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UTOPIE Verkehrswende
Wer hört mit? – Interview mit Raimund August – Spion für die Organisation Gehlen – Vorläufer des BND
Foto: Bernd Lammel
Interviews

Wer hört mit? – Interview mit Raimund August – Spion für die Organisation Gehlen – Vorläufer des BND 

? Herr August, Sie waren Anfang der 1950er-Jahre als Spion für den Westen tätig. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

! Um diese Frage zu beantworten, muss ich weit zurückblicken. Der zweite Weltkrieg lag sieben Jahre zurück. Die Bundesrepublik Deutschland und die Demokratische Republik existierten gerade mal seit drei Jahren. Ein großer Teil der gegenwärtigen Rentner war damals noch gar nicht geboren. Und jetzt zu Ihrer Frage: Mein Vater war Architekt und durfte nicht mehr selbständig arbeiten. Ich kam also aus einer bürgerlichen Familie. In der Anfangszeit der DDR war bürgerlich zu sein, ein Kainsmal. In der Schule wurde ich damals von einem Lehrer gemobbt, der Vorsitzender in der SED in der Schule war. Er verbreitete, dass ich einer aussterbenden Klasse angehöre. Das ging so weit, dass er meine Zensuren manipulierte. Ich zeigte die von ihm benoteten Arbeiten meiner Mutter, die sie bei einer Lehrerversammlung dem Kollegium vorlegte, sodass alle Arbeiten geändert werden mussten. Das machte mich wach, und ich begann mich mit 12 Jahren für die Fragen des Sozialismus und des Kapitalismus zu interessieren. Meine Bewerbung für den Besuch einer weiterführenden Schule wurde mit einem Satz abgelehnt: „Kontingent erfüllt“.

? Wie war damals die Stimmung in der Bevölkerung?

! Ziemlich gedämpft, man kritisierte nur leise und von Angst geprägt. Es stand immer die Fragen im Raum: Wer hört mit? Ich kannte eine Gastwirtschaft, in der nach Feierabend hinter verhängten Fenstern zurückgebliebene Stammgäste, zu denen auch ich gehörte, sich politisch Luft verschafften.

? Sind Sie damals ab und zu nach Westberlin, also über die Sektorengrenze gefahren?

! Die Sektorengrenze war damals mehr oder weniger nur theoretisch vorhanden. Eines Tages wollten mein bester Freund und ich seine Schwester in einem Westberliner Flüchtlingslager besuchen. Weil mein Freund den Zug verpasste, kam ich allein in Berlin an und besuchte seine Schwester im Lager. Auf dem Rückweg zum Bahnhof wollte ich in einem Café eine Schachtel Zigaretten kaufen, hatte aber kein Westgeld. Ich fragte den Wirt, ob er auch Ostgeld nehme und wurde daraufhin von einem jüngeren Mann angesprochen, der sich dann ganz ungezwungen mit mir unterhielt. Es stellte sich schließlich heraus, dass er ein Mitarbeiter der Organisation Gehlen war, dem Vorläufer des BND.

? Was wollte der Mann?

! Er gab mir im Laufe unserer Unterhaltung eine Telefonnummer, die ich mir einprägen und den Zettel dann wegwerfen sollte. Wenn ich an einer Mitarbeit für den Nachrichtendienst interessiert sei, könne ich ihn beim nächsten Westberlinbesuch anrufen.

? Wie haben Sie reagiert?

! Ich erklärte, mir dies überlegen zu müssen. Das es gefährlich sein würde, war mir völlig klar. Am nächsten Tag entschloss ich mich zur Mitarbeit. Meine Familie durfte davon natürlich nichts wissen. Ich weihte meinen völlig verblüfften Freund ein. Auf meine Frage, ob er sich eventuell beteiligen würde, erklärte er sich nach einigem Überlegen einverstanden.

? Erinnern Sie sich an Ihren ersten Auftrag?

! Mein erster Auftrag war, den sowjetischen Militärflughafen Welzow, der sich im Ausbau befand, zu untersuchen. Als Novum erwies sich, dass statt Düsenjäger mehrmotorige Düsenbomber dort ihre Übungsflüge abhielten. Es ging um die Ausbildung von DDR-Personal.

? Später ging es um militärische Objekte?

! Insgesamt ging es auch weiterhin um sowjetische Militärobjekte. Wenige Jahre zuvor wurden Menschen für ähnliche Tätigkeiten noch von den Russen erschossen. Wir wussten das, und uns wurde auch nicht verborgen, dass man uns im Fall einer Entdeckung auch nicht helfen könne.

? Gab es für die Spionage-Arbeit irgendeinen einen Anreiz?

! Der Anreiz bestand darin, die DDR zu schädigen. Eine Bezahlung lehnten wir ab, wir erhielten nur Auslagen für Übernachtung, Verpflegung und Fahrkarten ersetzt.

? Wie oft haben Sie sich mit dem Gehlen-Mitarbeiter vom Nachrichtendienst getroffen, um Informationen weiterzugeben?

! Manchmal wöchentlich, manchmal seltener – je nachdem, welche Aufträge wir erhielten.

? Wie lange waren Sie als Spion tätig?

! Ungefähr ein Jahr, danach wurde ich von meinem besten Freund verraten. Er versprach sich davon eine hauptamtliche Tätigkeit bei der Stasi, die er auch erhielt. Ich war doch ziemlich geschockt, als ich bei den Stasiverhören von dem Verrat erfuhr.

? Sie sind dann wegen Hochverrat verurteilt worden?

! Verurteilt wurde ich zu zehn Jahren Zuchthaus nach Artikel 6 der Verfassung der DDR und Kontrollratsdirektive Nr. 38. Letzteres durfte die DDR gar nicht in ihre Urteile aufnehmen, das oblag allein den Alliierten – Amerikanern, Engländern, Russen. Nur die Eröffnung des Prozesses war öffentlich, die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit wegen Gefährdung der allgemeinen Sicherheit statt. Selbst die Leitung der Evangelischen Kirche Deutschlands unter Präses Scharf, die aus Westberlin angereist war, musste den Saal verlassen. Mein Stasihauptvernehmer blieb einsam und allein auf seinem Stuhl sitzen und ging dann mit ins Beratungszimmer. Angeklagt wurde neben mir ein anderer Freund, Sohn eines Pfarrers, und dessen Freund, die auch verraten wurden. Er erhielt sieben Jahre Zuchthaus, sein Freund ein Jahr wegen nicht bewiesener Mitwisserschaft.

? Musste Sie die gesamte Zeit absitzen?

! Nein, ich kam nach sechs Jahren frei. Mein Freund, der Pfarrerssohn, nach zwei Jahren. Dort hatte die Kirche ihren Einfluss geltend gemacht. Meine Mutter, die bis ins Vorzimmer Wilhelm Piecks vorgedrungen war, bezog sich bei ihrer Forderung auf Strafreduzierung auf diesen Zusammenhang. Das führte zu der oben genannten Kürzung.

? Was haben Sie nach so einer langen Zeit im Gefängnis getan?

! Nach meiner Entlassung aus dem Arbeitslager (mit gebrochenem Knie) bekam ich keinen Personalausweis, sondern lediglich ein Faltblatt. Außerdem musste ich mich wöchentlich beim Kreispolizeiamt melden. Nachdem ich nach Wochen einen Personalausweis erhielt, fuhr mich mein Bruder mit dem Motorrad nach Berlin, und ich setzte mich mit der S-Bahn nach Westberlin ab.

? Sie kamen ins Erstaufnahmelager für DDR-Bürger?

! Ja, so war es.

? Das ist jetzt mehr als 60 Jahre her. Was haben Sie gedacht, als Anke Ertner Sie kontaktiert hat, um mit Ihnen über Ihre Zeit als Spion zu sprechen?

! Ich habe mich nicht gesträubt, denn ich hatte den Eindruck, dass sie einen authentischen Film drehen wollte.

? Wenn Sie sich an die Zeit vor mehr als 60 Jahren zurückerinnern, war es aus heutiger Sicht die richtige Entscheidung, als Spion zu arbeiten? Würden Sie es noch mal genauso machen?

! Ich habe meine damalige Entscheidung nie bereut, ging es doch um die Bekämpfung einer Diktatur. Die Frage, ob ich meinen damaligen Einsatz wiederholen würde, erübrigt sich durch mein jetziges Alter.

Zu bemerken wäre noch, dass zwei von mir verfasste dokumentarische Romane von insgesamt 1.200 Seiten beim Engelsdorfer Verlag Leipzig erschienen sind.

Das Gespräch führte Bettina Schellong-Lammel

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