Es ist keine leichte Kost, die uns Thilo Bode da serviert: Der Konsument ist der Lebensmittelindustrie hilflos ausgeliefert, ein hoher Preis ist kein Garant für ein hochwertiges Produkt, und Cem Özdemir macht den Menschen etwas vor, wenn er die Haltungsbedingungen für Nutztiere verbessern will. Bodes Argument: In der Tierhaltung existiert kein staatlich kontrollierter Gesundheitsschutz – weder bei Bio- noch bei konventionellen Hühnern. Im Interview mit NITRO geht es auch um den Fleischkonsum der Deutschen, die Nährwertampel Nutri-Score und die Qualzucht bei Legehennen und Kühen.
? Sie gründeten im Jahr 2002 die Organisation Foodwatch. Die sollte vor mehr als 20 Jahren die Rechte von Verbrauchern in Bezug auf die Qualität von Lebensmitteln verbessern und ein Gegengewicht zur Macht der Konzerne schaffen. Ist Ihnen das gelungen?
! Nur in einem sehr geringen Maße.
? Woran hat es gelegen?
er Lebensmittelmarkt ist europäisch organisiert, und das macht die Sache schwierig, weil man sich nicht nur mit einer Regierung, sondern auch mit den europäischen Institutionen auseinandersetzen muss. Im Verbraucherbereich ist zudem die Auffassung verwurzelt, dass der Verbraucher selber frei und souverän entscheiden kann, was er kauft. Und natürlich möchte niemand hören, dass er nicht frei oder souverän ist. Diese Ideologie, so nenne ich das, wird von der Industrie und von der Politik als bequemer Ausweg genutzt, um effektive Regulierungen zu verhindern. Erst wenn mal wirklich die „Hütte brennt“ wie bei BSE (umgangssprachlich auch „Rinderwahn“; Anm. d. Red.), wird etwas unternommen, aber das sind Notfallmaßnahmen, da bleibt dem Staat nichts anderes übrig, als zu handeln.
Deswegen ist die Bilanz auf der rein faktischen Ebene leider nicht überwältigend. Was sich in den Köpfen der Menschen durch unsere Tätigkeit geändert hat oder was wir verhindert haben, weil es Foodwatch überhaupt gibt, kann ich nicht sagen. Man könnte die Welt in diesem Punkt schönreden, aber das wäre Spekulation. Es gibt neben dem Lebensmittelmarkt auch weitere Märkte, die trotz vieler Missstände nicht effektiv reguliert werden, obwohl dies notwendig wäre. Dazu gehört zum Beispiel der Finanzmarkt. Wir sind gerade wieder an einer Bankenkrise vorbeigeschlittert mit der Credit Suisse. Vor 15 Jahren haben alle gesagt: Es muss sich was ändern, das darf sich nicht wiederholen! Aber es hat sich nichts geändert.
? Klingt alles ziemlich düster.
! Es gab eine positive Entwicklung, allerdings ohne durchschlagende Folgen. Aufgrund der BSE-Krise hat die EU 2002 ein vorbildliches Lebensmittelrecht beschlossen, das in allen Mitgliedstaaten gilt, die sogenannte „Basisverordnung“, die unzweideutig präventiven Täuschungs- und Gesundheitsschutz gebietet. Die nachgeordneten gesetzlichen Vorschriften missachten jedoch durchgehend diese Prinzipien, zum Beispiel Produktverordnungen wie für Honig oder Olivenöl, Regulierungen wie die Aromen- und Zusatzstoffverordnung oder Vorschriften für die Herkunftskennzeichnung. Das ist ungefähr so, als wenn bei uns 90 Prozent der Gesetze gegen das Grundgesetz verstoßen würden. Die Frage, die wir uns stellen müssen: Wie ist das möglich?
? Wenn Sie 20 Jahre zurückblicken: Was hat sich seitdem auf dem Lebensmittelmarkt, bei den Produzenten zum Beispiel in der Massentierhaltung, im Einzelhandel – etwa bei den Discountern – und bei den Kunden verändert?
! Die Anfänge von Foodwatch könnte man unter den Filmtitel stellen „Wir hatten einen Plan, aber keine Ahnung“. Alle Akteure, die Sie nannten, spielen eine Rolle. Der Handel spielt eine bestimmte Rolle, die Landwirte, Lebensmittelproduzenten wie Nestlé oder Unilever, die riesigen Konzerne der Agrarchemie wie Bayer oder BASF und natürlich die Verbraucher nebst Regierungen, die Letztere schützen müssen. Dieser Schutzaufgabe kommt der Staat jedoch nicht nach, es liegt vielmehr krasses Staatsversagen vor. Der Markt gibt dem Verbraucher nicht die Möglichkeit einer informierten Auswahl, schützt ihn nicht präventiv vor Täuschung und vor Gesundheitsgefahren. Die ökologischen Schäden der Landwirtschaft haben sich trotz Milliardensubventionen verschlimmert.
Alle Menschen haben das Recht, sich gesund, ökologisch und ausreichend zu ernähren, aber das ist nicht der Fall. Dieser Missstand herrscht nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und weltweit.
Was sich verändert hat? Bioprodukte sind fest im Markt etabliert, jedoch nur als Nischenprodukt, mit einem Anteil von sieben Prozent am Gesamtmarkt.
? Sind Sie nach 20 Jahren intensivem Engagement für Verbraucherrechte ein wenig ernüchtert, weil sich so wenig bewegt hat?
! Ernüchtert ist das richtige Wort. Als wir Foodwatch gegründet haben, sind wir fest davon ausgegangen, dass wir einen essentiellen Beitrag zur Aufklärung der Verbraucher leisten können. Auch hatten wir die Hoffnung, dass die Klimaerwärmung noch verhindert werden kann, wie es die Abkommen von Rio 1992 und Kyoto 1997 anstrebten. Wenn wir heute über die Ziele des Pariser Klimaabkommens reden, geht es nicht mehr um Schadensverhinderung, sondern nur noch um Schadensbegrenzung. Generell gilt für die NGO-Arbeit in diesen Bereichen: Wir haben fast immer recht gehabt und fast immer verloren. Diese Erkenntnis muss man erst einmal verdauen.
? Beim Klimawandel spielt die Produktion von Lebensmitteln, die Ernährung und die Aufklärung der Verbraucher eine entscheidende Rolle, und in den Medien wird Tag für Tag über Essen und Ernährung berichtet. Ist die Berichterstattung mangelhaft oder nicht ausreichend?
! Ich gebe Ihnen recht, es wird täglich über Essen und Ernährung geredet, geschrieben und gesendet und jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben, von einer revolutionären Diät über „Super-Foods“ bis hin zur Empfehlung, Insekten zu essen. Wenn Sie aber mit Journalisten reden und nachfragen, wie der Lebensmittelmarkt eigentlich organisiert ist und was sie über Lebensmittelproduktion, geschweige das Lebensmittelrecht wissen, stellt man fest: null bis wenig Ahnung. Was Medien interessiert, sind die „Tricks“ der Lebensmittelindustrie, die Massentierhaltung und was die Verbraucher dagegen tun können. Den Verbrauchern mitzuteilen, es läge nicht etwa ein Scheitern ihrerseits vor, sondern staatliches Regulierungsversagen, davor drückt man sich. Man dürfe die Verbraucher nicht demotivieren, heißt es dann.
Bettina Schellong-Lammel
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