefin Christiane Gehner an und fragte, ob ich es in Eigenregie organisieren könnte, mich Christian Habbe am Abend desselben Tages in Moskau anzuschließen. Um 20 Uhr sollte die letzte Lufthansa-Maschine von Berlin nach Moskau starten.
Eine Abenteuerliche Reise
Problem Nummer eins: Ich hatte kein Visum. Am Telefon lautete die Auskunft der Botschaft, es dauere mindestens zehn Tage, ein Visum zu erhalten. Ich kannte eine Dolmetscherin aus Potsdam, die ich bei meinen Aufträgen zum Abzug der Sowjetarmee und bei Themen zu organisierter Kriminalität sowohl bei der Staatsanwaltschaft Potsdam als auch der Militärstaatsanwaltschaft in Wünsdorf, dem Hauptquartier der Westgruppe, kenngelernt hatte. Sie besorgte das Visum, das ich innerhalb weniger Stunden am Hintereingang der Botschaft in Empfang nehmen konnte. Ich sollte einfach nach Igor fragen. In der Reisestelle des Spiegel riet man mir, einen 100-DM-Schein in den Pass zu legen. Als ich den Pass mit Visum drei Stunden vor Abflug bei Igor abholte, grinste der etwas spöttisch. Der Geldschein lag immer noch im Pass.
Problem Nummer zwei: Ich hatte keine Zeit, mich inhaltlich und technisch auf die Reportage vorzubereiten. Ich griff einen teuren Aluminiumkoffer, in dem meine Kameras und Objektive gut geschützt sein sollten, reichlich Filme und alles, was man für eine Woche braucht.
Die Maschine war halb leer, als sie abhob. In Moskau gelandet, wurde ich bereits am Gepäckband gefragt, ob ich mich von meinem Kamerakoffer trennen wolle.
Es war kein Taxi am Flughafen Scheremetjewo zu bekommen. Öffentliche Verkehrsmittel gab es auch nicht. Nur sogenannte „Schwarztaxis“, Ladas mit abgefahrenen Reifen und Rostlöchern, die Fahrer buhlten um Fahrgäste.
Am Schalter der Lufthansa erkundigte ich mich, wie ich ins Hotel kommen könnte. Einer der Lufthansa-Piloten hörte das Gespräch, als die Stewardess den Limousinen-Service des Hotels empfahl. Er fragte mich, ob wir uns die Limousine teilen könnten.
Auf der Fahrt bemerkte ich, es wäre gut, das Hotel sicher zu erreichen. Der Fahrer antwortete: „Hier ist nichts mehr sicher. Wir haben schon zwei Limousinen verloren, samt Inhalt.“
Während der Verfassungskrise von 1993 geriet das gesellschaftliche Leben der Ex-Sowjetunion aus dem Gleichgewicht. Es war durch organisiertes Verbrechen und extreme Misswirtschaft geprägt.
Eine erste Kostprobe erlebten wir bei Ankunft am Hotel Baltschug Kempinski. Gegenüber dem Kreml befand sich eine provisorische Autoauslieferung hinter Metallgittern, wo sich bewaffnete Wachleute mit Leuten stritten, die hier vor Mitternacht Einlass begehrten.
Der Eingang des Hotels war ebenfalls von Paramilitärs besetzt, die von uns die schriftliche Buchung verlangten und uns dann widerwillig einließen. Noch vor der Rezeption fragte ich den Piloten, ob er hier mit einem Überfall rechne. Er antwortete, die Männer in Kampfanzügen seien hier, um die Prostituierten abzuwehren. Er riet mir noch, nachts die Metro nicht zu benutzen, weil Straßenkinder-Banden, die in den Tunneln lebten, Fahrgäste ausrauben würden. Die politische Landschaft war von tiefgreifenden Umwälzungen geprägt: Der Zerfall der Sowjetunion hatte das Land in einen Zustand des Übergangs und der Unsicherheit gestürzt, in dem alte Strukturen bröckelten.
Abfahrt nach Kursk verzögert sich um mehrere Tage
Was am Anfang sehr eilig schien, sollte noch tagelang auf sich warten lassen. Jeden Morgen fragten wir beim Militär nach, wann wir nach Kursk fahren würden. Irgendwann kam dann meist die Antwort: Heute nicht. „завтра будет“. Es könnte morgen werden.
Ich nutze die Wartezeit, die Stadt zu erkunden und einen Moskauer Fotografen aufzusuchen, den ich acht Jahre zuvor kennengelernt hatte. Ich nahm ein Taxi und erfragte vorab den Preis: 15 Dollar oder 15.000 Rubel. Sergej Borissow war ein international bekannter Fotograf, und er hatte gleich zu Beginn des Zerfalls der Sowjetunion seine Wohnung für 10.000 Rubel kaufen können. Jetzt sollte eine Taxifahrt zu ihm 5.000 Rubel mehr kosten? Die Inflationsrate lag 1993 bei fast 840 Prozent. Sergej war ein Glückspilz. Viele Moskauer, vor allem Rentner verloren in diesen Jahren ihre Bleibe.
Schließlich hatte das Warten ein Ende. Ein olivgrüner Kleinbus hielt vor dem Nobelhotel. Ein hochrangiger Offizier mit roten Tressen an der Hose, wie ich es nur von Generälen kannte, lud uns zur Fahrt nach Kursk ein. Die 550 Kilometer lange Fahrt dauerte bis zum späten Abend. Konversation war wegen des Lärms im Kleinbus nicht möglich. Zwei Tankstopps waren nervenzehrend. Im ölreichsten Land der Erde standen Fahrzeuge in langen Schlangen an den Tankstellen und warteten, dass es wieder Benzin geben würde. Der Offizier griff in seine Aktentasche, holte ein kleinen Stapel Papier heraus. Eines war mit mehreren Stempeln und Unterschriften verziert. Damit ging er zum Tankwart, der ihn aber mit verächtlichem Blick wegschickte. Zwei Stunden später bekamen wir endlich Benzin.
Zwischenzeitlich hatten wir überlegt, ob ein DM-Schein den Tankwart überzeugen würde, sofort Benzin zu zapfen. Allerdings wäre es eine blamable Herabwürdigung des Offiziers gewesen, und so entschieden wir uns dagegen. Inmitten dieses politischen Umbruchs wurde deutlich, wie der Alltag der Menschen und eben auch der ehemaligen und früher hochgeachteten Militärangehörigen abrupt unsicher wurde. Da bekam ich zum ersten Mal das ungute Gefühl, dass ein Militärputsch in der Ex-Sowjetunion drohen könnte.
Uns war in diesem Augenblick nicht klar, auf welchem Pulverfass wir saßen. In Moskau eskalierte der Kampf zwischen Jelzin und Vizepräsident Alexander Ruzkoi. Jelzin hatte ein Referendum zur neuen Wirtschaftspolitik gewonnen und legte den Volksdeputierten einen Verfassungsentwurf vor, den sie vehement ablehnten. Ruzkoi rief später, wenige Tage nach unserer Abreise Richtung Deutschland, zur Besetzung des Fernsehstudios Ostankino auf. Der zehn Tage andauernde Konflikt war seit der Oktoberrevolution 1917 der Straßenkampf mit den meisten Toten in Moskau. 187 Menschen verloren ihr Leben, fast 450 wurden verletzt.
Ankunft einer ehemaligen Jagdfliegerstaffel in Kursk
Zwei Jahre zuvor war in jenem Gebiet eine besondere Rückkehr erfolgt: Die Jagdfliegerstaffel der ehemaligen Sowjetarmee, die einst in Köthen bei Dessau stationiert war, kehrte in diese Regionen zurück. Die Rückkehr war nicht nur ein militärisches Manöver, sondern auch ein Symbol für den tiefgreifenden Wandel, der sich durch den Abzug der Sowjetstreitmacht aus Deutschland vollzog. Damals hatte die Bundesrepublik Deutschland Milliardensummen für den Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. Ein finanzieller und symbolischer Beitrag, der den Neubeginn in einem Land markieren und Komplikationen bei der Wiedervereinigung vermeiden sollte.
Die Realität vor Ort – Zeltstädte und Neubeginn
Was mich persönlich am meisten beeindruckte, war die Konfrontation der Soldaten und Offiziere mit dem neuen, meist rauen Alltag in Russland. Als sie in Kursk ankamen, fanden die Offiziere keineswegs den gewohnten Komfort des Militärlebens in der DDR vor, sondern wurden unmittelbar mit den Herausforderungen eines russischen Landkreises konfrontiert, der noch immer von den Nachwirkungen des Kalten Krieges und den ersten Schritten in Richtung einer neuen, oft chaotischen Realität geprägt war.
Viele der zurückgekehrten Flieger und Offiziere fanden nur notdürftig Quartier. Besonders die einfachen Soldaten mussten zunächst in provisorisch errichteten Zeltstädten untergebracht werden. Der Wohnungsbau, finanziert mit den zuvor erwähnten Milliardensummen aus Deutschland, war in vollem Gange. Dabei spielte die internationale Zusammenarbeit eine zentrale Rolle: Firmen aus der Türkei, Finnland und den baltischen Staaten sowie der Ukraine übernahmen den Neubau der Wohnungen. Zwischen fertigen Wohnungen und noch bestehenden Zeltlagern entstand ein Spannungsfeld zwischen altem System und neuer Realität.
Einige Offiziere und MiG-Piloten hatten schon Wohnungen bezogen. Hermann Alexandrow und seine Frau Ludmilla waren stolz auf das neue Zuhause. Die vierjährige Tochter Julia fühlte sich wohl. Stolz zeigte uns Alexandrow das Modell einer MiG 29. Zum Termin mit uns hatte er sein Bundesliga-Shirt angezogen. Es erinnere ihn an die schöne Zeit in Köthen. Noch lebten sie mit Einschränkungen. Es gab nämlich kein Heizhaus. Ludmilla machte die Badewanne mit dem Tauchsieder warm. Immerhin gab es einen Supermarkt, der auch von den Einheimischen der Siedlung Schaikowka gern besucht wurde. Als ich den Markt in Augenschein nehmen wollte, hatte ein Dorfbewohner gerade sein Pferd am Eingang abgestellt. Einige Offiziersfrauen waren nicht begeistert, aber die Kinder hatten ihre Freude. Ein Junge, der sich dort amüsierte, trug ein Basecap mit der Aufschrift „US Airforce“.
Streng organisierter Besuch im Gebiet Kursk
Trotz der Anfangsprobleme ging der Wohnungsbau schnell voran. Es wurden 44 000 Wohnungen gebaut. Eine Mammutaufgabe, die im internationalen Zusammenspiel nach Anlaufschwierigkeiten gut funktionierte. Außerdem waren die Bauvorhaben nach dreieinhalb Jahren pünktlich fertiggestellt worden.
Unser Aufenthalt war streng vom GUS-Militär organisiert. Es gehörten ein Besuch des fertiggestellten Kindergartens und einer Fabrik für Plattenbauelemente im Modulbau genauso dazu wie ein Kirchgang.
Vor der Rückreise wurde mit viel Wodka gefeiert. Ich konnte mich weitgehend rausziehen, weil ich nochmals um einen Fahrer bat. Ich nutzte jede Gelegenheit, um weiter zu fotografieren.
Am Straßenrand und auf Feldern standen noch Überreste von Kriegsgerät aus der größten Panzerschlacht der Geschichte am Kursker Bogen. Zwei Millionen Soldaten und 6 000 Panzer trafen hier vor 50 Jahren aufeinander. Mit großem Blutzoll zeigte die Rote Armee an diesem Ort Hitlers Invasoren ihre Grenzen auf.
Ein bleibender Eindruck
Die Berichterstattung in Kursk 1993 war weit mehr als nur ein Blick auf militärische Umbauten und Wohnungsbauprojekte. Sie war das Spiegelbild einer Gesellschaft im Wandel ihrer politischen Entscheidungen und internationaler Finanzströme und zeigte, wie der Alltag einzelner Menschen auf komplexe Weise miteinander verwoben war. Der finanzielle Beitrag der Bundesrepublik Deutschland stand dabei sinnbildlich nicht nur für den Versuch, Brücken zwischen Ost und West zu bauen, sondern sollte auch einen Ausgleich zwischen Vergangenheit und Zukunft vermitteln.
Im Rückblick zeigt sich, dass diese Reise schon wegen ihres Zeitpunkts während der Verfassungskrise 1993 weit mehr war als nur ein journalistischer Auftrag. Der Osteuropa-Historiker Jan C. Behrends betrachtete den Gewaltausbruch von 1993 rückschauend als das Stichdatum für den Beginn des autoritären Umbaus in Russland nach dem Ende der kommunistischen Ein-Parteien-Herrschaft, der im Putinismus mündete. Seit diesem Datum, das für den Beginn des autoritären Umbaus Russlands steht, scheint es, als liege über der Region Kursk ein Fluch. Sie ist auch heute wieder im Kriegszustand.
Bernd Lammel
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