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35 JAHRE MAUERFALL
Unsere Zukunft ist europäisch
© Bernd Lammel
Fernsehen

Unsere Zukunft ist europäisch 

Der Kulturkanal A.R.T.E. (Association Relative à la Télévision Européenne) wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. arte soll Deutschen und Franzosen die jeweils andere Kultur näherbringen und den europäischen Gedanken stärken. arte setzt sich aus drei Einheiten zusammen: der Zentrale arte GEIE in Straßburg und den beiden Mitgliedern arte France in Paris und arte Deutschland TV GmbH in Baden-Baden. Zum 30. Jubiläum hat N mit dem Geschäftsführer von arte Deutschland, Dr. Markus Nievelstein, über die DNA von arte, den europäischen Anspruch des Senders und das Programm im Jubiläumsjahr gesprochen.

? Dr. Nievelstein, Sie begannen nach dem Studium als Journalist beim WDR und wechselten im Jahr 2013 zu arte GEIE nach Straßburg, wo Sie die Hauptabteilung Wissen leiteten. Seit 2016 sind Sie Geschäftsführer von arte Deutschland und haben, salopp gesagt, die Seiten gewechselt – vom Journalismus in die Administration von arte. Schlägt in Ihrer Brust noch das Herz eines Journalisten?

! Mein Herz hat nie aufgehört, für den Journalismus zu schlagen. Meine Aufgabe ist es, dazu beizutragen, ein arte-Programm zu entwickeln, das die gesamte Spannbreite von Fernsehen abdeckt. Und dazu gehört natürlich der Journalismus. Wir setzen das bei arte gesellschaftspolitisch, investigativ und historisch um und führen den Zuschauern die Entdeckung und die Entwicklung der Welt vor Augen. Denn arte versteht sich als ein journalistisches Angebot und als eine kulturelle Information.

? Ist es ein Vorteil, dass der Geschäftsführer auch Journalist ist?

! Als Journalist hat man einen geschulten Blick: Welche Themen beschäftigen die Welt im Moment? Worüber sollten die Zuschauer informiert werden? Und wie können wir als arte dazu beitragen, Themen mit unseren unterschiedlichen Perspektiven ins Programm einfließen zu lassen?

? arte ist ein einmaliges Projekt in Europa – ein gemeinsames Fernsehprogramm zwischen Frankreich und Deutschland. Seit der Gründung vor 30 Jahren sollte das Projekt die Menschen zusammenführen und Verständnis wecken. Ist dieses Zusammenwachsen in den letzten 30 Jahren gelungen?

! Der Fernsehsender arte hatte eine lange Findungsphase, denn es hieß ja nicht nur, unterschiedliche Menschen und Sprachen zusammenzuführen, sondern auch unterschiedliche Kulturen. Ich sage immer: In Frankreich kommt das Fernsehen vom Kino, in Deutschland vom Radio. Beides musste zusammenwachsen. Das hieß: sehr viel mehr Text in Deutschland, sehr viel mehr Bild in Frankreich. All die Erfahrungen, die wir auf beiden Seiten gemacht haben, sind ineinandergeflossen. Bei diesem Prozess ist dann zunehmend klarer geworden, dass man das Leben in Europa nicht mehr isoliert als Nation sehen und bewältigen kann. Egal, mit welchen Hintergründen und aus welchen kulturellen und historischen Kontexten sie kommen, viele Themen müssen gemeinsam erarbeitet und bearbeitet werden, damit die Menschen in Europa einen Zugang dazu finden. Aktuelles Beispiel: Die Franzosen schauen anders auf die Atomkraft als die Deutschen, Frankreich setzt in der Außenpolitik andere Akzente als Deutschland. Und alles hat mit den verschiedenen soziokulturellen und historischen Wurzeln zu tun.

? arte versucht, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen?

! Ja, und zwar optimalerweise mit arte-Koproduktionen. Das hat den Vorteil, dass beide Seiten ihre Position so präsentieren können, dass es die Menschen in Deutschland, Frankreich und ganz Europa verstehen, denn wir versuchen, jeden in diese Multiperspektivität mitzunehmen.

? Bei der Gründung von arte gab es ausschließlich lineares Fernsehen, inzwischen können sich die Menschen viele Produktionen in der Mediathek ansehen. Wir haben uns die Mediathek angeschaut und festgestellt, dass die Bedienerfreundlichkeit noch verbessert werden könnte. Gibt es da in der nächsten Zeit Veränderungen oder Anpassungen?

! Sogar sehr viele. Wir beraten dreiwöchentlich in unserem Komitee für die Digitalstrategie unsere Webentwicklung. Im Januar haben wir eine lange Liste von Features diskutiert, die wir verbessern und verändern wollen. Ob es das Überspringen von Vorspann und Abspann ist oder das konsekutive Sehen von Serienfolgen, ohne dass man wieder ins Menü zurückspringen muss. Anforderungen, die in den großen Streamingangeboten gang und gäbe sind. Hier ist zu berücksichtigen, dass wir unterschiedliche Sprachen und viele Verbreitungswege einbinden müssen – also ja, wir arbeiten an ganz vielen unterschiedlichen neuen Features für die Mediathek.

? Viele Zuschauer sind inzwischen sehr Netflix-affin und erwarten das, was Net­flix bietet, auch von allen anderen Mediatheken. Da ist die Messlatte ziemlich hoch.

! Sie ist sehr hoch. Aber wir haben ein exzellentes Team, das die technischen Veränderungen im Bereich Mediathek eigenständig bewältigen kann. Aber natürlich wissen wir, dass wir rund um die Uhr an der technischen Weiterentwicklung dranbleiben müssen.

? Sie koordinieren Sie bei arte die Angebote der Sendeanstalten von ARD und ZDF, die Ihnen Content zuliefern?

! In der Programmkonferenz diskutieren wir Vorschläge, die von arte France, der arte-Zentrale, den ARD-Sendern und dem ZDF eingereicht werden. Die werden dort entschieden. Die Programmkonferenz ist das wichtigste Gremium, in dem inhaltliche Entscheidungen ganz paritätisch getroffen werden. Deutschland, Frankreich und die Zentrale entscheiden darüber, und der Head ist die Programmdirektorin. Aber auch unser Digitalgremium gewinnt zunehmend an Bedeutung, weil dort Entscheidungen für Programme fallen, die non-linear verbreitet werden. Unsere tägliche Arbeit manifestiert sich in einer wöchentlichen, eintägigen, bimedialen Programmierungssitzung. Dort wird aus den Programmen, über die grundsätzlich entschieden worden ist, das gesamte arte-Angebot mit alle seinen Schwerpunkten zusammengestellt.

? Haben Sie Beispiele?

! Das beginnt bei Jahrestagen, die inhaltlich bestückt werden, und endet noch lange nicht bei Festivals und Dokumentarfilmreihen, die wir regelmäßig kreiieren oder die als Programm geliefert werden. Eine Dokumentation über die Entstehung des Rassismus „Rottet die Bestien aus!“ von Raoul Peck („I Am Not Your Negro“), die letzt lief, muss beispielsweise außerhalb des Sendeschemas programmiert werden, damit man ihre Folgen hintereinander wahrnehmen und ein User- oder Zuschauererlebnis aufbauen kann.

? arte bietet viele großartige Dokumentationen in der Mediathek an. Gibt es in diesem Bereich Unterschiede bei den Zugriffszahlen zwischen Deutschland und Frankreich? Gibt es Erkenntnisse, was die Deutschen oder die Franzosen lieber schauen?

! Die Verteilung der Zugriffe auf die Dokumentationen ist nahezu paritätisch. Insgesamt verteilen sich die Zugriffe auf die Mediathek oder auf die Online-Angebote zu etwa 50 Prozent auf Frankreich, zu 40 Prozent auf Deutschland und zu 10 Prozent im übrigen Europa oder der Welt – round about. Bei fiktionalen Angeboten sind die Franzosen deutlich vor den Deutschen. Das hängt damit zusammen, dass gerade beim Genre Serien, das im Onlinebereich enorme Zahlen produziert, die französische Seite seit Jahren eigene Produktionen mit französischen Stars als originäre arte-Serien einbringt. Die Serie „En thérapie“ zum Beispiel generiert linear und non-linear enorme Zahlen. In Deutschland läuft sie auch gut, aber sie bleibt gegenüber Frankreich stark zurück. Allerdings werden in Zukunft einige neue deutsche Serien zu sehen sein, die arte von der ARD oder dem ZDF als Content bekommt.

Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel

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