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20 Jahre NITRO
Cartier-Bresson – das Jahrhundertauge
(c) Ihei Kimura
20 Jahre NITRO

Cartier-Bresson – das Jahrhundertauge 

Am 9. November 2004 erschien die erste Ausgabe des Medienmagazins Berliner Journalisten – der Vorläufer des heutigen Medienmagazins NITRO. Darin veröffentlichten wir ein Exklusivinterview mit Martine Franck, der Witwe des bedeutenden Fotografen und Magnum-Mitbegründers Henri Cartier-Bresson. Franck, selbst Fotografin, sprach in diesem Interview im September 2004 über ihren Mann, den berühm­testen Fotografen des 20. Jahrhunderts, der vier Wochen zuvor, im August 2004, verstorben war.  

Martine Franck, die als Fotografin oft im Schatten ihres Mannes stand, war nach Berlin gekommen, um im Maison de France eine Ausstellung eigener Fotos zu eröffnen. Dass ihre Bilder in Berlin gezeigt werden sollten, war lange vor dem Tod Cartier-Bressons geplant, und so trafen wir Martine Franck auf der Vernissage, wo sie der Journalistin Geneviève Hesse ein Exklusivinterview für das neue Magazin gab.   

In diesem ersten Interview, das sie uns für unser neugegründetes Magazin nach dem Tod ihres weltberühmten Mannes gab, sprach Martine Franck, ebenfalls Mitglied der Fotoagentur Magnum Photos und Mitbegründerin der Fondation Henri Cartier-Bresson, über Fotografie als Kunst und ihr Leben mit Henri, mit dem sie seit 1970 verheiratet war.  

Wir legen Ihnen in unserer Jubiläumsausgabe das Interview mit Martine Franck, die 2021 mit 74 Jahren starb, noch einmal ans Herz. Es wurde vor zwei Jahrzehnten geführt und ist das Zeitdokument einer Fotografin, die den Nachlass ihres Mannes verwaltete.  

Fotos über das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine entdeckt

? Sie stellen zur Zeit im Institut français Bilder über die Inszenierung der Fabeln von La Fontaine durch Robert Wilson aus. Wie sind diese Fotos entstanden?  

! Auf einer Ausstellung in Südfrankreich hat Robert Wilson meine Fotos über das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine entdeckt. Sie gefielen ihm, und er fragte mich, ob ich seine Proben begleiten möchte, um ein Buch daraus zu machen. Welch ein schönes Duo – Robert Wilson und La Fontaine! Ich habe nicht lange gezögert. Im Januar 2004 war ich jeden Tag bei den Proben in der Comédie-Française. In Rekordzeit haben wir im Juni 2004 ein Buch herausgebracht. 

Ich halte mich eigentlich nicht für eine Theaterfotografin. Ich mache Reportagen, Porträts und fotografiere auf Reisen. Die einzige Ausnahme war bisher das Théâtre du Soleil. Seit seinen Anfängen vor rund vierzig Jahren habe ich alles fotografiert. 

Der albanische Fotograf Gjon Mili war ein Freund von Henri Cartier-Bresson

? Es gibt viele Frauen, deren Werk im Schatten eines berühmten Mannes bleibt. Sei es June Newton, um bei der Fotografie zu bleiben, oder Yoko Ono, Camille Claudel – und Sie? 

! Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich versteckt habe, da ich meine Arbeit immer weiterführen konnte. Natürlich stand Henri Cartier-Bresson mehr im Licht, denn er hatte mehr Talent. Ich habe nicht darunter gelitten. Ich bin nicht frustriert, einen berühmten Mann gehabt zu haben – im Gegenteil, es war eine riesige Chance, ihm zu begegnen. 

? In welchem Jahr haben Sie ihn kennen gelernt? 

! Ich glaube, es war 1967. 

? Sind Sie sich nicht sicher? 

! Nein, ich weiß es nicht genau, vielleicht auch schon im Jahr 1966. 

? War es in der Agentur Magnum? 

! Nein, damals war ich in Paris die Assistentin von Gjon Mili, einem albanischen Fotografen. Gjon Mili war ein Freund von Henri Cartier-Bresson, und so haben wir uns getroffen. Drei oder vier Jahre später – glaube ich – haben wir geheiratet. 

? Daten scheinen nicht Ihre große Leidenschaft zu sein? Wie hat sich Ihre Kunst an der Seite von Henri Cartier-Bresson entwickelt? 

! Wir haben nicht gemeinsam gearbeitet, wir hatten unterschiedliche Themen. Persönlich habe ich viel über alte und behinderte Menschen und deren soziale Ausgrenzungen gearbeitet. Ich habe mich viel mit Porträts beschäftigt und viele Landschaften fotografiert. Ich habe sehr unterschiedliche Sachen gemacht. Zum Beispiel ist es für mich kein Problem, mit Farben zu arbeiten. Henri Cartier-Bresson tat das nicht. Er hat mich dazu ermuntert, meinen eigenen Stil zu entwickeln. Zwischen uns gab es keine Konkurrenz wie bei manchen anderen Künstlerpaaren. Es liegt wahrscheinlich daran, dass der Altersunterschied zwischen uns sehr groß war. 

Henri Cartier-Bresson war ein Meister in seiner Kunst

? Wie viele Jahre war Ihr Mann älter als Sie? 

! Dreißig Jahre. Rivalitäten entstehen zwischen Menschen derselben Altersgruppe oder zwischen Menschen, die an denselben Themen arbeiten. Henri Cartier-Bresson war schon sehr etabliert, als wir uns kennen lernten, er war schon ein Meister in seiner Kunst. Henri war sehr großzügig. Er ermutigte mich, ich selber zu sein. Und genau so ist es richtig: Man muss man selbst sein. Natürlich stand ich unter seinem Einfluss, genauso wie ich durch das Kino, die Fotografie, die Architektur beeinflusst wurde. Im Grunde habe ich aber nichts dagegen, mich beeinflussen zu lassen. 

? Haben Sie sich mit Henri Cartier-Bresson über Ihre jeweiligen Arbeiten ausgetauscht? 

! Henri zeigte mir seine Kontaktabzüge, nachdem er sie beschriftet hatte. Er fragte mich, ob ich mit seiner Auswahl einverstanden sei. Und er machte dasselbe mit meinen Kontaktabzügen. Gemeinsam gearbeitet haben wir nicht, aber wir sind gemeinsam gereist. Wir liebten es, in Museen zu gehen. Unser letzter Besuch der großen Museen von Berlin war ein richtiger Genuss. 

Er passte in kein Klischee – er was ein echter Libertaire! 

? Wie beschreiben Sie den Einfluss Ihres Mannes auf Ihre Arbeit?  

! Seine Art zu leben und seine Art zu sein haben mich geprägt. Er war ein sehr freier, sehr ehrlicher, sehr offener Mensch. Er passte in kein Klischee – ein echter Libertaire! Zu bestimmten Dingen konnte er nein sagen. 

? Zu welchen? 

! Zur Zeit ist es für mich etwas schmerzhaft, darüber zu reden. 

? In welchem Zusammenhang haben Sie im Mai 2003 die Fondation Henri Cartier-Bresson gegründet? War Ihr Mann damals schon krank? 

! Nein, wir hatten schon seit vier Jahren an dem Projekt gearbeitet. Henri Cartier-Bresson war beruhigt zu wissen, dass sein Werk nicht in alle Winde zerstreut werden würde. Er hat uns viel geholfen. Er hat Fotos klassifiziert und auf der Rückseite kleine Notizen angebracht. Die Stiftung soll sein Werk bewahren, damit es nicht zersplittert wird. Henri Cartier-Bresson gehört ein bisschen zum französischen Erbgut, obwohl ich dieses Wort nicht besonders mag. 

? Warum nicht? 

! Es klingt etwas bourgeois. Aber es ist nicht zu leugnen, dass Henri Cartier-Bresson allen gehört. 

Ausstellung der Fotografen Manuel Álvarez Bravo, Walker Evans und Henri Cartier-Bresson 

? Was sind die Ziele der Fondation Henri Cartier-Bresson? 

! Wir haben die Verantwortung für ein gewichtiges Erbe. Trotzdem darf die Stiftung kein Mausoleum werden – das war eine der Bedingungen für ihre Entstehung. Henri Cartier-Bresson wollte anderen Fotografen Räume eröffnen. Natürlich verfügen wir über die Archive und die Abzüge, um weitere Forschungen zu ermöglichen. Es gibt außerdem zwei Ausstellungsräume. 

Zur Zeit haben wir eine sehr wenig bekannte Ausstellung der Fotografen Manuel Álvarez Bravo, Walker Evans und Henri Cartier-Bresson anhand der damaligen Abzügen rekonstruiert. Sie fand in New York im Jahr 1935 statt, als die drei zukünftigen Meister der Fotografie noch ganz unbekannt waren. Sie ist eine Hommage an den Galeristen Julien Levy. Er hatte die Vision, diese damals bettelarmen, zwischen 20 und 25 Jahre alten Fotografen zu versammeln. Unsere nächste Ausstellung im Januar wurde initiiert durch das Kunsthaus Zürich. Sie wird die Verbindungen zwischen Alberto Giacometti und Henri Cartier-Bresson zeigen. 

? An welchem Thema arbeiten Sie jetzt? 

! Ich mache für das Museum Beaubourg in Tschechien eine Reportage über drei Generationen von Frauen aus derselben Familie. Neun weitere Fotografen, die – wie ich – der Agentur Magnum angehören, verfolgen ein persönliches Projekt über die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union. 

? Was sind die großen Themen Ihres Werkes? 

! Das Gesicht, das Verhalten des menschlichen Wesens, der Alltag, die Beziehungen zwischen den Menschen. Ich arbeite nicht mit Konzepten. Ich liebe es, mich mit der Realität auseinanderzusetzen, das Leben zu beobachten. Ich erfinde nichts, ich nehme auf. Unter Künstlern gibt es zwei große Richtungen: diejenigen, die in ihrem Atelier tätig sind, und diejenigen, die nach draußen gehen. Ich bin eher „im Feld“ tätig, wie Henri Cartier-Bresson und wie die Agentur Magnum, die sein Archiv verbreitet. 

? Wer sind ihre Vorbilder? 

! Die Fotografin Julia Margaret Cameron, die Anfang des 20. Jahrhunderts lebte, hat mich sehr inspiriert. Vor einigen Jahren dachte ich: Wenn sie es geschafft hat zu fotografieren, dann werde ich es auch schaffen. Sie ist ein bisschen mein Vorbild. Darüber hinaus bin ich für moderne Architektur und für alles, was mich umgibt, sehr empfänglich. Ich empfehle jungen Fotografen, nicht nur Fotos anzuschauen, sondern auch ins Theater und ins Kino zu gehen, zu lesen. Es ist wichtig, sich von seiner Zeit nähren zu lassen.  

Das Interview führte Geneviève Hesse 

Geneviève Hesse ist eine Deutsch-französische Journalistin, die seit 1993 in Berlin lebt und an der École Normale Supérieure und am Centre de Formation des Journalistes studierte. Die Deutschfranzösin schreibt für Le Nouvel Observateur, La Tribune de Genève, L’Actualité, die Berliner Zeitung, den Der Tagespiegel, Spiegel,  Psychologie Heute, Jüdische Allgemeine, Publik Forum“ und aktuell hauptsächlich für die taz. 

Buchdaten: ISBN: 978-3-7774-4347-8, Preis: 49,90 Euro  www.hirmerverlag.de 

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