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20 Jahre NITRO
Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
(C) D-foto: BERND LAMMEL
20 Jahre NITRO

Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks 

In der medienpolitischen Debatte ging und geht es um vieles. Kleine Sender, wie der Saarländische Rundfunk und Radio Bremen, sollten von größeren übernommen werden. Die ARD sollte mehr regional, das ZDF mehr national und international berichten. ZDF und Deutschlandradio könnten fusionieren. Doppelberichterstattung müsse vermieden werden. Die Sender sollten im Internet mehr (oder weniger) machen, Filmkollektive alle Sendeplätze vom abendfüllenden Spielfilm über den Dokumentar-, Animations- und Kurzfilm bis hin zum Kinder- und Experimentalfilm bedienen können. Doch allzu oft werden die Geschichten aus der Region von anderen erzählt und produziert. 

Von Heiko Hilker 

Ein Zukunftsrat forderte, dass die ARD eine weitere, zwölfte Anstalt als Zentraleinheit haben müsse. Die Ministerpräsidenten brachten ins Gespräch, ARTE und 3sat zusammenzulegen. Sieben Ministerpräsidenten wollen, dass der Rundfunkbeitrag nicht steigt. Eine Idee ist, dass die Landesparlamente über die Höhe des Beitrags nicht mehr entscheiden müssen. Aber über eines wird fast nie diskutiert: ob die Sender ihren Auftrag erfüllen, so wie er ihnen in den Staatsverträgen bzw. in den Gesetzen vorgegeben ist. (Dies gilt übrigens auch für die privaten Sender.) 

Berichterstattung in den klassischen Medien wird kritisch gesehen

 Wer nun behauptet, dass eine der ARD-Anstalten ihren Auftrag nicht erfüllt, sollte auch sagen, was konkret fehlt. Schließlich bietet allein der MDR zehn Radioprogramme und ein eigenes umfangreiches Fernsehprogramm. Er liefert dem Ersten und ARTE zu, hat über 90 Social-Media-Angebote und mehr als 150 Podcasts. 

 Ähnlich umfangreich sind die Angebote von NDR, SWR, WDR und BR. Auch der RBB und der HR stehen dem nur wenig nach. Das umfangreiche Angebot kann von einem Einzelnen, aber auch von einer größeren Gruppe wie den Rundfunkräten nicht in vollem Umfang wahrgenommen, beobachtet und eingeschätzt werden. Deshalb müssen die Sender nachweisen, dass sie ihren Auftrag erfüllen, Vielfalt abbilden und dass sie die Qualitätsstandards bei allen Angeboten einhalten. Dabei dürften sie sich nicht an dem orientieren, was sie anbieten, sondern an dem, was sie als Auftrag erhalten haben. Die Antworten auf Vertrauensfragen sind irrelevant. Medienforschern ist seit langem klar, dass Medienvertrauen im Zusammenhang mit der generellen Unzufriedenheit mit dem politischen System und der Wahrnehmung einer geringen politischen Wirksamkeit steht. Je stärker also die Zweifel am politischen System und das Gefühl der eigenen Wirkungslosigkeit ausgeprägt sind, desto kritischer wird die Berichterstattung in den klassischen Medien gesehen. 

Eine Vielzahl an Sendern garantiert noch keine Vielfalt

Die Radio- und Fernsehsender haben in Deutschland, so das Bundesverfassungsgericht, „keine Freiheit an sich“. Sie haben eine „dienende Freiheit“. 

Sie sollen unter anderem der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung und damit der Demokratie „dienen“. Das gilt übrigens nicht nur für ARD, ZDF und Deutschlandradio, die aus den Rundfunkbeiträgen finanziert werden. Das gilt ebenso für die privaten Sender wie etwa RTL, Pro7, Sat.1, Radio PSR und Antenne Sachsen. 

Eine Vielzahl an Sendern und Angeboten garantiert allerdings noch keine Vielfalt. Auch erweitern die Sender die Vielfalt nicht allein dadurch, dass sie hunderte Podcasts anbieten. Doch wenn Vielzahl nicht automatisch zu Vielfalt führt, wie kann sie dann erreicht werden? 

Wenn es um die politische Berichterstattung geht, müssen die Sender jeweils alle Themen aufgreifen, die für die Bürger relevant sind. Sie müssen diese journalistisch aufbereiten und unter anderem an die Regierenden herantragen und deren Reaktion entsprechend widerspiegeln. Sie haben die Informationen und Hintergründe zu Meinungsverschiedenheiten in einer Tiefe und Qualität aufzuarbeiten, die ihrer Komplexität gerecht wird: Je schwieriger, je komplexer eine Fragestellung ist, desto notwendiger ist die inhaltliche Aufbereitung, und zwar in der Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Wertungen, Erfahrungen etc. Man bietet somit mehr als ein bloßes Abbild, nutzt alle journalistischen Möglichkeiten, also Bericht, Analyse und Kommentar. Nur so wird man dem Vielfaltsauftrag gerecht. 

Sichtbarkeitsvorsprung der Regierungs- gegenüber den Oppositionsparteien

 Das klingt sehr allgemein. Konkreter wird es in den Staatsverträgen. Danach soll zum Beispiel der MDR „in seinen Angeboten einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale […] Geschehen“ geben. Derzeit gibt es weltweit über 20 Kriege und kriegerische Konflikte. Der MDR berichtet in angemessenem Umfang – so wie für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ – faktisch aber nur über zwei. Der MDR vernachlässigt wie auch die „Tagesschau“ den sogenannten globalen Süden. Im 1. Halbjahr 2022 ging es in 41 Prozent der „Tagesschau“-Berichte um den Krieg in der Ukraine, 11,5 Prozent der Berichte handelten von der Corona-Pandemie, der Sport hatte einen Anteil von 7 Prozent und der weltweite Hunger lag bei 0,5 Prozent. 

Wissenschaftler der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz haben die Themen-, Akteurs- und Perspektivenvielfalt von neun öffentlich-rechtlichen Medienformaten, darunter die Hauptnachrichtensendungen von ARD („Tagesschau“, 20 Uhr) und ZDF („heute“, 19 Uhr), deren Webseiten (tagesschau.de, heute.de) sowie reichweitenstarke Fernsehnachrichtensendungen unterschiedlicher ARD-Regionalsender (BR-, MDR-, RBB- und WDR-Nachrichten) mit der von 34 privaten Medienformaten verglichen. 

Sie stellten fest, dass „die Themenvielfalt als auch die Akteurs-Vielfalt in den neun untersuchten öffentlich-rechtlichen Formaten durchweg hoch war. Natürlich wurden einige Themen deutlich häufiger behandelt als andere. Und vor allem den sehr deutlichen Sichtbarkeitsvorsprung der Regierungs- gegenüber den Oppositionsparteien kann man kritisch sehen. Die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Formate entsprach in dieser Hinsicht aber nahezu exakt der durchschnittlichen Berichterstattung der 34 Vergleichsmedien.“ (Für den MDR wurde zudem eine geringere Vielfalt als für die anderen öffentlich-rechtlichen Sender festgestellt.) 

Regionalität geht verloren, und regionale Themen kommen weniger vor

Doch gelten für die öffentlich-rechtlichen Sender nicht höhere Ansprüche? Ein Vorurteil konnten Autoren der Studie ausräumen: dass einzelne Parteien bevorzugt würden. Die wertende Darstellung der politischen Akteure fiel – unabhängig von der politischen Herkunft – bei weitem überwiegend negativ aus. 

Doch die ARD-Anstalten haben auch einen regionalen Auftrag. So soll der MDR „insbesondere das öffentliche Geschehen, die politischen Ereignisse, die Entwicklung von Klima und Umwelt, das kulturelle Leben sowie die wirtschaftliche Entwicklung in den jeweiligen Ländern und ihren Regionen darstellen und einordnen“. Wie groß ist eine solche Region? Ist das ein Landkreis? Dann müsste der MDR über alle Entwicklungen in den Landkreisen berichten. Das leistet er aber nicht. Zudem beteiligt sich der MDR wie die anderen ARD-Anstalten an einer Zentralisierung. Es werden Kompetenzcenter (Verbraucher, Gesundheit, Klima, Wissen und Reisen) und Gemeinschaftsredaktionen geschaffen. Eine Anstalt ist dabei zuständig für das Klima, die andere für Gesundheit, eine weitere für Verbraucherthemen. Die eigenen Magazine werden eingestellt, man liefert seinen Beitrag an die Zentrale. So geht Regionalität verloren, und regionale Themen und Akteure kommen bedeutend weniger vor. Damit ist der MDR nicht mehr in der Lage, dem regionalen Auftrag gerecht zu werden. Für das Hörspiel soll es eine virtuelle Gemeinschaftsredaktion geben. An diese treten die Sender etwa ein Viertel ihres bisherigen Hörspieletats ab. Regionale Handschriften werden so im Gesamtangebot abnehmen. 

Die Zahl der eigenproduzierten Beiträge nimmt ab

Mit dem 3. Medienstaatsvertrag wurde vor einem Jahr die Kultur aufgewertet. Doch die Sender haben die Kulturberichterstattung weder im Ersten noch in den eigenen Programmen ausgebaut. In den Radioprogrammen MDR Kultur und MDR Klassik wird sie sogar reduziert; dort will der MDR, so wie auch Bayern 2 und Bremen Zwei, in Zukunft meist von 20 bis 6 Uhr 40 Prozent des Programms von anderen Sendern übernehmen. Damit wird bundesweit Vielfalt abgebaut. Regionale Inhalte werden reduziert. 

Schon seit Jahren entwerten die Sender einen großen Teil ihrer Radioprogramme. Die Zahl der eigenproduzierten Beiträge nimmt ab, die Studiogespräche nehmen zu. Wer nach einer Besprechung relevanter Filme, Theaterinszenierungen, Opernpremieren, Konzerte sowie Bücher oder Musik-Alben aus der Region sucht, kann noch fündig werden. Allerdings wird die vielfältige Landschaft nicht abgebildet. Mehrere Besprechungen, die sich einem Gegenstand widmen, findet man selten. So wird man dem Kulturauftrag nicht gerecht. Da hilft es auch nicht, den Kulturbegriff, um Body Building zu erweitern. 

In der Primetime läuft kein Kulturmagazin. Animationsfilme sind seltene Ausnahme

Jeder qualifizierte Radiomacher weiß, dass die Nachrichten auf die jeweiligen Zielgruppen abgestimmt sein müssen: Es wird anders getextet, man interessiert sich für andere Themen. Es ist kein Skandal, wenn sich Nachrichten substanziell voneinander unterscheiden. Das ist gutes Nachrichtenhandwerk. Beim MDR gilt diese Grundregel jetzt nicht mehr. 

Über 20 Prozent des Etats der ARD-Anstalten fließen in die ARD. Auch die ARD hat einen Auftrag. 

So soll die Vielfalt von Kultur, Bildung, Information und Beratung sowie Unterhaltung „über alle Tageszeiten hinweg“ im Ersten wahrnehmbar sein. Doch in der Primetime läuft kein Kulturmagazin. Animationsfilme sind eine seltene Ausnahme. Genreübergreifende Angebote findet man nicht. Es gibt vor allem Krimis, Sport (vor allem Fußball bzw. Skisport) und Talkshows. Im Jahr 2022 kostete der Sport im Ersten über 430 Millionen Euro, die Information lag bei 399 Millionen. Die Sender investieren nur etwa 110 Millionen Euro im Jahr in Angebote für Kinder. Das ist etwas mehr als ein Prozent der Gesamtausgaben. Dabei werden in der Kindheit die Hör- und Sehgewohnheiten sowie die Nutzungsmuster geprägt. 

Die Intendanten wollen, dass die ARD mit Netflix und den anderen Streamern konkurrieren kann. Dementsprechend soll es national und international relevante Hochglanzproduktionen geben. Doch das Alleinstellungsmerkmal der Sender liegt im Regionalen. Da macht ihnen kein Netflix und kein Amazon Konkurrenz. Dort liegt ihr Auftrag – und daraus ergibt sich ihre Beitragsfinanzierung. 

NDR, RBB und MDR haben allerdings noch mehr zu leisten. Wenn die „ostdeutschen“ Bundesländer ein eigener Kultur- und Orientierungsraum sind, wenn sie sich auf Dauer von den anderen Bundesländern unterscheiden sollen, dann brauchen diese Länder auch ein eigenes umfangreiches Medienangebot. Der MDR dürfte also nicht mehr von anderen Sendern übernehmen, er muss – möglichst abgestimmt mit RBB und NDR – selbst mehr machen und anbieten – und zwar rund um die Uhr. 

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