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KRIEG UND FRIEDEN
Das Problem hinter Cancel Culture
Medienwandel

Das Problem hinter Cancel Culture 

„Ob jemand Wechsel fälscht, sagt nichts über sein Geigenspiel“, hat Oscar Wilde einmal geschrieben. Die sogenannte Cancel Culture sieht das anders. Kann einer ein Mörder und begnadeter Maler sein, Autor gefeierter Romane und in seiner Jugend Mitglied der SS, des sexuellen Missbrauchs schuldig und ein herausragender Schauspieler?

Pharao Tutanchamun, Kaiser Nero, Theoderich der Große – nie gehört. Oder doch? Dabei hatten sich ihre Nachfolger und Widersacher so viel Mühe gegeben, ihr Andenken für alle Zeiten auszulöschen. Aber irgendwie hat es offenbar nicht funktioniert mit der antiken Cancel Culture und dem ewigen Ausradieren der Erinnerung an sie. Wir wissen von ihnen und ihren Taten noch nach Tausenden von Jahren und kennen ihre Gesichter und Geschichten ebenso wie die von Leo Trotzki oder Lew Kamenew, ungeachtet der Bemühungen von Stalins Bildfälschern, sie aus Texten und Fotos verschwinden zu lassen.

Heute sind dafür Retuschepinsel, Schere und Klebstoff nicht mehr nötig; mit Photoshop geht das weit schneller und unauffälliger. Wie überhaupt die digitalen Techniken Geschichtsklitterungen ungemein vereinfacht haben. In George Orwells Roman „1984“ mussten noch alte Zeitungen mühsam neu gesetzt und gedruckt werden, um unerwünschte Personen auch rückwirkend verschwinden zu lassen. „Vaporisieren“ nannte er das, „verdampfen“. Eine passende Begriffsbildung, löst sich doch so die Erinnerung an die Unperson in Rauchschwaden auf, bis nichts mehr bleibt.

Die Wurzeln von Cancel Culture

Der Begriff Cancel Culture wird vor allem von ihren Gegnern verwendet. Wie bei den Bemühungen um geschlechtergerechte oder antirassistische Sprache ist die damit gemeinte kulturelle Bewegung ein Ausdruck von Political Correctness. Ähnlich wie bei der Sprache begann es mit einer guten Idee und unterstützenswerter Haltung und entwickelte sich zu einer oft fanatischen Positionierung. Und ebenso wie die Begründungen von Gendersprache nicht konsistent und widerspruchsfrei sind (vgl. NITRO 3/2021, S. 72 ff), trifft dies auch auf die Grundlagen der Cancel Culture zu (die hier in Ermangelung eines vertrauten positiven Begriffs weiter so benannt werden soll).

Schon die oben genannten Beispiele belegen allerdings, dass die – häufig konservative – Kritik an Cancel Culture, diese sei eine von links befeuerte Bewegung, nur zum Teil richtig ist. Schon im Alten Ägypten wurden die Gesichter und Namenskartuschen von Verfemten aus Reliefs gemeißelt. Die Griechen bemühten sich – ebenso vergeblich – den Namen des Herostratos für alle Zeiten dem Vergessen zu überantworten. Dieser hatte den Tempel der Artemis in Ephesos, eines der Sieben Weltwunder, in Brand gesetzt, aus keinem anderen Grund als dem, dass sich die Menschen für immer an seinen Namen erinnern sollten. Das hat geklappt – nicht dagegen die Bemühungen seiner Richter, die gerade dies bei Androhung der Todesstrafe verhindern wollten.

Im alten Rom wandte man für das institutionalisierte Vergessen die damnatio memoriae an, wobei die Römer eigentlich von abolitio nominis sprachen. Auch hier wurden Namen aus Inschriften entfernt, Porträtbüsten vernichtet (oder pragmatischer zu neuen Köpfen umgestaltet, weswegen diese heute im Verhältnis zu ihrem Körper oft zu klein, die Ohren hingegen zu groß wirken), mit ihnen verbundene Gebäude niedergerissen. Die nötigen Verfahren, etwa wegen Hochverrats, strengte der Senat oder der kaiserliche Nachfolger stets nach dem Tod des in Ungnade Gefallenen an – ein deutlicher Unterschied zur heutigen Cancel Culture. „Die dabei festgestellten Verbrechen und Laster bieten den Anlass zur damnatio memoriae […] Zugrunde liegen jeweils politische Konflikte und Gegensätze […], so dass eine damnatio memoriae nicht notwendigerweise etwas über die tatsächlichen Leistungen und Verdienste eines Kaisers aussagt“, schreibt Alexander Maskowsky zum entsprechenden Stichwort im Neuen Pauly – Enzyklopädie der Antike.

Das Zitat ist für die aktuelle Diskussion hilfreich. Nicht allein, weil die damnatio memoriae politischer Gründe wegen verhängt wurde – was bei politisch handelnden Kaisern mitunter seine Berechtigung gehabt haben mag – sondern wegen des Verweises auf „Laster“ und „tatsächliche Verdienste“.

Zwar sind die Auswirkungen der Cancel Culture, insbesondere im amerikanischen Universitätsbetrieb, unerfreulich genug – übersehen werden sollte dabei allerdings nicht, dass sich diese Haltung mit nachgerade weltpolitischer Bedeutung vier lange Jahre weit ausgeprägter an der Spitze der USA manifestierte. Der Umgang von Donald Trump mit Kritikern, Menschen und Medien, die seine Weltsicht nicht teilten, und den Fakten, auf denen sich Urteile und Meinungen begründen, stellt jede Cancel-Culture-Diffamierung in den Schatten. Allein ist er damit nicht, lediglich besonders laut und tölpelhaft.

Was Cancel Culture will

Die Kernforderung dieser kulturellen Bewegung lässt sich mit den Worten zusammenfassen, dass öffentlich wirksame Menschen die ihnen entgegengebrachte Aufmerksamkeit nicht verdienen, sofern sie durch ihre Tätigkeit oder privates Fehlverhalten für ihre Kritiker hinreichenden Anlass für Missbilligung zu bieten scheinen. Daher muss man ihnen zur Vermeidung von Ungerechtigkeiten diese Aufmerksamkeit entziehen und sie daran hindern, weiter tätig zu bleiben, und der Anlass ihrer Zurückweisung muss öffentlich gemacht werden.

Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf heute Lebende, sondern auch auf Verstorbene. Ähnlich wie Papst Stephan VI. im Jahr 896 die verrottete Leiche seines Vorgängers Formosus ausgraben, in Papstgewänder kleiden und in einem Prozess verurteilen ließ, ergeht es heute Menschen, die mit unerwünschten, wenn auch weit zurückliegenden Aktivitäten aufgefallen sind. Maßstab ihrer Verurteilung ist also nicht, was zu ihrer Zeit als kritikwürdig galt, sondern was manchen heute im Rückblick so erscheint.

Nehmen wir als Beispiel Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830), einen der bedeutendsten Anatomen seiner Zeit. Der war nun nicht allein ein Kind der Aufklärung, sondern nach heutigen Maßstäben auch ein Rassist, der sogar Sektionen und Vermessungen vornahm, „um phänomenologische Annahmen einer engen Verwandtschaft zwischen Menschen afrikanischer Herkunft und Affen auf anatomischer Grundlage zu verifizieren“. So ist es auf der Webseite eines „postkolonialen Forschungsprojekts“ zu lesen. Damit trug er „dazu bei, die Theorie des ,wissenschaftlichen Rassismus‘ salonfähig zu machen und kolonialrassistisches Handeln zu legitimieren. Sie wurde auch im Nationalsozialismus positiv rezipiert. So wurde 1940 […] ein Platz nach Soemmering (sic!) benannt.“

Seine Haltung zu dieser Frage ist mit unseren Werten nicht vereinbar, war aber zu seiner Zeit in Europa allgemein verbreitet. (Auch Kant soll man ja nicht mehr lesen, da er ein Rassist gewesen sei.) Will man diese Ungleichheitsthese nicht als bloßes Vorurteil übernehmen, muss man sie wissenschaftlich überprüfen. Liest man sein Büchlein „Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer“ von 1784, und nicht nur die Website, bestätigt die Lektüre zunächst durchaus, dass er an mehreren Stellen von bestimmten anatomischen Strukturen behauptet, diese wichen von denen der Europäer ab und seien ähnlich bei Affen zu finden. Ja, er schreibt sogar anfangs dezidiert, es gehe ihm insbesondere um „die ausgezeichneten Organe des Verstandes, die unsern Abstand von den Thieren verursachen, [und die] den Mohren etwas hinter uns zurücklassen.“ Allerdings darf man nicht unterschlagen, dass er diese Unterschiedlichkeit des Verstandes im Satz zuvor ausdrücklich auch zwischen Europäern konstatiert, „warum wir Einigen aus uns Vorzüge willig einräumen“. Und ebenso wenig sollte man verschweigen, dass Soemmerring gleich auf der ersten Seite betont: „Es ist nur zu bekannt, wie wenig brüderlich wir diese Unglücklichen behandlen, und das mit einer Kälte und Gewissensruhe, die eben […] zu verrathen scheinet, daß wir die Mohren für weniger vollkommen, […] für geringer als uns Weiße halten“ und sich gegen die Sklaverei ausspricht.

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