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Für die Erde sind alle verantwortlich!
Foto © Bernd Lammel
Interviews

Für die Erde sind alle verantwortlich! 

Interview mit Antje Boetius

Antje Boetius ist seit 2015 Direktorin des Alfred-Wegner-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Die Meeresbiologin ist eine vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin. 2009 erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisder Deutschen Forschungsgemeinschaft, im vergangenen Jahr wurde sie mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet und in diesem Jahr mit dem Leibniz-Ring. Unter der Verantwortung des AWI ist im September der Forschungseisbrecher Polarstern zur „MOSAiC-Expedition“* aufgebrochen. Der Leiter der Expedition, der Atmosphärenphysiker Markus Rex, ist Wissenschaftler am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. Die Expedition wird von dort seit sieben Jahren vorbereitet, Antje Boetius ist seit Ende 2017 Direktorin und unterstützt seitdem das Gelingen der Expedition. Es beteiligen sich 600 Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen aus 19 Nationen, die zusammen ein Jahr lang die Klimaveränderungen in der Arktis erforschen. Mit NITRO sprach Antje Boetius über die anspruchsvolle Aufgabe, die Mechanismen der Klimaveränderungen zu entschlüsseln. Außerdem über Fridtjof Nansen, den Pionier der Polarforschung, der 1893 zur ersten Drifteisexpedition in die Arktis aufgebrochen war.

? Sie sind Direktorin des Alfred-Wegener-Institutes für Polarforschung. Unter Ihrer Leitung und unter der Verantwortung des Alfred-Wegner-Instituts ist der Forschungseisbrecher Polarstern im September von Tromsø in die Arktis gestartet. Die Expedition mit dem Namen „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“ – kurz MOSAiC, gilt als die größte Arktisexpedition aller Zeiten. Was genau macht sie so spektakulär und so einzigartig?

Spektakulär ist an dieser Expedition, dass es das erste Mal ist, dass ein solch multidisziplinäres Team an Wissenschaftlern ein ganzes Jahr um den Nordpol herum forscht, einschließlich der unzugänglichen polaren Nacht. Einzigartig ist auch, dass sich an der MOSAiC-Expedition mehr als 600 Wissenschaftler und Forscher aus 19 Ländern gemeinsam auf den Weg gemacht haben, den Klimawandel in der Arktis zu erforschen. Eine solche Driftexpeditionen ist nur von der Fahrt des Schiffes „Fram“ unter dem legendären Norweger Fridtjof Nansen zwischen 1893 und 1896 bekannt – und im Jahr 2015 waren Wissenschaftler des norwegischen Polarforschungsinstituts fünf Monate mit dem Schiff „Lance“ in der Arktis. Aber eine Jahres-Drift-Expedition wie die der MOSAiC hat es noch nicht gegeben.

Nansen und sein Team waren Pioniere der Polarforschung

? Sie wiederholen die Driftexpeditionen des legendären Fridtjof Nansen mit den heutigen hochmodernen Möglichkeiten?

Ja, in gewisser Weise schon. Nansen und sein Team waren damals Pioniere der Polarforschung mit einem enormen Ehrgeiz, und er stellte sich so grundlegende Fragen wie: Wie tief ist die Arktis? Gibt es noch einen versteckten Kontinent? Die damaligen Ausrüstungen und Messgeräte reichten aber nicht, um all seine Fragen zu beantworten. Beispielseise hatte Nansen nicht ausreichend Seillänge dabei, um den Meeresboden zu erreichen, als er durch die Arktis gedriftet ist. Auch wir haben heute einen großen Ehrgeiz, denn wir können in dem Gebiet noch sehr viele Dinge neu entdecken. Auf meiner letzten Fahrt in die Arktis im Jahr 2016 haben wir zum Beispiel erstmals den größten Gebirgsrücken der Arktis unter dem Eis – den Gakkelrücken – erforscht. Wir fanden heiße Unterwasserschlote, eine völlig andere Form von Lebensgemeinschaft, die wir bis dahin nicht kannten. Es ist eine Region wie ein eigener Planet im Planeten Erde, von dem wir noch sehr wenig wissen.

? Welche Forschungsschwerpunkte hat diese einzigartige Expedition?

MOSAiC hat mehrere Forschungsschwerpunkte: die Physik und Biologie des Meereises; die Prozesse in der Atmosphäre und im Ozean; die biogeochemischen Kreisläufe und natürlich das Ökosystem der Arktis.

? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse erhoffen Sie sich von dieser Expedition, die unter extremen Wetterbedingungen stattfindet?

! Wegen der extremen Temperaturen von 40 bis 45 Grad unter null und der langen Polarnacht gibt es bisher fast keine Daten aus der Region, und wir können deshalb keine Rückschlüsse ziehen und viele Fragen nicht beantworten: Wie wird die Wärme im Winter zwischen dem Ozean, dem Eis und der Atmosphäre transportiert? Gibt der Ozean in den Wintermonaten CO2 ab? Geht das Leben im Eis vollständig in den Winterschlaf? Wir erhoffen uns von der MOSAiC-Expedition ganz wesentliche Informationen, die uns die Möglichkeit geben, mit Klimamodellen die enormen arktischen Klimaänderungen nachzuvollziehen und unser Wissen über die Arktis auf ein neues Niveau zu heben. Und natürlich werden wir mit den gewonnenen Erkenntnissen die Klimamodelle und letztendlich auch Wettervorhersagen langfristig enorm verbessern können.

? Wer unterstützt die Expedition logistisch?

Vor allem die AWI-Logistik, die weltweit operiert und auf eine erhebliche Erfahrung in extremen Regionen verfügt. Neben russischen, chinesischen und schwedischen Eisbrechern, die die Polarstern mit Nachschub versorgen, kommen Helikopter und Polarflugzeuge zum Einsatz. Dazu erhalten wir umfassende Daten und Eiskarten aus der Fernerkundung des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums und der ESA.

? Wird das gesamte internationale Forscherteam aus 600 Wissenschaftlern zwölf Monate in der Arktis sein?

Nein. Wir haben die Jahresexpedition in Abschnitte unterteilt, sodass ungefähr alle drei Monate ein Austausch stattfindet. Dann kommen neue Wissenschaftler und Techniker oder Seeleute in die Arktis, damit das gesamte Forscherteam aus über 19 Ländern zu seinen Einsätzen kommt. Außerdem ist der russische Forschungseisbrecher Akademik Fedorov auf dem ersten Fahrtabschnitt im wahrsten Sinne zur Polarstern aufgebrochen und hat eine Klasse Masterstudenten mitgenommen, die die Forscher bei ihren Experimenten und dem Sammeln von Daten unterstützen.

Erforschung der Polarregionen, der Gletscher und der Tiefsee

? Wie wird an Bord der „Polarstern“ die Kommunikation mit dem Rest der Welt aufrechterhalten?

!  Es wird bei der Kommunikation Einschränkungen geben. Skypen, fernsehen oder im Internet surfen ist nicht möglich, E-Mails können nur limitiert verschickt werden, und zwar für die ganze Zeit, in der die Forscher an Bord bleiben. Dennoch versuchen wir soviel Wissen wie möglich zu übertragen indem es täglich einen Datenaustausch über Satellit gibt.

? Wie können Sie durch eine so ambitionierte Expedition, die den Klimawandel erforscht, Menschen erreichen, die ignorant sind oder den Klimawandel sogar leugnen?

Es gibt viel weniger Menschen, die den Klimawandel leugnen, als Menschen, die das Problem bereits erkannt haben und nach Lösungen suchen. Trotzdem sind die sogenannten Klimaleugner natürlich sehr laut, bespielen die sozialen Medien und verbreiten falsche Auskünfte oder gar Hass. Es gibt aber auch viele Menschen, die unentschieden sind, die sich fragen, ist es wirklich so schlimm und wie sichere ich meinen Kindern und Enkeln eine gute Zukunft? Mit denen lohnt es sich zu reden und ihnen als Augenzeugen des Klimawandels auch in den fernen Polarregionen zur Verfügung zu stehen. Wenn man direkt miteinander spricht, dann habe ich noch nicht erlebt, dass es jemand kalt lässt, dass die Korallenriffe verschwinden und dass Millionen Menschen Nahrung, Einkommen und ihre Heimat verlieren, sowie Tausende von Arten akut gefährdert sind, wenn wir die Ozeane weiter vermüllen, die Regewälder weiter abholzen und den CO2-Ausstoß nicht verringern, so dass das Meereis abschmilzt. Wir müssen aber dabei auch mehr darüber sprechen, dass wir noch das Ruder herumreißen können und es Lösungen gibt, wenn wir uns auf wirksamen Klimaschutz einigen.

? Würden Sie sich mehr Interesse der Menschen an dieserExpedition wünschen?

Ich erinnere wie ich als Kind fasziniert davon war, wie meine Eltern die Mondlandungen verfolgt haben. Da haben ganze Nationen gebannt vor dem Fernseher gesessen und gesagt: Was für ein Ereignis – die Menschen sind auf dem Mond gelandet. Aus meiner Sicht ist die Erforschung der Polarregionen, der Gletscher und der Tiefsee aber auch ähnlich aufregend und wenn wir noch besser Bilder teilen könnten, würde da sicher noch mehr Anteilnahme entstehen.

MOSAiC-App: follow.mosaic-expedition.org

? Wären Sie gern bei dieser Expedition dabei gewesen?

!  Auf jeden Fall: Aber ich war auch bereits in dieser Region unterwegs und habe in 2012 die große internationale Expedition geleitet, als wir das stärkste Meereisminimum aller Zeiten hatten. Und im Jahr 2016 leitete ich eine weitere Expedition in der Arktis – damals sind wir erst zurückgekehrt, als schon völlig Dunkelheit herrschte. Die besondere Erfahrung damals war, dass wir uns keine Vorstellungen von der hohen Dynamik von Herbst und Winter in der Arktis machen.

? Kann man die Arbeit der Wissenschaftler in der Arktis mitverfolgen?

Es gibt eine MOSAiC-App mit Positions- und Wetterdaten sowie täglichen Bildern: follow.mosaic-expedition.org. Dann kommen auch auf dem Polarstern Blog Wissenschaftler zu Wort, die von ihrer Arbeit in der Arktis berichten, aber auch Doktoranden und Journalisten, die das Leben im ewigen Eis beschreiben. Es werden täglich Bilder übertragen von der sich verändernden Landschaft, von den Messungen und vom Leben in der Polarnacht und im ewigen Eis.

Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel

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