Die Regisseurin und Filmemacherin Leni Riefenstahl hat ihre ideologische Nähe zum Nazi-Regime nach dem Zweiten Weltkrieg stets geleugnet und nur eine einzige Darstellung ihrer Biografie zugelassen: ihre eigene. Der Nachlass einer der umstrittensten Frauen des 20. Jahrhunderts umfasst 700 Kisten mit Fotos, Filmen, Tagebüchern und Audioaufzeichnungen. Durch die haben sich der Regisseur und Dokumentarfilmer Andres Veiel und sein Team für den Dokumentarfilm „Riefenstahl“ hindurchgearbeitet. Veiel legt die Fragmente ihrer Biografie frei und setzt sie in einen erweiterten Kontext von Geschichte und Gegenwart. So wird Stück für Stück die wirkliche Rolle Leni Riefenstahls im Dritten Reich entlarvt. Im Interview mit NITRO erklärt Andres Veiel seine Herangehensweise, wie er sich der Mammutaufgabe stellte und welche neuen Erkenntnisse seine Recherchen ans Licht brachten.
? Herr Veiel, Ihr Dokumentarfilm „Riefenstahl“ kam Ende 2024 in die Kinos. Wie entstand die Idee, und wie lange haben Sie sich mit Riefenstahl beschäftigt, bevor die Arbeiten am Dokumentarfilm beginnen konnten?
! Der Nachlass war für mich der Ausgangspunkt des Interesses. Ich kannte nur die Menge: Fotos, Filmdosen mit privaten, unveröffentlichten Filmen, Tagebücher und Entwürfe zu ihren Memoiren, alles verpackt in 700 Kisten. Mein Interesse war, noch einmal neu und vielleicht differenzierter und genauer auf Leni Riefenstahl zu schauen.
? Es stand die Vermutung im Raum, dass Riefenstahl ihren Nachlass in ihrem Sinne „gestalten“ wollte?
! Die Mutmaßung hat sich bestätigt: Riefenstahl hat ihren Nachlass sehr genau durchgesehen. Sie muss bestimmte kleine, aber auch größere Dinge entfernt haben. Und sie beseitigte, was ihr vermeintlich hätte schaden oder das Bild relativieren oder infrage stellen könnte, das sie öffentlich von sich verbreitete.
? … und zwar?
! Ihre öffentliche Biografie einer unpolitischen Künstlerin, die nie wirklich die Nähe zur NS-Politik suchte. Die mehr oder weniger gezwungen wurde, Filme wie „Triumph des Willens“ oder „Olympia“ zu machen. Sie entfernte alles aus dem Nachlass, was diesem Bild widersprochen hätte, wenn man genauer hinschaut – und das war einiges. Aber es bestätigte sich für mich, dass sie dabei Fehler machte und sehr vieles hinterließ, was dem von ihr gewünschten öffentlichen Bild doch widersprach.
40 bis 50 Stunden private Filme in Riefenstahls Nachlass
? Zum Beispiel?
! Dass sich beispielsweise schon in der Ausdifferenzierung der Entwürfe ihrer Memoiren ein ganz anderes Bild zeigte als in den publizierten. Im Nachlass von Riefenstahl gibt es sehr viele private Filme. Sie ließ ihr Leben sehr ausführlich dokumentieren, vor allem von ihrem späteren Lebensgefährten Horst Kettner. Da gibt es im Nachlass etwa 40 bis 50 Stunden private Filme – bis zum letzten Atemzug. Mir war von vornherein klar: Auf der einen Seite gibt es viel Material über Riefenstahl, und es gibt mehrere, zum Teil sehr gut recherchierte Biografien. Und dann gibt es die etwas zweifelhafte Autobiografie von Riefenstahl selbst. Die Frage war: Wo kann man ansetzen, um dieses Bild auszudifferenzieren? In der Begegnung mit dem Nachlass waren zwei Fragestellungen interessant. Einmal die Nahaufnahme, ein Close-up: Wer ist diese Frau? Und zwar im Kontext Riefenstahl als Prototypin einer Faschistin. Zweitens: Was bedeutet ihre Ästhetik, die Ideologie, für die sie Propaganda gemacht hat, heute? Beides hat sich als sehr fruchtbare Fragestellung herauskristallisiert und war ausschlaggebend dafür, dass wir uns mit dem Nachlass intensiv und lange beschäftigt haben.
? Wer ist wir?
! Wir, das sind zunächst die Produzentin, Sandra Maischberger, und ich. Sandra Maischberger hat sich sehr lange vor mir mit Riefenstahl beschäftigt. Sie führte zum 100. Geburtstag der Regisseurin ein langes Interview ihr und meinte, sie wäre an ihr gescheitert. Sie sei nicht hinter diesen Panzer aus Lügen und Legenden gedrungen. Insofern war die Frage: Ist dieses Bild revidierbar?
? Sandra Maischberger ist an Sie herangetreten?
! Sie fragte mich, ob ich Interesse hätte. Ich wollte aber, dass dieser Nachlass zunächst digitalisiert und erschlossen wird.
? Wer gehörte noch zum „wir“?
! Dazu gehörten mir über Jahre vertraute Menschen wie die Archive-Producerin Moni Preischl, die sich im Umgang mit Archiven sehr gut auskennt. Sie hatte schon bei meinem Film über Beuys die Archivarbeit übernommen und brachte ihr Team mit. Insgesamt waren es drei aktiv Beteiligte. Neben Moni Preischl arbeitete Christiane Caemmerer, eine Literaturwissenschaftlerin, mit, die das gesamte Schriftgut und die Fotos begutachtet hat. Sie war meine Navigatorin im Alltag. Für TV-Archive hatte ich Mona El-Bira an meiner Seite. Drei sehr kompetente Kolleginnen, die alles mit mir gemeinsam stemmten.
Der zweite, mindestens genauso wichtige Teil, waren die Editoren. Die Schnittmeister Stephan Krumbiegel, Olaf Voigtländer und Alfredo Castro arbeiteten in drei Schneideräumen parallel, um diese Menge an Material peu à peu abzuschichten. Es war eine interessante Erfahrung, weil wir zum Teil sehr unterschiedlich auf das Material geblickt haben. Ich wollte erst einmal inhaltlich arbeiten, aber die Editoren schauten auf das filmische Potenzial und haben mich oft gebremst und gesagt: „Dazu fehlt uns das Material. Du kannst das gerne einbringen, wenn du das erzählen willst, aber wir haben dazu kein Bewegbild, und wir können ja nicht nur Schriftgut aneinanderreihen.“ Dieses „wir“ bedeutete auch 18 Monate intensive Arbeit im Schneideraum. Sandra Maischberger machte immer wieder mit ihrem Produktionsteam eigene Vorschläge und brachte sich ein. Sie hatte Interesse, einem Prozess beizuwohnen, der nicht ihren klassischen journalistischen TV-Formaten entspricht.
Bis zum letzten Schnitttag Überraschungen
? Sie sprechen von 18 Monaten im Schneideraum. Es gibt aber sicher eine Zeit davor, in der das Material erstmal gesichtet werden musste. Wie bewältigt man diese Mammutaufgabe, 700 Kisten zu sortieren? Wie lange dauerte es, bis Sie sagten: Das Material überzeugt mich, wir machen den Film?
! Die Archiv-Producerinnen haben die Vorarbeit geleistet und mir immer wieder Material zugespielt, bevor der eigentliche Schnitt begann. Bis ich dann irgendwann überzeugt war und sagte: Ja, wir machen den Film.
? Wie ging es weiter?
! Wir haben den Film klassisch nach einem Treatment geschnitten, das ich geschrieben hatte. Dabei stellten wir fest, dass der Film so nicht funktionierte. Es gab verschiedene Quellen und Tapes sehr unterschiedlicher Tonalität, die man einfach nicht hintereinander schneiden konnte. Es war eine Ernüchterung – wir mussten zielgenauer suchen. Wir hatten ein Kapitel zur Kindheit von Riefenstahl, wo sie sich Anfang der 1970er-Jahre sehr offen mit der Gewalt ihres Vaters auseinandersetzte, das fehlte in ihrer fertigen Autobiografie aber komplett. Einmal hatten wir viel, dann wieder zu wenig Material. Es war eine Reise ins Offene, die bis zum letzten Schnitttag immer wieder Überraschungen brachte.
? Sie nennen Leni Riefenstahl „Meisterin der Lügen und Legenden“. Bis zu ihrem Lebensende behauptete sie: „Ich habe nichts gewusst. Ich war eine Mitläuferin.“ Sind Sie bei Ihren Recherchen in Riefenstahls Nachlass auf neue Belege gestoßen, die zeigen, dass sie eine aktive Rolle in der NS-Zeit spielte?
! Immer wieder. Beispielsweise fanden wird den Brief eines Adjutanten, der die Ereignisse in Końskie – Riefenstahl war im September 1939 Kriegsberichterstatterin in Polen – nochmal neu beleuchtete. In Końskie fand das erste Judenmassaker statt, 22 Juden wurden durch die deutsche Wehrmacht ermordet. Riefenstahl sollte deutsche Soldaten bei einer Begräbniszeremonie filmen und gab, wenn man diesem Brief glauben kann, die Regieanweisung: „Juden aus dem Bild!“ Die Juden waren zuvor gezwungen worden, dieses Grab mit bloßen Händen auszuheben. Sie wurden misshandelt, rannten davon. Dann eröffnete ein Soldat das Feuer, und andere schossen ebenfalls. Riefenstahl war hier also möglicherweise nicht nur Augenzeugin, sondern vielleicht sogar ein Katalysator für dieses Massaker. Das veränderte den Blickwinkel, und wir mussten das in den Kontext bringen. Musste Riefenstahl vielleicht deshalb all die Jahre lügen, weil ihre Schuld sehr viel größer war? War sie nicht nur passive Regisseurin, sondern eine, die mit einer Regieanweisung aktiv ein Massaker an Juden auslöste und deshalb vollkommen unglaubwürdig wird, wenn sie sagt, sie habe von diesem Ereignis erst nach Kriegsende erfahren?
Riefenstahl im Schatten von Albert Speer
? Riefenstahl perfektionierte die Leugnung und Verdrängung ihrer Rolle im Dritten Reich. Hat sie sich dabei auch perfekt vermarktet?
! Eine Offenbarung in der Arbeit am Film waren die ungefähr 30 Stunden Mitschnitte von Telefonaten, die Riefenstahl führte. Aufgenommen zum Teil nach einer Talkshow 1976, aber auch bei Verkaufsverhandlungen. Es waren auch Gespräche mit Albert Speer dabei, dem früheren Reichsrüstungsminister, der in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilt und 1966 entlassen wurde. Da wird sehr deutlich, wie sehr beide privilegiert waren, weil sie ihre eigene Geschichte permanent neu verkauften. Speer hatte seine Memoiren geschrieben: „Die Spandauer Tagebücher“ und „Erinnerungen“.
Riefenstahl stand lange Zeit in Speers Schatten. Sie fing erst 1976 richtig mit der Selbstvermarktung an. Speer hatte da schon große Welterfolge: Seine Memoiren wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Er war Millionär. Die beiden unterhalten sich bei einem dieser Telefonate über die Honorare: „Was nimmst du denn so?“ Sie sagt: „Unter 10.000 mache ich es nicht.“ Da ging es um ein Interview mit der Canadian Broadcasting Corporation, CBC, wofür sie 10.000 D-Mark bekam. Speer soll für sein erstes Spiegel-Interview aber schon 50.000 D-Mark bekommen haben, exklusiv. Da sieht man die Ungeheuerlichkeiten, die solche Telefonate natürlich auch erzählen: wie privilegiert zum Teil schwer belastete NS-Täter nach dem Krieg waren, weil sie ihre Geschichten verkaufen konnten. Wenn man das vergleicht damit, wie NS-Opfer über Jahrzehnte um minimale kleine Renten streiten mussten, weil irgendwelche Papiere fehlten oder weil die angeblich körperlichen Einschränkungen auch altersgemäß sein und nicht mit der Lagerhaft in Verbindung gebracht werden könnten. All das war für mich neu. Erschreckend fand ich auch, dass Riefenstahl nach 1945 weiter der NS-Ideologie sehr stark verhaftet war. Dies belegen Telefonaufnahmen – in denen sie beipflichtet, dass es ein, zwei Generationen dauern würde, bis Deutschland wieder zu Sitte, Anstand und Moral zurückkehrt. Aber „die Deutschen“, Originalzitat, „haben doch dazu die Anlage“. Da ist eine Sehnsucht, ein Bedürfnis nach genau dieser alten Ordnung, die wiederhergestellt werden muss. Diese Sehnsucht nach Autorität und Unterwerfung und mit dieser Autorität eine Identifikation mit dem Großen, Starken, Siegreichen. Verbunden mit der Verachtung des Schwachen, des vermeintlich Fremden, des Kranken. Sie war und blieb eine der NS-Ideologie stark verhaftete Frau.
1952 ein weiteres Entnazifizierungsverfahren
? Gibt es einen Beleg, der ihre Behauptung widerlegt, keine Nationalsozialistin gewesen zu sein?
! In ungefähr 158 Interviews wiederholte sie immer wieder: „Ich war unpolitisch. Ich hatte nie etwas damit zu tun.“ Wir haben bei unseren Recherchen aber ein Interview im Daily Express von 1934 gefunden, das nicht im Nachlass war. Darin sagt Riefenstahl begeistert: „Ich habe 1931 ‚Mein Kampf‘ gekauft in der Bahnhofsbuchhandlung und bei den Dreharbeiten von ‚Das Blaue Licht‘ hatte ich das Buch immer dabei. Nach Seite 1 war ich begeisterte Nationalsozialistin.“
? Die Entnazifizierung Riefenstahls dauerte vier Jahre von 1948 bis 1952 – im Ergebnis wurde sie als Mitläuferin eingestuft. Könnte das der Zeitpunkt gewesen sein, an dem sie begann, die Nachwelt zu manipulieren und sich in einem Licht darzustellen, wie sie nach ihrem Tod gesehen werden wollte?
! Nein, das begann sehr viel früher. Interessant ist, wie sie ihre Erzählungen veränderte. Bis 1948 haben wir, zumindest in den persönlichen Unterlagen, Nachweise dafür gefunden, dass sie beispielsweise nicht bestreitet, in Końskie Zeugin gewesen zu sein. Sie schreibt nicht Judenmassaker, sondern: Es wurden Polen erschossen. Sie macht aus Juden Polen und weist alle, die im Schriftverkehr von Juden sprechen, darauf hin, dass man doch besser Polen sagen sollte. 1952, als klar war, dass es noch ein Entnazifizierungsverfahren gibt (es ging um die Rückgabe ihrer Villa in Berlin), erschien ein Artikel in der Illustrierten „Revue“, wo genau benannt wurde, dass sie Zeugin des ersten Massakers war, das sie es mit eigenen Augen gesehen hat. Da wusste Riefenstahl, dass sie in einen großen Widerspruch kam, und tauschte die Erzählung von damals einfach aus, erzählte eine andere Version und professionalisierte sich. Es ist interessant zu sehen, wie sie in frühen Interviews noch übt, zum Beispiel in den 1950er-Jahren in einem NDR-Interview. Da ist sie angestrengt, es wirkt noch wie auswendig gelernt, wie eine Schauspielerin, die mit dem Text hadert, als hätte sie einen Teleprompter. Sie liest es nicht ab, wirkt aber steif und arbeitet daran, dass es überzeugend rüberkommt. Jahre später spricht sie mit dem amerikanischen Journalisten Ostro, der sie zu Końskie befragt. Da weist Riefenstahl alles forsch mit einer Vehemenz und Empörung zurück: „Es ist eine Lüge. Es ist eine Unverschämtheit, dass diese Lügen immer wiederholt werden. Ich habe nichts gesehen, ich habe keine Toten gesehen.“ Sie hätten aber ein Foto, sagt Ostro, mit der Bildunterschrift eines Lanzers, der dieses Foto aufgenommen hat: „Leni Riefenstahl fällt in Ohnmacht.“ Warum? Weil sie das Massaker erlebt hat?
Das vollständige Interview lesen Sie in der Printausgabe.
Leni Riefenstahl: Meisterin der Lügen und Legenden
Bettina Schellong-Lammel
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