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20 Jahre NITRO
Ruanda und das Trauma des Genozids
20 Jahre NITRO

Ruanda und das Trauma des Genozids 

Am 1. Juni erschien die Ausgabe 2-2012 mit dem Schwerpunkt „Fotografie“. Darin veröffentlichten wir die Fotos eines Fotografen, dessen Kreativität und außergewöhnlich klare Bildsprache die Leser auch bei anderen Fotoreportagen, die im NITRO-Magazin erschienen sind, faszinierten. Karsten Thielker war Kriegsberichterstatter und der Tod in den Krisengebieten wie Somalia, Bosnien und Tschetschenien sein ständiger Begleiter. Karsten Thielker erhielt als junger Fotograf 1995 die höchste Auszeichnung im Journalismus, den Pulitzer-Preis, für ein Foto, das den Genozid in Ruanda dokumentierte. Sein Bild zeigt geflüchtete ruandische Tutsi in einem Flüchtlingslager in Tansania, die Wasserkanister auf ihrem Kopf tragen.  

In diesem Krieg, der als Genozid in die Geschichte einging, starben vor 30 Jahren, von April bis Juli 1994, etwa 800 000 bis 1 00000 Menschen. Karsten Thielker sah als Fotograf schreckliche Dinge, die sich in sein Gedächtnis einbrannten. Nicht alles, was er sah, konnte er auch fotografieren, es war oft einfach zu grausam. Wir zeigen heute noch einmal seine preisgekrönten Fotos aus Ruanda. 

Fotos: Karsten Thielker 

Konflikt zwischen Hutu und Tutsi

Der Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen geht auf die jahrhundertelange ungleiche Machtverteilung zwischen Hutu und Tutsi zurück. Dabei beherrschte die Minderheit der Tutsi, die Viehwirtschaft betrieb, die wesentlich größere Gruppe der Hutu, die traditionell das Land bewirtschaftete. Die Spannungen in dem kleinen afrikanischen Staat spitzten sich während der Kolonialisierung des Landes drastisch zu. Sowohl die deutschen Kolonialherren (1899–1919) als auch die Belgier, die nach dem Ersten Weltkrieg die Macht in Ruanda übernahmen, übten eine indirekte Herrschaft aus. Dabei banden sie die Tutsi als lokale Machtträger in dieses System ein. Zur Begründung dieser Verfahrensweise berief man sich auf die damals vorherrschende Rassentheorie, insbesondere auf die Hamitentheorie, wonach sie den Tutsi eine rassische Überlegenheit zusprachen. Erst mit der Unabhängigkeit Ruandas 1962 errichteten die Hutus eine Diktatur und lösten somit die lange Vorherrschaft der Tutsi auf. 

Auslöser des Genozids

Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des damaligen Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana beim Landeanflug auf Kigali von einer Rakete abgeschossen. Radikale Hutu-Milizen verdächtigten sofort die Tutsi-Minderheit und riefen zur Vergeltung auf. Da man in den Jahren zuvor die ruandische Bevölkerung über die Medien immer wieder auf einen möglichen Gegenschlag der Tutsi vorbereitet hatte, war nun die Reaktion umso heftiger. Innerhalb von hundert Tagen nach dem vermeintlichen Attentat auf den Hutu-Präsidenten wurden 800 000 Tutsi und gemäßigte Hutu teilweise bestialisch ermordet. Der Völkermord fand erst nach drei Monaten und ohne internationale Hilfe ein Ende, als die Patriotische Front (RPF) des heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame, ein Tutsi, von Uganda aus einmarschierte und die Hutu-Milizen verjagte. Infolge des Bürgerkriegs, der dem Völkermord folgte, flohen weit mehr als zwei Millionen Ruander, mehrheitlich Hutus, nach Burundi, Tansania, Uganda und in den Kongo. 

Juristische Aufarbeitung

Die juristische Aufarbeitung des Völkermordes findet auf verschiedenen Ebenen statt. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR), der sich im tansanischen Arusha befindet, erhebt vorrangig gegen die Organisatoren des Völkermordes Anklage. Die meisten Täter wurden allerdings der nationalen Gerichtsbarkeit zugeführt. Da den Völkermord aber nur 20 der 785 Richter überlebt hatten, konnte Ruandas Rechtssystem die enorm große Zahl der Täter nicht bewältigen. Es konzentrierte sich daher auf die nicht vom ICTR erfassten Planer und Anstifter des Völkermordes. 1999 entschied sich die ruandische Regierung aus der Not heraus, die traditionellen Gacaca-Gerichte wieder einzuführen. Mittels dieser Dorf-Gerichte sollte die juristische Aufarbeitung des Völkermordes zur Versöhnung zwischen Tätern und Opfern führen.  

Schwierige Beziehung zu Frankreich

Der ICTR führte im Jahr 2000 Ermittlungen gegen RPF-Mitglieder, unter anderem den heutigen Präsidenten Paul Kagame, durch, die im Verdacht standen, während des Bürgerkriegs und in der Folgezeit schwere Verbrechen begangen zu haben. Die Ermittlungen wurden nicht abgeschlossen. 2006 erhob der französische Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguière gegen den ruandischen Präsidenten Paul Kagame und neun weitere Personen Anklage. Sie wurden für den Abschuss der Präsidentenmaschine am 6. April 1994 verantwortlich gemacht. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Ruanda wurden daraufhin abgebrochen. Im Jahr 2008 revanchierte sich Ruandas Regierung mit dem schweren Vorwurf, Frankreich habe 1994 eine aktive Rolle beim Völkermord gespielt. Ruanda stütze sich bei den erneuten Vorwürfen auf den Bericht einer selbst eingesetzten Untersuchungskommission, die zwei Jahre lang Augenzeugen befragt hatte.  

Im Januar 2012 schließlich wurde ein Bericht des französischen Untersuchungsrichters Marc Trévidic veröffentlicht, wonach das Flugzeug von Präsident ­Habyarimana 1994 durch eine Hutu-Rakete getroffen worden sei. Den Untersuchungen zufolge wurde die Rakete aus dem Militärcamp Kanombé, also von Habyarimanas Regierungstruppen, abgefeuert. Damit scheint die These vom bislang angenommenen Auslöser des Genozids durch die Tutsi widerlegt. 

Wie leben die Ruander heute?

Tutsi und Hutu existieren heute in Ruanda nicht mehr. Es ist verboten, diese Bezeichnungen zu gebrauchen. Alle nennen sich Ruander. Im Juni 2008 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Genozid-Ideologie verbietet. Damit wird nicht nur Mord aus ideologischen Gründen unter Strafe gestellt, sondern auch die Diffamierung von Menschen. Inzwischen leben die rund 300 000 überlebenden Opfer des Genozids wieder Seite an Seite mit den Tätern. Eine friedliche Koexistenz der beiden Bevölkerungsgruppen kann eine Verarbeitung der Geschehnisse aber nicht ersetzen.  

ICTR – Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda:  72 Urteile, davon zehn Freisprüche, gegen 17 Urteile wurde ein Berufungs­verfahren eingelegt, fünf Prozesse dauern an, ein Prozess wird erwartet, drei Fälle wurden nationalen Gerichten übergeben   

Quelle: https://unictr.irmct.org/ 

Gacaca – Dorfgerichte:  Über eine Million Fälle wurden im Rahmen dieser semi-traditionellen Gerichtsbarkeit abgeschlossen.  

Quelle: Botschaft der Republik Ruanda in Deutschland 

Weitere Quellen: 

  • Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda. Hamburg. Hamburger Edition, 2002
  • Gerd Hankel, Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Rückblick. In: Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater (Hg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Baden-Baden: Nomos, 2011; S. 167–183
  • Interview mit Gerd Hankel über die Gacaca-Tribunale in: Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 04/2004
  • www.hrw.org/de
  • www.spiegel.de
  • www.zeit.de 
  • http://de.wikipedia.org

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