Daniel Stelter gilt als Deutschlands profiliertester unabhängiger Ökonom – er leitet kein Wirtschaftsinstitut, hat keinen Uni-Lehrstuhl und wird durch keine politische oder parteinahe Stiftung finanziert. Mit schonungsloser Offenheit betreibt er sein finanz- und wirtschaftspolitisches Forum beyond the obvious. Stelter ist Autor zahlreicher Sachbücher und publiziert regelmäßig Kolumnen auf manager magazin online, WirtschaftsWoche Online, Focus Online und im Politikmagazin Cicero. NITRO hat mit ihm über sein neues Buch „Das Märchen vom reichen Land“ gesprochen.
? In Ihrem aktuellen Buch „Das Märchen vom reichen Land“ werfen Sie der Politik und den Medien Etikettenschwindel vor. Wie entstand die Idee zu diesem Buch?
! Beim Radiohören, genau genommen morgens beim Hören des Deutschlandfunks. In den „Informationen am Morgen“ sagen Politiker mehrfach in der Woche: Ein reiches Land wie Deutschland sollte doch …“ mehr für Bildung ausgeben, mehr für arme Kinder, mehr für Rentner, mehr für humanitäre Hilfe, man könnte das so fortsetzen. Jeder Mensch mit Herz findet das zunächst richtig. Deshalb fordern das Politiker, und Journalisten lassen es unkritisch stehen, statt nachzufragen, wie diese „Wünsche“ finanziert werden sollen – denn solche Antworten bleiben Politiker gern schuldig. Es wird suggeriert, Deutschland hätte einen riesigen Geldspeicher, der sich automatisch füllt. Dem ist aber nicht so.
Politikern fehlt wirtschaftliches Verständnis
? Aber Deutschland ist doch Exportweltmeister …
! … Exportweltmeister richtig, schon wieder so ein Wort mit großer Suggestionskraft. Aber was bedeutet das? Wir exportieren mehr Waren und Dienstleistungen, als wir importieren. Als Exportweltmeister exportieren wir aber nicht nur Waren, sondern auch Geld ins Ausland. In Zeiten globaler Verschuldung mit ungewisser Rückzahlung ist es nicht besonders klug, Kreditgeber zu sein.
? Woran liegt es, dass Deutschland reicht wirkt, aber Ihrer Meinung nach gar nicht so reich ist?
! Wenn Sie mit offenen Augen durch Deutschland gehen, sehen Sie kaputte Straßen, die Digitalisierung ist ein Desaster, die Bahn funktioniert nur mangelhaft, Kinder leben in Armut, Bildung ist ungleich. Was wir beobachten können, ist also nicht deckungsgleich mit dem, was man von einem reichen Land erwartet. Hinzu kommt, dass vielen Politikern wirtschaftliches Verständnis fehlt, und auch viele Menschen verwechseln Einkommen mit Vermögen. Was Menschen verdienen und was sie als Vermögen besitzen, sind zwei ganz unterschiedliche Dimensionen.
Das Vermögen der Deutschen liegt durchschnittlich bei etwa 60.000 Euro
? Reichtum ist aber auch eine Frage des Blickwinkels. Vergleichen wir uns mit einem afrikanischen Land, sind in Deutschland sicher viele Menschen „reich“. Vergleichen wir uns mit Kanada, Schweden oder Norwegen …
! … oder den USA oder der Schweiz.
? Es liegt also doch am Blickwinkel?
! Es gibt dabei verschiedene Kenngrößen. Beginnen wir mit dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – also dem, was wir pro Kopf pro Jahr erwirtschaften. Deutschland steht auf Platz 20 in der Welt. Vor uns sind die USA, Singapur, die ölexportierenden Länder und die Schweiz. Aus diesem Blickwinkel könnte man sagen, Deutschland ist reich, denn wir verdienen gut. Schauen wir aber auf das Vermögen der Privathaushalte, sieht es anders aus. Innerhalb der Eurozone liegt das Vermögen der Deutschen durchschnittlich bei etwa 60.000 Euro. Der Median in Italien und Frankreich liegt doppelt so hoch – bei über 120.000 Euro pro Kopf.
? Das heißt, wir verdienen gut, haben aber kaum Vermögen. Woran liegt das?
! Wir Deutschen haben Kriege geführt, wir hatten die deutsche Teilung zu schultern – solche Ereignisse spielen eine Rolle. Aber auch das sind nur kurzzeitige Effekte.
? Es muss also noch andere Gründe dafür geben. Welche sind das?
! Deutschland fordert zu hohe Abgaben, wobei die auf Arbeit besonders hoch sind. Bei den Sozialabgaben und Steuern im unteren Einkommensniveau belegt Deutschland nach Zahlen der OECD Platz zwei nach Belgien. Das heißt, die Bürger haben weniger Kapital zum Sparen. Und das Wenige legen die Bürger falsch an – Sparbuch, Lebensversicherungen oder RiesterRente, alles vermeintlich sichere Dinge, die der Staat gefördert hat. Aber die bringen über lange Zeiträume nur ein Prozent pro Jahr – wenn Sie Glück haben.
Private Haushalte sparen Zinsen, wenn sie ein Haus finanzieren
? Ein Prozent ist in solchen Sparformen heute ja schon viel.
! Richtig. Aktien oder Immobilien bringen sechs Prozent pro Jahr. Damit kann mehr Vermögen gebildet werden.
? Die Menschen hatten zu lange zu viel Vertrauen in staatliche geförderte Modelle. Warum hat der Staat die Menschen nicht richtig aufgeklärt?
! Weil er so die Staatsfinanzierung sicherstellen wollte. Bei der Finanzkrise 2008 haben deutsche Banken und Versicherungen zwischen 400 und 600 Milliarden Euro verloren. Da können Sie sagen: Das betrifft mich nicht, ich hatte kein Vermögen. Aber das stimmt nicht. Auch die, die kein Vermögen haben, sind betroffen, weil der Staat zum Beispiel weniger Geld für Sozialtransfers ausgeben kann.
? Sie kritisieren auch die Rolle der EZB, die die Sparer enteignet hat.
! Das sage ich nicht. Ich kritisiere nicht die Rolle der EZB, sondern ich kritisiere die Politik. Es gibt deutsche Politiker, die behaupten, die EZB enteignet die Sparer. Realität ist aber, dass die Eurozone nicht funktioniert und der Euro von der EZB am Leben gehalten werden muss. Wir brauchen hier einen Lösungsansatz. Verschleppen hilft nicht.
? Und Ihr Vorschlag für eine Lösung lautet?
! Wir müssen überlegen, wie wir mit der unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euroländern umgehen. Diese Fragen werden nicht gestellt, weil die deutschen Politiker zugeben müssten, dass Deutschland kein Eurogewinner ist. Deshalb werden die Finanzen abstrakt gehalten.
? Die Stützungskäufe der EZB sind unausweichlich?
! Ja. Würde sie nicht so agieren, wäre der Euro am Ende, aber das kann oder will die Politik den Bürgern nicht so knallhart sagen.
Im Moment kostet eine zehnjährige Hypothek weniger als ein Prozent Zinsen
? Die Politik führt die Sparer in die Irre?
! Ja. Wie wirken denn tiefen Zinsen? Nachteile haben die Menschen, die sparen, und all jene, die keine Schulden haben.
? Wer Schulden hat, ist im Vorteil?
! Vor allem der Staat. Ich habe es mal ausgerechnet: Zwischen und 2008 und 2018 hat der Bund 143 Milliarden Euro Zinsen gespart – weil er Schuldner ist. Private Haushalte sparen Zinsen, wenn sie ein Haus finanzieren. Im Moment kostet eine zehnjährige Hypothek weniger als ein Prozent Zinsen. Noch mal: Wer Schulden macht wird bevorzugt, wer spart, verliert Geld. Wäre der Staat ehrlich, würde er seine Zinsersparnis an die Bürger weitergeben, damit die nicht weiterhin Geld verlieren.
? Der Staat spart, um Schulden zu senken und um die schwarze Null zu halten.
! Nein, Sparen würde bedeuten, dass der Staat weniger ausgibt. In den vergangenen zehn Jahren hat der Bund aber 280 Milliarden mehr ausgegeben. Es rechnet nur offenbar keiner nach.
Für mich ist die Financial Times die beste Tageszeitung der Welt
? Dann ist alles ein großer Bluff?
! Die Bürger werden hinters Licht geführt und die schwarze Null ist eine Lüge, weil die Zinsersparnis deutlich höher war als das, was getilgt wurde.
? Was Politiker vorgeben, wird von den Medien an die Leser transportiert. Beteiligen sich die Medien an einer großen politischen Inszenierung?
! Ich unterstelle keine Absicht, aber echtes Verständnis für Zusammenhänge der Wirtschaft und der Finanzen ist nur in wenigen Redaktionen vorhanden. Sie kennen sicher den Spruch: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Die Welt wird immer komplexer und die Debatte um die Finanzen wird nicht objektiv und rational geführt, sondern emotional – von Politikern und Journalisten.
? Sie meinen, die fachliche Auseinandersetzung gerät aus dem Blickfeld. Sind die deutschen Journalisten gegenüber Journalisten anderer Länder fachlich schlechter aufgestellt?
! Es gibt auch in Deutschland sehr gute Journalisten – nur leider zu wenige, die in Finanz- und Wirtschafsfragen tatsächlich durchblicken. Die Financial Times oder der Economist spielen in einer anderen fachlichen Liga. Für mich ist die Financial Times die beste Tageszeitung der Welt. Die Journalisten dort betrachten Sachverhalte finanziell und begreifen die Komplexität. Und bevor jetzt die neoliberale Keule geschwungen wird: In der Financial Times gibt es Artikel, die die Vermögensverteilung kritisieren und Gegenmaßnahmen fordern. Die haben also durchaus auch linke Themen auf dem Plan.
Ein staatlich organisierter Fonds, der Vermögenswerte sammelt
? Kommen wir auf eine Idee aus Ihrem Buch, die Begründung eines deutschen Staatsfonds, um den Menschen eine Perspektive zu geben, Vermögen zu schaffen. Was ist daran gut?
! Ja, ich spreche mich in meinem Buch für einen solchen Fonds aus. Die Frage ist nur, wie soll ein solcher Staatsfonds aussehen? Ein staatlich organisierter Fonds, der Vermögenswerte sammelt und global für die Bürger in Deutschland anlegt – Ja! Der Staat müsste garantieren, dass er das Geld seiner Bürger – so wie es Norwegen oder Singapur vormachen – global diversifiziert anlegt und deutlich höhere Renditen erwirtschaftet, von denen dann alle in Deutschland profitieren könnten. Das darf allerdings nicht vom Finanzminister administriert werden. Der Staat müsste den Rahmen setzen und eine Mindestgarantie für die Verzinsung geben. Alles, was darüber hinaus erwirtschaftet wird, bekommen die Bürger natürlich auch. Das wäre für die Zukunft der alternden deutschen Gesellschaft ein richtiges Modell.
Mehr Bildung, mehr Innovation, qualifizierte Zuwanderung
? Stichwort Zukunft: Wo sehen Sie Deutschland in den nächsten Jahrzehnten wirtschaftlich und finanziell?
Da gibt es fundamentale Faktoren zu beachten. Die Bevölkerungszahl ist rückläufig. Eine schrumpfende Gesamtbevölkerung heißt weniger Wachstum, und auch die Produktivität und Leistungsfähigkeit pro Kopf nehmen deutlich ab. Deutschland investiert nicht ausreichend in Infrastruktur und nicht ausreichend in Unternehmen. Die Innovationsfähigkeit sinkt, weil unser Bildungssystem verfällt. Die Zuwanderung erfolgt vor allem in die unteren Lohngruppen und die weniger produktiven Bereiche. Hochqualifizierte Leistungsträger sehen ihre Zukunft nicht in Deutschland. Die Antwort der Politik auf diese Probleme ist immer die gleiche: mehr Besteuerung, mehr Umverteilung, mehr Sozialleistungen. Das geht auf Dauer nach hinten los.
! Deutschland – man glaubt es kaum – hat außerdem eine veraltete Industrie. Alle Industrien, in denen wir gut sind, stammen aus der Kaiserzeit. Ein Großteil der deutschen Arbeitsplätze ist vom Auto abhängig. Wenn wir den Wandel in Richtung Elektromobilität – die sehr viel einfacher produziert werden kann – weiterhin verschlafen, werden wir nicht nur hier schon bald nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Die Zukunft Deutschlands wird also nur dann rosig sein, wenn die Politik bereit ist, radikal umzusteuern. Mehr Bildung, mehr Innovation, qualifizierte Zuwanderung, Lösung der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise, andere Wege im Sozialstaat, mehr Automatisierung und Robotik, Digitalisierung auf höchstem Niveau und nicht im Schneckentempo. Sie merken, leichte Aufgaben gibt es nicht zu verteilen. Es ist machbar! Aber nur, wenn wir bereit sind, uns neu zu organisieren. Ein guter Anfang wäre, wenn wir unseren liebgewonnenen Selbstbetrug opfern würden.
Das Interview führten Jens Schrader und
Bettina Schellong-Lammel.
Bettina Schellong-Lammel
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