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Vorratsdatenspeicherung: Endlich vom Tisch! 

„Die Richtlinie (…) des Europäischen Parlaments und des Rates (…) über die Vorratsspeicherung (…) ist ungültig.“ So knapp und klar urteilte die Große Kammer des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) über den jahrelangen Versuch der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, Endlich vom Tisch! alle Bewohner der EU ohne jeden Anlass und Verdacht umfassend auszuforschen. Aber das wollen nicht alle wahr haben.

Von Albrecht Ude

Das Vorhaben war monströs: Alle Staaten der EU sollten sicherstellen, dass die elektronischen Kommunikationsdaten ihrer Bürger gespeichert würden. Ohne jeden Verdacht, ohne jeden Anlass. Auf Vorrat, damit Strafverfolger die Daten bei Bedarf auswerten könnten.

Noch unter dem Eindruck der Anschläge vom 9. September 2001 auf das World Trade Center in New York und der Zuganschläge in Madrid am 11. März 2004 trat am 13. April 2006 die „Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Mai 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden“ in Kraft. Die nationalen Parlamente mussten nachziehen.

Die EU-Richtlinie war damals in sehr kurzer Zeit durch das Parlament gepeitscht worden. Den Umweg, zunächst eine europäische Regelung zu erwirken, der die nationalen Parlamente dann nachfolgen müssen, ist ein beliebtes Verfahren, um Diskussionen in Sachen Menschenrechte und Bürgerfreiheiten zu vermeiden, denn es wird viel zu wenig und zu spät diskutiert, was in Brüssel beschlossen wird. Die britische Aktivistengruppe Privacy International nennt das „Policy Laundering“, Gesetzwäsche, was durchaus in Anlehnung an die verbotene Geldwäsche gemeint ist.

In Deutschland galt das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ seit dem 1. Januar 2008. Alle Dienstleister, die elektronische Kommunikation anboten, also Telefon, Mobilfunk und Internetdienste, mussten die Nutzungsdaten ihrer Kunden ein halbes Jahr speichern – auf Vorrat eben. Und erst 2008 begann in Deutschland auf breiter Front eine öffentliche Diskussion.

Die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments

Mehrere Verfassungsbeschwerden wurden gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) eingereicht, ein Eilantrag vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung („AK Vorrat“) koordiniert und durch den Rechtsanwalt Reinhard Starostik vertreten. Das Bundesverfassungsgericht folgte diesem Antrag in weiten Teilen, erklärte am 2. März 2010 das Gesetz für nichtig und ordnete die Löschung bereits gespeicherter Daten an.

Das Verfassungsgericht hatte die Hürden für eine verfassungskonforme Datensammlung so hoch angesetzt, dass Techniker sich fragten, ob das überhaupt realisierbar ist. Doch Sicherheitspolitiker forderten unverdrossen die rasche Wiedereinführung der Überwachung, immer mit Verweis darauf, Deutschland missachte schließlich eine EU-Richtlinie.

Immerhin ist dieses Argument jetzt vom Tisch, ebenso wie die Vorratsdatenspeicherung insgesamt. Am 8. April dieses Jahres hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes die EU-Richtlinie beerdigt. Die vollständige Formulierung aus der deutschen Version des Urteils lautet:

„Die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ist ungültig.“

Follow the Data

Der Gerichtshof war (wie auch schon das Bundesverfassungsgericht) ins Detail gegangen, wie die VDS denn real funktioniert. Unter anderem bemängelte er, dass es keine klaren Regeln für die Speicherung und den Transport der Daten gäbe: Die müssten aber auf dem Territorium der EU bleiben, damit eine Kontrolle durch unabhängige Aufsichtsbehörden überhaupt möglich sei. Sobald die Daten etwa über Leitungen fließen, die in den USA liegen, hätten deren Geheimdienste wie die NSA Zugriff darauf. Und durch Edward Snowden wissen wir, dass das keine theoretische Möglichkeit ist. Technisch umzusetzen ist ein Transport nur über europäische Leitungen aber sehr schwierig.

Mit dieser Feststellung geht das Luxemburger Urteil über die Vorratsdatenspeicherung hinaus und betrifft auch andere Datensammlungen. Darauf haben am 25. April 2014 die deutschen Datenschutzbeauftragten in einer Entschließung hingewiesen. Da heißt es: „Dies zwingt auch zu einer Neubewertung z. B. der Fluggastdaten-Übermittlung in die USA und des Safe-Harbor-Abkommens.“ Jetzt stehen also auch internationale Abkommen in Frage.

Schwache Argumente hinter starken Worten

Zwei höchstrichterliche Urteile haben der Massenüberwachung eine Absage erteilt. Trotzdem fordern einige Politiker und Ermittler unverdrossen weiter die Einführung der VDS. Dabei scheuen sie auch vor populistischen Argumenten nicht zurück. Wurde die europäische Richtlinie einst mit der Terrorfahndung begründet, wird jetzt auf die Ermittlungen gegen Kinderpornografie hingewiesen.

Neben der Angst vor Terrorismus ist das ein weiterer Hebel, der gern genutzt wird, wenn Bürgerrechte eingeschränkt werden sollen. Ohne Vorratsdatenspeicherung seien Kinderschänder nicht zu fassen. Verantwortlich dafür, dass das nicht geschehe, seien „Netzaktivisten, die beim Ruf nach Freiheit und Bürgerrechten die Leute vergessen, die über Leichen surfen“, so schreibt Jasper von Altenbockum am 23. April in der F.A.Z. Eine starke Vorlage.

Kai-Uwe Steffens vom AK Vorrat hielt ihm einen Tag darauf auf telepolis entgegen: „Nicht der, der die Grundrechte schützen will, ist dabei in der Bringschuld, sondern der, der sie einschränken will.“ Kurzum: Wer Grundrechte einschränken will, muss Gründe dafür liefern, nicht der, der sie bewahren will.

„Niederschwelliger Grundrechtseingriff“

Das sollte auch Andre Schulz bedenken. Als Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) forderte er am 14. April 2014 in einer Pressemeldung zur Strafverfolgung von Kinderpornos: „Dazu benötigen wir jetzt umgehend die verfassungsrechtlich mögliche Befugnis zur Speicherung der Telekommunikationsdaten Grundsätze für die Anwendung der Menschenrechte. Die kurzfristige Speicherung dieser Daten stellt für jeden einzelnen von uns einen niederschwelligen Grundrechtseingriff dar.“

Diesen starken Satz sollte man bedachtsam lesen. Immerhin stellt Schulz klar, worum es ihm geht: einen „niederschwelligen Grundrechtseingriff“! Als wäre ein solcher Eingriff nicht so schlimm, wenn man ihn „niedrigschwellig“ nennt: Ein Minister, der das forderte, wäre reif für den Rücktritt.

Thomas Stadler, Rechtsanwalt und Betreiber des Weblogs Internet-Law, schreibt in seinen „Acht Mythen zur Vorratsdatenspeicherung“: „In einem Rechtsstaat gibt es keine Strafermittlung um jeden Preis. Darin besteht nämlich gerade der Unterschied zu Unrechtsstaaten wie der DDR, die jede Form der Überwachung und Kontrolle des Bürgers für legitim hielten.“

Grundsätze für die Anwendung der Menschenrechte

Und man kann Strafverfolgung auch rechtsstaatlich organisieren. Grundlage für die Arbeit von Ermittlungsbehörden müssen die „Grundsätze für die Anwendung der Menschenrechte in der Kommunikationsüberwachung“ sein, die am 24. September 2013 von mehr als 40 internationalen, zivilgesellschaftlichen Organisationen vorgestellt wurden.

13 Forderungen werden darin aufgestellt:

1 – Gesetzmäßigkeit

2 – Rechtmäßiges Ziel

3 – Notwendigkeit

4 – Angemessenheit

5 – Verhältnismäßigkeit

6 – Zuständige gerichtliche Behörden

7 – Rechtsstaatliches Verfahren

8 – Benachrichtigung des Nutzers

9 – Transparenz

10 – Öffentliche Aufsicht

11 – Integrität der Kommunikation und der Systeme

12 – Schutzmaßnahmen für die internationale Zusammenarbeit

13 – Schutzmaßnahmen gegen unrechtmäßigen Zugang

Unterschreiben Sie für Ihre Bürgerrechte

Angesichts der Diskussion in Deutschland hat Campact eine Unterschriftensammlung im Internet gestartet. Bundesjustizminister Heiko Maas wird darin aufgefordert „die Vorratsdatenspeicherung endgültig zu verwerfen und dafür zu sorgen, dass ihr auch auf EU-Ebene eine klare Absage erteilt wird“.

Bis zum Redaktionsschluss hatten über 1,2 Millionen Menschen unterzeichnet. Es dürfen gern noch mehr werden:

https://www.campact.de/vorrat/appell2014/teilnehmen/ .

Autorenkasten:

Albrecht Ude ist Journalist und Recherche-Trainer. Er lebt in Berlin und Friesland. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind die Recherchemöglichkeiten im Internet. Unter www.eine-woche-ohne.de ruft er zu mehr Vielfalt bei der Recherche auf.

Ude war einer der acht Träger des oben genannten Eilantrages an das Bundesverfassungsgericht gegen díe Vorratsdatenspeicherung.

Hyperlinks

Internationale Grundsätze fuer die Anwendung der Menschenrechte in der Kommunikationsüberwachung:

https://de.necessaryandproportionate.org/text

Pressemitteilung 54/14 des Gerichtshofs der Europäischen Union (08.04.2014):

Der Gerichtshof erklärt die Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig:

http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2014-04/cp140054de.pdf

(PDF-Datei, 3 S., 115 KB)

Urteil des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung vom 08.04.2014:

http://curia.europa.eu/juris/document/document_print.jsf?doclang=DE&text=&pageIndex=0&part=1&mode=req&docid=150642&occ=first&dir=&cid=316886

Unterschriftenaktion von Campact: Appell an Justizminister Heiko Maas zur Verhinderung der Vorratsdatenspeicherung:

https://www.campact.de/vorrat/appell2014/teilnehmen/ .

Analyse: EuGH beerdigt die Vorratsdatenspeicherung

Der EuGH ist in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung über das Bundesverfassungsgericht hinausgegangen. Zu diesem Schluss kommt der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar in einer Analyse für heise online.

Von Peter Schaar: heise.de, 08.04.2014

http://www.heise.de/newsticker/meldung/Analyse-EuGH-beerdigt-die-Vorratsdatenspeicherung-2166159.html .

Ende der Vorratsdatenspeicherung in Europa!

Entschließung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 25.4.2014:

https://www.datenschutz-hamburg.de/uploads/media/Entschliessung_DSK_Vorratsdatenspeicherung.pdf

(PDF-Datei, 1 S., 9 KB)

Die Bringschuld haben die Überwachungsfreunde

Eine Replik auf den F.A.Z.-Artikel „Die über Leichen surfen“ zur Forderung der Vorratsdatenspeicherung

Kai-Uwe Steffens: telepolis.de, 24.04.2014

http://www.heise.de/tp/artikel/41/41582/1.html

Acht Mythen zur Vorratsdatenspeicherung

Thomas Stadler, 25.04.2014

Acht Mythen zur Vorratsdatenspeicherung

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