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UTOPIE Verkehrswende
Die Platte – voll im Trend!
(c) Bernd Lammel
Interviews

Die Platte – voll im Trend! 

Noch vor wenigen Jahren waren Plattenbauten unbeliebt, wurden sogar abgerissen, gesprengt. Heute hat sich das Bild gewandelt. Etwa in Sachsen-Anhalt: Die Halle-Neustädter Wohnungsgenossenschaft hat das Projekt „Zusammenleben 4.0“ ins Leben gerufen. Das Konzept sieht vor, Wohnungen, das Wohnumfeld – das Quartier als Ganzes zu gestalten. Dabei wird der Anspruch älterer Menschen, im gewohnten Umfeld verbleiben zu wollen, ebenso berücksichtigt, wie die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um das Gesundheitsverhalten und die Gesundheitsbetreuung zu verbessern. Was „Zusammenleben 4.0“ noch alles beinhaltet und mit welchen Partnern die Wohnungsgenossenschaft das Projekt umsetzt, darüber haben wir mit dem Geschäftsführer Andreas Luther gesprochen.

? Die Halle-Neustädter Wohnungsgenossenschaft hat, so scheint es jedenfalls, ein schweres Erbe: Plattenbauten. Sind Plattenbauten auch 30 Jahre nach der deutschen Einheit noch problematisch für eine Wohnungsgenossenschaft?

! Wir bei der „Ha-Neuer Wohnen“ empfinden das Plattenbauerbe überhaupt nicht problematisch. Es war eher eine Herausforderung, der wir gerecht werden konnten. Zunächst einmal: Es handelt sich um eine solide Bausubstanz. Die Wohnungen wurden ab 1990 nach den heute üblichen Anforderungen modernisiert. Wir haben sogar gelernt, die Anordnung der Platten zu verändern, um großzügigere Zuschnitte der Wohnungen, wie etwa mehr Räume oder Maisonette-Lösungen, zu erhalten. Entscheidend ist, dass wir bei hohen Standards und einer hervorragenden Infrastruktur bezahlbaren guten Wohnraum schaffen können.

? Halle-Neustadt war zu DDR-Zeiten ein Stadtteil, in dem die Menschen sehr gern gelebt haben, weil sie ihre Wohnbedingungen in modernen Wohneinheiten mit Bad und Balkon enorm verbessern konnten. Nach dem Mauerfall und Anfang der 1990er Jahre lebte ein Viertel der Bevölkerung in Plattenbauten. Wie viele Menschen leben heute in Halle-Neustadt, und wie viele Wohnungen – saniert und unsaniert – gehören zur Halle-Neustädter Wohnen?

! In Halle-Neustadt leben zurzeit mehr als 45 000 Menschen. Unsere Wohnungsgenossenschaft besitzt etwa 3 000 Wohnungen, die wir alle umfangreich modernisiert haben.

? Die meisten Plattenbaugebiete in Deutschland Ost und West haben ein negatives Image. Die Bewohner leben häufig in prekären finanziellen Verhältnissen, sind eher bildungsarm und überaltert – man spricht sogar von Ghettoisierung. Wie ist die Bewohnerstruktur von Halle-Neustadt heute?

! Ich würde den Begriff der Ghettoisierung gern vermeiden. Nicht der Gebäudetyp allein entscheidet über die soziale Situation und die Abgeschlossenheit eines Stadtteils. In Halle-Neustadt gab es zum Beispiel einen hohen Anteil von Akademikern, der sogar noch bis 2009 gewachsen ist. Mit der Binnenwanderungen nach der Wende, die zur Segregation geführt hat, ist das nicht gänzlich nivelliert worden. In Halle-Neustadt sind die Bevölkerungsverluste in den letzten Jahren auf unter ein Prozent jährlich gesunken, und die Hoffnung ist gestiegen, die Quartiere stabilisieren zu können. Das gravierendste Problem in den von uns betreuten Quartieren aber ist die sich immer deutlicher abzeichnende Alterung der Bevölkerung.

? Auch wenn Sie den Begriff lieber vermeiden, würde ich ihn gern noch einmal verwenden, weil er ein Kernproblem beschreibt: Wie wollen Sie der Ghettoisierung entgegenwirken und eine ­Einwohnerstruktur aus allen Einkommensschichten schaffen?

! Quartiere an Entwicklungstrends anzupassen und deren Lebensqualität zu erhöhen, attraktiv zu bleiben oder zu werden, ist eine Aufgabe, die ein Wohnungsunternehmen nicht allein, sondern mit der Stadt und anderen Akteuren zu bewältigen hat. Wichtig ist, die damit verbundenen Herausforderung überhaupt anzunehmen und die erforderliche Vernetzung bei deren Bewältigung zu organisieren. Wenn die Ha-Neuer Wohnen nach der Modernisierung des Wohnungsbestandes jetzt ein Quartierszentrum baut und die Stadt die sich angrenzenden Freiraumflächen großzügig und nach neuen zukunftsweisenden Mobilitätsansprüchen gestaltet, wird sehr viel für die Aufwertung des Quartiers getan. Das wird helfen, die Bewohner zu mehr Engagement zu bewegen. Mit einer entsprechenden Digitalisierung sind die Jüngeren zu gewinnen. Im Übrigen hat die Stadt Teile des Quartiers zur Bebauung mit Einfamilienhäusern freigegeben, das wird die Durchmischung ebenfalls befördern. Es lässt sich also etwas bewirken.

? In vielen Städten in Deutschland steigen die Mieten überproportional – bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper, die Preisspirale zeigt steil nach oben und führt dazu, dass Menschen aus den Innenstädten wegziehen – die Vermietung in Plattensiedlungen zieht an. Wie ist die Situation in der Landeshauptstadt und wie in Halle-Neustadt? Ist die steigende Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum bei Ihrer Wohnungsgenossenschaft spürbar?

! Die Ha-Neuer Wohnen überzeugt viele Menschen mit niedrigen Mieten: 750 Euro für eine topsanierte 100 Quadratmeter große Fünfraumwohnung übt eine hohe Anziehungskraft auf junge Familien mit Kindern aus. Es wird, abgesehen vom Wunsch nach technischen Erneuerungen, auch keine flächendeckende Mietpreisanhebung in den nächsten Jahren geben. Das wirkt sich mehr und mehr bei der Vermietung aus.

er Wohnraum soll bezahlbar bleiben, die Wohnungen und das Umfeld sollen trotzdem attraktiv sein. Das klingt nach Widerspruch, denn attraktiver Wohnraum ist teuer, und auch Sie müssen wirtschaftlich arbeiten. Wie also wollen Sie das schaffen?

! Es ist uns bei der Bauausführung gelungen, durch langjährige Verträge und ­einer Verbundenheit mit regionalen Bau­unternehmen die Kosten der Renovierung niedrig zu halten. Und wir erhalten die in Halle-Neustadt übliche Fernwärme sehr kostengünstig. Wir haben als Akteur unmittelbar vor Ort gelernt, erforderliche Netzwerke zu knüpfen, um gut mit Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen und der Kommune zusammenzuarbeiten. Es ist eine Mixtur von Maßnahmen, die auch Fördermittel umfassen, die uns die Lage versetzt, unsere Ziele zu verfolgen. Das bisher Erreichte stimmt uns optimistisch.

? Sie haben das Projekt Zusammenleben 4.0 ins Leben gerufen? Was bedeutet Zusammenleben 4.0?

! Mit dem Konzept soll den älter werdenden Menschen das Leben in den eigenen Wohnungen erleichtert und im Alter, etwa bei Pflegebedürftigkeit, überhaupt ermöglicht werden. Es bündelt verschiedene Maßnahmen, die von Assistenztechniken, gesundheitlicher Betreuung bis zur Hilfe bei der Organisation von Pflege reichen. Technische Möglichkeiten werden in einen umfassenden, auf die Menschen bezogenen Service eingebettet und auf diese Weise die Akzeptanz der Nutzung technischer Assistenz, das ist ein häufig vernachlässigter Umstand, erhöht. Das Konzept sieht vor, die Wohnungen, das Wohnumfeld und das Quartier als Ganzes unter den Anforderungen eines schrittweise auszudehnenden Angebotes an Serviceleistungen zu gestalten. Der Anspruch Älterer, im gewohnten Umfeld verbleiben zu wollen, bezieht sich auf diese drei Bereiche. Die eigene Wohnung und das Quartier werden als attraktiv angesehen, wenn bei der Nutzung von Vernetzungs- und Mobilitätstechniken diese im Zusammenhang gestaltet werden. Das gilt nicht nur für Ältere! Unter diesem Anspruch wurde das Konzept entwickelt. Mit Zusammenleben 4.0 verfolgen wir ein Vorhaben, das ausbaufähig ist und zur Mitwirkung und Kooperation einlädt. Die dazu erforderliche Kommunikation wird noch stärker als bisher in das Quartier und die Stadt getragen. Insbesondere wird es verstärkt zur Zusammenarbeit mit den Unternehmen kommen, die quartiersbezogene Dienstleistungen und Technik bereitstellen und diesen konzeptionellen Ansatz unterstützen. Bei abgestimmtem Handeln solcher Akteure lässt sich sehr viel von dieser Konzeption umsetzen.

? Wie und wann kam es zu dieser Idee?

! Die Ha-Neuer Wohnen hat das Konzept Zusammenleben 4.0 mit Blick auf die demografische Entwicklung im Quartier entwickelt. Das begann schon 2012. So wurden zum Beispiel hauswirtschaftliche, betreuende und pflegerische Dienstleistungen für die Bewohner organisiert und Wohnungen angepasst. Durch Kooperation mit Partnern aus der Wissenschaft hat das Projekt ab 2015 beträchtlich an Fahrt gewonnen. Wir denken jetzt daran, die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um das Gesundheitsverhalten und die Gesundheitsbetreuung zu verbessern. So erproben wir gerade mit einigen unserer Mieter ein System, Vitaldaten zu erfassen, die von Haus- und Fachärzten ausgewertet werden und im Bedarfsfall zur medizinischen Intervention führen. In der häuslichen Pflege gibt es heute verschiedene Möglichkeiten, Technik einzusetzen. Exoskelette, die wir auch ­erproben, können Pflegekräften in bestimmten Fällen die Arbeit sehr erleichtern.

? Mit welchen Partnern arbeiten Sie bei diesem anspruchsvollen Projekt zusammen?

! Hier sind die Fraunhofer-Gesellschaft und die Martin-Luther-Universität Halle zu nennen, mit denen zusammen wir schon einiges umgesetzt haben und nun mit einer in Aussicht stehenden Förderungen von Bund und Land in eine neue, erweiterte Phase der Konzeptionierung und Umsetzung eintreten.

? Werden Sie finanziell und logistisch von der Stadt Halle beziehungsweise vom Land unterstützt?

! Die Bereitschaft von Land und Kommune ist in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen, zu helfen und mitzuwirken. Ohne deren Unterstützung wäre das im Bau befindliche Quartierszentrum, das zum Dreh- und Angelpunkt des Projektes werden wird, nicht realisierbar gewesen. Die Freiraumgestaltung „Grünes Band der Generationen“ rund um das Zentrum wird von der Stadt realisiert. Wir haben sehr viel direkten Zuspruch von Ministerpräsident Haseloff erfahren. Mit dem Abschluss einer Quartiersvereinbarung haben wir die quartiersbezogene Zusammenarbeit mit der Stadt und anderen Akteuren intensivieren können.

? Mit solchen Stadtteilzentren könnte die Vereinsamung im Alter gestoppt werden – aber wie könnten außerdem positive Impulse für eine gute soziale Durchmischung der Mieter gesetzt werden?

! Die Aufwertung der Quartiere und damit die soziale Durchmischung zu erreichen, ist eine große, komplexe Aufgabe, die die Wirkungsmöglichkeiten einer Wohnungsgenossenschaft übersteigt. Aber unser lokal zentriertes Angebot, das vorhandene und das in der Konzeption angelegte, ist ein wichtiger Bestandteil von Aktivitäten, um dieses Ziel gemeinsam mit der Stadt Halle zu erreichen. Das Handlungskonzept der Kommune für Halle-Neustadt sieht für die nächsten Jahre weitreichende Änderungen für den Stadtteil vor. Dazu gehören die Erweiterung der Infrastruktur, die Freiraumgestaltung, die Entwicklung von Mobilitätskonzepten und Baugenehmigungen für Ein- und Zweifamilienhausentwürfe.

? Was viele nicht wissen: Vorbild für die Plattenbauten in Halle-Neustadt war das Bauhaus-Design – 2019 feierte Bauhaus sein hundertjähriges Jubiläum. Beeinflusst das berühmte Bauhaus heute die Sanierung der Plattenbauten?

! Halle-Neustadt trägt die Handschrift des Bauhausarchitekten Richard Paulick und knüpft an den Versuchen des Bauhauses an, seriell tauglich, wirtschaftlich zu bauen. Es gibt jetzt Anstrengungen, Gebäudeensembles unter dem Blickwinkel des Denkmalschutzes zu erhalten. Die Stadtentwicklung geht unter anderem mit der Ausrichtung auf die Quartiere, die Freiräume, eine innovative Infrastruktur, Mobilitätskonzepte und die Digitalisierung und anderem neue Wege. Dabei lebenswerte Städte zu schaffen, entspricht den Bauhaus­idealen.

? Wie viele Gebäude gehören zum Projekt Zusammenleben 4.0 – wie sehen die Wohnungen aus beziehungsweise mit welchen Standards werden sie ausgestattet?

! Bei Modernisierung wurden in der Oldenburger Straße von 60 Wohneinheiten zunächst zehn für Belange der Rehabilitation nach überstandener Krankheit, etwa nach einem Krankenhausaufenthalt, hergerichtet. Bewohner des Quartiers mit einem temporären Handicap werden hier betreut, um ihnen die Rückkehr in die angestammte ­Wohnung zu ermöglichen und eine Einweisung in ein Pflegeheim zu vermeiden. Sie müssen dafür nicht extra bezahlen, das wird aus der laufenden Miete bestritten. Für solche wohnortnahen Angebote gibt es einen großen Bedarf und eine hohe Akzeptanz. Die Ha-Neuer Wohnen hat hier insgesamt ca. 6,0 Millionen Euro investiert. Wir haben jetzt Lösungen entwickeln, um bei Bedarf jede Wohnung mit einer erforderlichen technischen Assistenz auszustatten zu können ohne größere Umbauten vornehmen zu müssen. Die Wohnung verfügen über eine perfekte digitale Infrastruktur und wir werden künftig 5G-Standards erfüllen. Digitalausstattungen der Wohnung für die Freizeit wie auch die zur Erfassung medizinischer Vitaldaten können bei Bedarf nachgerüstet werden. Im Übrigen sind alle unsere Wohnungen umfangreich energetisch saniert.

? Ist das positive Modell auch auf andere Regionen übertragbar? Hochhäuser gibt es schließlich in ganz Deutschland.

! Schon in der Konzeptionsphase haben Überlegungen eine Rolle gespielt, wie dieses Modell, das auf staatliche Förderung angewiesen ist, auf andere Quartiere in Deutschland und den ländlichen Raum übertragbar ist. Das wird bei der Realisierung noch an Bedeutung gewinnen. Die Lösungen, die erarbeitet werden, sind als eine Art Instrumentenkasten auf andere Anwendungsfälle übertragbar. Die demografische Situation in Deutschland und Europa und die erforderliche Vernetzung der Akteure erlaubt überhaupt nicht, Zusammenleben 4.0 als Insellösung auffassen zu können.

? Wie lange läuft das Projekt, beziehungsweise wann wird es abgeschlossen sein?

! Die Idee wurde in unserem Unternehmen schon seit langem diskutiert. Wir hatten die Zeit ins Auge zu fassen, wenn die Babyboomer Generation alt wird und besondere Anstrengungen nötig sind, die damit verbundenen Problem zu lösen. 2015 haben wir mit wissenschaftlicher Hilfe durch die Fraunhofer-Gesellschaft und die Martin-Luther-Universität ein umfassendes Konzept ausgearbeitet und sind die ersten Schritte der Realisierung gegangen. Wir werden einen vorläufigen Abschluss 2030 erreichen, aber auch danach wird das Projekt noch weitergeführt werden.

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