Transformationsforschung und Politökonomie sind Prof. Dr. Maja Göpel eine Herzensangelegenheit, ebenso wie der Klimaschutz. In einem Interview bezeichnete sie die Corona-Pandemie im Vergleich zum Klimawandel als „Pillepalle“. In ihrem Buch „Die Welt neu denken“ stellte sie die Frage, ob das „soziale Engagement von Bill Gates die exorbitante Summe seiner Flugmeilen“ pro Jahr aufwiege. Eine Wissenschaftlerin, die was zu sagen hat. Höchste Zeit für uns, ein Interview mit Maja Göpel zu führen und mit ihr darüber zu sprechen, wie wir aus der Paralyse des Status quo ausbrechen können und wie wir Ökosysteme und Ressourcenströme stabilisieren und resiliente Wertschöpfungsketten aufbauen.
? Frau Professor Göpel, Sie werden von den Medien als Transformationsforscherin, Politökonomin oder Zukunftsforscherin bezeichnet. Welche Bezeichnung bevorzugen Sie?
! Transformationsforschung ist das Gebiet, für das ich mich besonders interessiere. Wie finden gesellschaftliche Übergangsprozesse statt, und wie können wir ihnen eine wünschenswerte Richtung geben? Die Bezeichnung Politökonomin ist mir ebenfalls sehr wichtig, weil ich in meiner Forschung zur Conclusio gekommen bin, dass die ökonomische Sichtweise auf die Welt, die sehr dominant geworden ist, eine ganz zentrale Stellschraube ist, mit der wir in Richtung mehr Nachhaltigkeit gelangen könnten. Damit man als Wissenschaftlerin mitreden darf, ist es wichtig zu zeigen, dass frau diesen ökonomischen Hintergrund gelesen, verstanden, ihn studiert und darin promoviert hat. Denn es wird von manchen Menschen gern mit einer gewissen Arroganz behauptet: Die hat vom Ökonomischen nicht wirklich Ahnung. Deshalb benutze ich die Bezeichnung Politökonomin gerne in Kombination mit Transformationsforscherin.
? Das Titelthema dieser NITRO-Ausgabe ist Nachhaltigkeit, und die betrifft die Energiewirtschaft, die Mobilität, das Klima und eigentlich alle Bereiche – denn alles ist verbunden mit dem Klima. Muss die Gesellschaft grundsätzlich umdenken, um nachhaltiger zu werden beim Klimaschutz? Man hat zunehmend den Eindruck, alle finden Klimaschutz richtig und wichtig, allerdings mit der Einschränkung: In meinem Bereich bitte nicht.
! Sie haben ein Phänomen benannt, das wir schon länger und gerade jetzt beobachten können. Es ziemt sich nicht mehr, den Klimawandel tatsächlich in Frage zu stellen, denn die Wissenschaft hat mit ganz, ganz langem Atem versucht, auch die Allerletzten zu überzeugen. Wir haben ein Klima-Abkommen, und wir haben ein Bundesverfassungsgericht, das gesagt hat: Wenn ihr das wirklich ernst meint mit dem Klimaschutz, dann müsst ihr jetzt handeln. Und dann kommen die Bedenkenträger, die sagen: Das kann man gar nicht alles umsetzen. In dieser Wer-A-sagt-muss-auch-B-sagen-Situation hängen wir gerade fest. Die Aussagen vieler Menschen – natürlich bin ich für den Klimaschutz, ‚ABER‘ – müssen wir in ein ‚UND‘ drehen, das ist jetzt die große gesellschaftliche Aufgabe.
? Wie kann das gelingen?
! Ich glaube tatsächlich, dass wir das schaffen können, wenn wir uns bewusstmachen, was die aktuelle Situation ausmacht und von anderen unterscheidet. Denn wir sprechen ja nicht nur von einer Klimakrise. Wir merken, dass uns die Fragilität der Finanzmärkte in Atem hält. Wir spüren, dass die soziale Spaltung stark zunimmt. Wir erkennen, dass Demokratien unter Druck geraten, weil wir mit dem populistisch aufgeheizten Diskurs nicht mehr vorankommen in der Konsensbildung oder in der demokratischen Abstimmung. Das heißt, die gesellschaftlichen Systeme sind sehr breit unter Stress geraten. Wir haben zwar eine Idee von dem, wie für uns eine wünschenswerte Gesellschaft aussieht, aber wenn wir den Status quo der politischen und wirtschaftlichen Praxis nicht rechtzeitig für seine Konsequenzen hinterfragen und erneuern, sondern als vermeintliche Normalität verteidigen, dann führt das zu einer Situation, in der unsere „Lösungen“ nicht mehr zu den Rahmenbedingungen passen. Dann führen sie uns an den Zielen vorbei. Dann wird es zu umweltbelastend, es entstehen zu starke Ungleichheit und eine Entkopplung der Finanzmärkte, sodass finanzielle Gewinnschöpfung kein verlässlicher Indikator für das Ziel nachhaltiger Wertschöpfung mehr ist und der Wettkampf um kurzfristige Rendite zum Risiko für gesellschaftliche Fortschrittsziele wird. An einem solchen Punkt sind wir jetzt. Die Transformationsforschung benutzt dafür den Begriff der Kipp-Punkte – auch in sozialen Systemen – oder auch Liminalität oder Zeitenwende: wenn das Bekannte brüchig geworden ist und die Selbstverständlichkeiten nicht mehr tragen.
Um vom ‚ABER‘ ins ‚UND‘ zu kommen, brauchen wir möglichst viele Mitstreiter für das noch Unbekannte, die den Mut haben zu sagen: Wir werden konsequent umstrukturieren und damit eine neue Normalität schaffen. Wir wollen zum Beispiel nicht nur ein bisschen CO2 mindern durch elektrifizierte Infrastrukturen, sondern wir wollen ein neues Industriemodell und gesellschaftliche Infrastrukturen, die den ganzen CO2-Zyklus respektieren und weitere natürliche Wertschöpfungsprozesse dazu. So können wir Ökosysteme und Ressourcenströme stabilisieren, resiliente Wertschöpfungsketten aufbauen, Konflikt- und Migrationsdruck reduzieren und mehr Freiraum für die Zukunft erhalten.
? Das sollte aber ein globaler Anspruch sein.
! Global, natürlich! Denn erst, wenn der CO2-Kreislauf, der in lebendige Ökosysteme eingebaut ist – Stichwort Biodiversität, Stichwort Bodennutzung, Stichwort Ozeanversauerung, Stichwort Flächenversiegelung –, stabilisiert ist, kann sich „die Umwelt“ wieder so verhalten, wie wir es in den letzten 10.000 Jahren gewohnt waren.
? Deutschland hat 2015 das Klimaschutzabkommen von Paris unterzeichnet, aber man hat den Eindruck, dass es politisch gar nicht richtig vorangeht. Hat die Politik zu wenig getan in den vergangenen Jahrzehnten?
! Ja. In der Forschung sprechen wir von der strukturellen Kurzfristigkeit, die wir in die Demokratien eingebaut haben, aber natürlich auch in die unternehmerischen Wertschöpfungszyklen und Wahlperioden. Wenn Sie in den politischen Orbit reinhören und sagen: Wir müssen mit der neuen Regierung ganz viele Programme anschieben, die nicht mehr Symptome bekämpfen, sondern an die Wurzel der Probleme gehen, dann kommt sofort das Argument: Wir haben Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen oder Kommunalwahlen oder sonst irgendwo eine wichtige Wahl. Niemand will der eigenen Klientel etwas abverlangen. Umbauphasen, in denen wir uns umgewöhnen und einschränken müssen, in denen wir Gewohnheiten ändern müssen, in denen Identitäten und Privilegien verändert werden, werden auch als das Delta von Innovationsprozessen bezeichnet. Das wollen viele politisch Verantwortliche nur ungern angehen, weil sonst ihre Wiederwahl gefährdet sein könnte. Wir brauchen aber genau diese Weitsichtigkeit, und wir brauchen Persönlichkeiten in der Politik, die wissen, dass es ums große Ganze geht, um die lange Sicht, und die bereit sind, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, damit sich durch Umstrukturierungen nicht primär Partikularinteressen durchsetzen.
? Sind Sie zuversichtlich, dass das mit dem neuen Klimaschutzminister und mit einer neuen Umweltministerin in der neuen Regierung gelingen kann?
! Ich finde tatsächlich, dass jetzt ein anderer Ton herrscht. In den vergangenen Jahren hieß es immer, der Wohlstand darf nicht gefährdet werden durch den Klimaschutz, obwohl doch jeder wissen konnte, dass es ohne Klimaschutz bald deutlich weniger Wohlstand gibt. Worüber sprechen wir ernsthaft, wenn wir davon reden, die Lebensgrundlagen der Menschen zu sichern? Da bin ich zuversichtlich, dass sich der Diskurs dreht und Ursache und Wirkung in die richtige Reihenfolge bringt.
Ich habe das Gefühl, es wird anders priorisiert und anders erklärt. Wenn wir mittelfristig die Mobilitätssysteme umgebaut, den Gebäudebestand saniert, eine andere Art der Landwirtschaft etabliert haben und mit Tieren und der Umwelt anders umgehen, wird sich das klimaneutrale Leben ganz anders anfühlen. Auch, welche Chancen der Umbau für gute Arbeitsplätze und die Geschäftsmodelle der Zukunft bietet, und für ein sicheres Europa. Es braucht in diesem Übergangsprozess jetzt das, was die Regierung versprochen hat: Aufbruch und Fortschritt. Auch bei anderen Themen wie Rente, Bildung, Arbeit der Zukunft. Das ist unbequem, ja, aber auch befreiend.
? Haben Sie die Hoffnung, dass die Regierung diesen Mut hat?
! Ich bleibe mal bei meinen Kernthemen der Nachhaltigkeit. Eine Regierung oder ein Minister schafft das natürlich nicht allein, da müssen viele in der Gesellschaft mitziehen. Wenn Sie die Medien verfolgen, sehen Sie nicht nur Naturkatastrophen, sondern bestürzende Bilder brennender Berge von Billigklamotten in den Dörfern in Afrika. Wir sehen riesige Haufen von Elektroschrott in Indien und Südostasien und Plastikmüllberge im Pazifik. Und das ist alles ein Teil von dem, was wir in den westlichen Ländern nur kurzfristig oder vielleicht gar nicht nutzen und dann wegwerfen, weil es nur wenige Euro gekostet hat. An diesem Status quo der völlig rücksichtslosen Konsumorientierung festzuhalten, halte ich nicht nur für eine seltsame Auffassung von Fortschritt, sondern das stößt schlicht an zu viele Grenzen.
? Die Frage ist, wie kann man in der Gesellschaft das Bewusstsein schaffen, dass Menschen sagen: Wir ziehen mit und ändern unser Konsumverhalten? Wir leben in einem Land, wo es um Wachstum, Wachstum, Wachstum geht, und es gilt das Motto „Wer nicht wachsen will, muss weichen“. Müssen wir weg vom Wachstumsgedanken?
! Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Wort einfach aus dem Diskurs verbannen würden und konkret sagen, was wir wirtschaftlich erreichen wollen. Denn „Wachstum“ muss inzwischen für alles herhalten, von Investitionsvermögen über Arbeitsplätze bis hin zu menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Deshalb finde ich die Initiative richtig, die jetzt aus dem Wirtschaftsministerium kommt: die gesellschaftliche Entwicklung anders zu messen und zu bewerten, über das Bruttoinlandsprodukt hinaus. Natürlich lässt sich noch über die Auswahl der Indikatoren diskutieren. Aber es ist ein wichtiger Schritt, nun nicht mehr zu sagen, wir haben zwar eine übergeordnete Nachhaltigkeitsstrategie in dieser Republik, aber die hat kaum Relevanz für das Regierungshandeln. Vorher hieß es auch gerne mal: „Wenn wir die Ziele verfehlen, ist das ein Beweis, dass sie zu hochgesteckt waren.“ Dass die Nachhaltigkeitsziele auch den Haushaltsverhandlungen die Richtung weisen sollten, hat übrigens gerade der Präsident des Bundesrechnungshofes angemahnt.
? Menschen, die sich seit Jahren im Klimaschutz engagieren, werden gern als Ökospinner diffamiert und ihre Mahnungen mit der Begründung abgetan, man müsse den Finanzmarkt Deutschland und Arbeitsplätze schützen. Sind solche Argumente aus der Zeit gefallen?
! Komplett. Spätestens, seit Larry Fink, der CEO des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock, vor zwei Jahren die Transparenz über Klimarisiken in den Geschäftsmodellen eingefordert hat, da sie ein Investitionsrisiko seien.
? Immerhin …
! Auch das Weltwirtschaftsforum zeigt ja in den globalen Risikoberichten, dass es vor allem die Umweltthemen sind, die ganz oben stehen. Dort finden Sie auch viele Studien zum Stichwort „Nature Positive“ – also wie die Art des Wirtschaftens die ökologischen Kreisläufe nicht nur respektieren, sondern wieder stärken kann. Das geht weit über unsere Recyclingansätze hinaus, von neuen Materialien und zirkulären Geschäftsmodellen über modulares Design und integrierte Wertschöpfungsnetzwerke hin zu langlebigeren und hochqualitativen Produkten. Ja, die kosten mehr, aber sie halten auch länger. Es darf nicht mehr sein, dass die Firmen, die minderwertiger als nötig produzieren, den Standard setzen. Dass die sozialen und ökologischen Kosten auf die Gesellschaft, auf andere Länder etwa im globalen Süden oder auf die Zukunft abgewälzt werden, damit hier und heute der Rubel rollt. Auf 13 bis 19 Prozent des BIP haben Forscher des Ariadne-Projektes letztes Jahr die sozialen und ökologischen Schäden in Deutschland geschätzt, die wir nicht bilanzieren. Es braucht eine Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft, um die Anreizsysteme, Steuern und politischen Instrumente zu korrigieren, die zu solchen Ergebnissen geführt haben.
Lesen Sie das ganze Interview in der aktuellen Ausgabe.
Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel
Maja Göpel ist Politökonomin, Transformationsforscherin und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Mitbegründerin von Scientists 4 Future. Sie ist außerdem Mitglied des Bioökonomierates der Bundesregierung, des Club of Rome und des World Future Council. Zuletzt erschien ihr Bestseller Unsere Welt neu denken. Eine Einladung (Ullstein).
Maja Göpel
Wir können auch anders
Aufbruch in die Welt von morgen
ISBN: 9783550201615
Preis: 19,99 Euro
www.ullstein-buchverlage.de
Bettina Schellong-Lammel
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