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20 Jahre NITRO
Aufruhr! in den Köpfen
(c) Bernd Lammel
20 Jahre NITRO

Aufruhr! in den Köpfen 

„Aufruhr in den Köpfen“ war die Überschrift über dem Interview, das wir in der Ausgabe 1-2011 mit Günter Wallraff führten. Darin sprachen wir mit dem Vollblut-Journalisten über die Demonstrationen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf oder das Atomkraftwerk Brokdorf in den 1980er-Jahren. Damals gingen die Proteste fast ausschließlich von der Anti-Atomkraft-Bewegung aus und die Auseinandersetzungen in Wackersdorf dauerten bis 1989. Im gleichen Jahr führten die Bürgerproteste in der DDR zum Fall der Mauer, dessen Jahrestag sich am 9. November 2024 zum 35. Mal jährte. Auch über die Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 im Jahr 2010 sprachen wir 2011 mit Günter Wallraff.  

An den Demonstrationen beteiligten sich damals Zehntausende Bürger, 61 000 Menschen unterschrieben den Aufruf zum Ausstieg aus Stuttgart 21. Gebaut wird noch immer. Die Fertigstellung (geplant war 2019), wird mit Ende 2026 angegeben und die Kosten von ursprünglich 2,6 Milliarden Euro belaufen sich inzwischen auf elf Milliarden – Bürgerproteste gibt es allerdings kaum noch. 

 ? Herr Wallraff, Sie waren 1985 in Wackersdorf einer der Redner auf der Großdemo der Anti-Atomkraft-Bewegung und decken seit mehr als 40 Jahren Missstände auf. Trotzdem schienen die Bürger zeitweise in eine Art Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Nur eine Minderheit setzte sich für Bürgerrechte ein, bis Tausende Bürger in Stuttgart oder beim Castortransport wieder ihre Stimme erhoben. Hätten Sie damit gerechnet?  

! Nein. Diese Entwicklung hat mich überrascht. Ich hatte lange Zeit den Eindruck, dass der öffentliche Diskurs und Disput fehlten und die Bürger eher am Konsumieren als am Diskutieren und Kritisieren ein Interesse hatten. Die Desinformation beziehungsweise Nicht-Information durch die Boulevardpresse und bestimmte Fernsehsendungen mit Spitzeneinschaltquoten hat meiner Meinung nach erschreckende Ausmaße angenommen. Selbst in den öffentlich-rechtlichen Sendern werden brisante Themen mehr und mehr auf Sendeplätze in den späten Abendstunden verschoben. So etwas bleibt natürlich nicht ohne Folgen, eine demokratische Öffentlichkeit mit ­Breiten- und Tiefenwirkung kommt so nur schwer zustande.  

Zum Glück regte sich dann in Stuttgart massiv Widerstand gegen die Entscheidungen der Politik. Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, Alte und Junge, wollen mitreden.  

? Könnte das zum Nachdenken, Umdenken, Einlenken im politischen Lager führen?  

! Das wird sich zeigen. Die Menschen haben auf alle Fälle erreicht, dass ein Lagerdenken überwunden wurde. Bisher standen sich auf Demos oft rechte und linke Kräfte gegenüber. Wer nicht dem einen oder anderen Lager angehörte, wurde ausgegrenzt. In Stuttgart hat man sich zusammengeschlossen und in eisiger Kälte Wasserwerfern getrotzt, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.  

Scheinlegitimation für die politischen Prozesse

? So vehement, dass sogar Ministerpräsident Mappus zu Zugeständnissen bereit war. Hatte er dabei redliche Absichten oder nur die nächsten Landtagswahlen im Blick?  

! Das ist ja das Schöne an einer Demokratie. Selbst Politiker müssen hin und wieder begreifen, dass sie nicht weiterkommen, wenn sie des Volkes Willen nicht berücksichtigen – auch wenn sie es häufig nur vordergründig tun.  

? Phoenix hat alle Runden der Schlichtergespräche live übertragen, und damit sensationelle ­Einschaltquoten erzielt. In den Keller sanken dagegen die Sympathiekundgebungen für die Gegner von Stuttgart 21. Aktuelle Prognosen sagen voraus, dass es keine Verschiebung im Wählerverhalten geben wird und die CDU-Regierung tatsächlich gute Chancen hat, wieder die Mehrheit zu erhalten. Wie kommt es zu diesem krassen Realitätsverlust?  

! Die politischen Strukturen sind in Baden-Württemberg so verfestigt, dass Wähler ihr Kreuz trotzdem bei der CDU machen werden. Durch die Vermittlung Heiner Geißlers ist auch so etwas wie eine Scheinlegitimation für die politischen Prozesse entstanden. In Zukunft sollte man bei der Auswahl eines Schlichters immer nach einer neutralen und unabhängigen Person suchen, die bei solchen Verhandlungen mehr Spielraum hat, als Heiner Geißler ihn hatte. Problematisch ist außerdem, dass ein Schlichter immer erst eingesetzt wird, wenn die Situation aussichtslos scheint.  

? Besteht die Gefahr, dass Lobbyisten die Protestbewegung nur benutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen?  

! Natürlich besteht diese Gefahr. Ich habe dieses Thema schon 1973 in dem Buch und Hörspiel „Was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch“, gemeinsam mit Jens Hagen aufgegriffen. Darin ging es um eine Industrieansiedlung in einem Naturschutzgebiet. Die breite Bürgerbewegung, die sich damals vehement gegen die Industrieansiedlung stark gemacht hatte, war am Ende komplett von dem Steag-Konzern infiltriert und unterwandert. Dessen Bosse gingen sogar so weit, Bergleute dafür zu bezahlen, mit Transparenten eine Gegendemo zu veranstalten.  

Bürgerrechte durchsetzen und massenhafte Vorratsdatenspeicherung verhindern

? In den letzten Monaten hat sich nicht nur der Protest gegen Stuttgart 21 oder die Castor-Transporte geregt. Viele Menschen wehren sich auch massiv gegen die Vorratsdatenspeicherung. Das Bundesverfassungsgericht hatte die im März 2010 verworfen, nachdem es mehr als 23 000 Klagen von Bürgern gab.  

! Viele Bürger fühlen sich bei diesem Gesetz zu Recht unwohl und sehen ihre Rechte in Gefahr. Ich sehe einen positiven Nebeneffekt darin, dass die Kläger mit ihrem Einspruch eine Bundesjustizministerin unterstützen, die es als ihre Aufgabe ansieht, Bürgerrechte durchzusetzen und die massenhafte Vorratsdatenspeicherung zu verhindern. Sabine Leutheusser-Schnarren­berger ist bekanntlich 1995 als Bundesjustizministerin zurückgetreten, weil sich die Innenministerkonferenz für den „Großen Lauschangriff” ausgesprochen hatte und fast zwei Drittel der FDP dieser Maßnahme zustimmten. Diese Konsequenz verdient Respekt. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist innerhalb ihrer Partei eine Ausnahmepolitikerin.  

? Nach den Terrorwarnungen vom November 2010 bekamen die Befürworter der massenhaften Datenspeicherung Aufwind und versuchten die Bundesjustizministerin unter Druck zu setzen – ebenso die Polizeigewerkschaft und einige Richter. Halten sie dem Druck stand?  

! Das ist zu hoffen, und das trau’ ich ihr zu. Allerdings sind Verfassungsschutz und vor allem Bundesnachrichtendienst schwer zu kontrollieren, was auch Politiker beklagen, die in den parlamentarischen Kontrollgremien sitzen.  

Bundesnachrichtendienst hatte eine hochkomplizierte Abhöranlage installiert

? Sie haben ja 1977, als Sie verdeckt bei Bild in Köln arbeiteten, selbst erfahren müssen, wo überall Wanzen versteckt sein können.  

! Das fand ein Kollege, der jetzt beim ­Spiegel ist, heraus. Der Bundesnachrichtendienst hatte eine hochkomplizierte Abhöranlage in Köln installiert, eine sogenannte „Parallelschaltung“, wodurch meine sämtlichen Telefongespräche aus meiner Kölner Wohnung in die Bild-Redaktion zugeschaltet wurden, um Informationen über mich zu sammeln. Als die Sache schließlich aufflog, wurden die Nutznießer in der Redaktion zu läppischen Geldbußen verurteilt. Die Hintermänner und Drahtzieher des BND wurden nie vor Gericht gestellt. Als der parlamentarische Untersuchungsausschuss Aufklärung verlangte, hat sich Klaus Kinkel, der von 1979 bis 1982 den Bundesnachrichtendienst leitete, aus der Verantwortung gestohlen. Er sagte damals: „Von hier aus wurde nichts veranlasst.“ 

? Stimmte das?  

! Vermutlich, denn von oberster Stelle wird tatsächlich häufig „nichts veranlasst“. Das machen die Verantwortlichen der Dienste im vorauseilenden Gehorsam oft ganz allein.  

? Die Bundesjustizministerin plant ein Gesetz, das Journalisten besser vor der Staatsanwaltschaft schützen soll – speziell beim Informantenschutz.  

! Der Informanten- und Quellenschutz ist für Journalisten existenziell, und das Abhören von Journalisten oder die Durchsuchung von Redaktionsräumen widerspricht dem Grundgesetz (Artikel 5), wo es heißt: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Genau das sollte eine Bundesjustizministerin den Journalisten garantieren. Sie muss dafür sorgen, dass Abhörmaßnahmen nur noch in sehr engen Grenzen, bei kriminellen Handlungen und in begründeten Fällen erlaubt sind.  

Gefälligkeitsjournalismus und PR greifen immer mehr um sich

? Gibt es ist heute überhaupt noch einen wirklich investigativen Journalismus?  

! Es gibt schon noch Kollegen, die Missstände aufdecken. Investigativ zu arbeiten, erfordert aber Ausdauer und Anstrengung, kostet viel Zeit und bringt nur wenigen soviel ein, dass sie davon leben können. Da ist es leichter, an der Oberfläche zu schrammen. Es gibt bereits in der Journalistenausbildung Defizite. Michael Haller, der ehemalige Leiter des Lehrstuhls Journalistik I an der Universität Leipzig, war noch ein Professor, der seine Studenten lehrte, zwei bis drei Quellen bei der Recherche eines Themas zu überprüfen. Leider ist das heute nicht mehr gängige Praxis. Gefälligkeitsjournalismus und PR ­greifen immer mehr um sich, und der Gesellschaft für deutsche Sprache fällt es immer schwerer, sich für eines der vielen Unworte des Jahres zu entscheiden.  

? Der Einsatz in Afghanistan wurde ja auch lange als „Friedensmission“, nicht als Krieg bezeichnet. Haben die Bürger kein Recht auf Klartext?  

! Doch, das haben sie, aber unsere Politiker bevorzugen oft gestanzte oder geschönte Formulierungen. Begriffe wie Kollateralschaden beschreiben Verbrechen, bei denen unschuldige Menschen in einem Kriegseinsatz ums Leben kommen. Das ist zynisch.  

? Deshalb hat die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort Kollateralschaden 1999 auch zum Unwort des Jahres gewählt.  

! Wer in diesem Zusammenhang von einer „Friedensmission“ spricht, verkehrt die Tatsachen. Es ist ein Krieg und muss so genannt werden. Das hat selbst Ex-Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg klar erkannt und als Erster das Tabu gebrochen, den Krieg als Friedenseinsatz zu verklären, sondern ihn beim Namen zu nennen. Ich gebe zu, das hätte ich von einem CSU-Politiker nicht unbedingt erwartet.  

Die Mehrheit der Nichtwähler sind längst in der Spaßgesellschaft angekommen

? In diesem Jahr gibt es sieben Landtagswahlen, und die Prognosen sagen voraus, dass es weniger als 50 Prozent Wahlbeteiligung geben wird. Ist das eine Art von Bürgerprotest, wenn man sein Wahlrecht nicht wahrnimmt, weil man von Politik enttäuscht ist?  

! Ich glaube, es ist viel schlimmer. Die Mehrheit der Nichtwähler verweigert sich nicht aus Protest gegen die Politik, sondern weil sie längst in der Spaßgesellschaft angekommen ist. Für mich sind das Demokratieverweigerer, die meinen, es ginge sie alles nichts mehr an. Das ist gefährlich für die Demokratie. Denn diese Leute lassen sich beherrschen, sind unmündig und halten die Sendung Dschungel-Camp für die wirkliche Herausforderung im Leben eines Menschen.  

? Sie prangern nicht nur Missstände in Deutschland an, Sie haben sich in Istanbul für den Schriftsteller Doğan Akhanlı und für Pinar Selek und Nevin Berktas eingesetzt. Akhanlı, der seit dem 10. August 2010 in einer türkischen Haftanstalt saß, wurde vorgeworfen, er sei vor 21 Jahren an einem Raubüberfall beteiligt gewesen. Er kam, nachdem Sie sich in der Türkei öffentlich für in eingesetzt hatten, frei. Wie erklären Sie sich das plötzliche Einlenken der türkischen Justiz? 

! Bei internationalem, nachhaltigem Druck gibt die Türkei in Einzelfällen nach. Dass ich im türkischen Fernsehen seine sofortige Freilassung gefordert hatte, zeigte Wirkung. Der eigentliche Anlass für seine Inhaftierung war seine aufklärerische Arbeit als Menschenrechtler und seine Buchveröffentlichungen. Akhanlıs Roman „Die Richter des jüngsten Gerichts“ von 1999 beschreibt den vom türkischen Staat bis heute geleugneten Genozid an den Armeniern. Weil Akhanlı dieses Thema sehr hartnäckig thematisiert und noch dazu einen angesehenen Literaturpreis bekommen hat, wird er politisch verfolgt.  

? Trotz seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft hält die Türkei an den Vorwürfen gegen Akhanlı fest. Im Frühjahr soll ihm der Prozess gemacht werden. Rechnen Sie mit einem fairen Verfahren? 

! Ich befürchte, es wird kein unabhängiges Verfahren geben. Deshalb braucht Doğan Akhanlı eine große Öffentlichkeit, hier hilft nur Druck. Ich werde mich weiter für ihn einsetzen, und ich bin sicher, das tun viele andere Menschen auch. Doğan Akhanlı hat sich immer für die Menschenrechte eingesetzt und die unbewältigte Vergangenheit seines Landes aufgearbeitet. Sollte er nicht endgültig und rechtskräftig freigesprochen werden, wird der Fall dem Ansehen der Türkei schaden, einem Land, das sich um die Aufnahme in die EU bemüht.  

Doğan Akhanlı kam nach internationalem Protest aus der Haft frei, wurde aber 2017 bei einem Kurzurlaub in Spanien erneut verhaftet, weil gegen ihn ein internationaler Haftbefehl der Türkei vorlag. Einen Tag kam er frei, weil das Deutsche Außenministerium sich eingeschaltet hatte. Doğan Akhanlı war deutscher Staatsbürger, er starb am 31. Oktober 2021. 

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