Von Findhilfen über Befundungssysteme: Wenn eine Behörde Ton und Bild für die Nachwelt konserviert, gehören schräge Fachbegriffe offenbar zum Programm. Dabei treibt die Rundfunkgeschichte durchaus auch heitere Blüten, etwa dass viele Dokumente aus der Nachkriegszeit wohl längst verloren gegangen wären, hätten Ost und West sich nicht stets misstraut und vieles akribisch archiviert. Angelika Hörth, Geschäftsführerin des DRA, erlaubt uns einen Einblick in das große Medienarchiv der Bundesrepublik.
von Angelika Hörth
Mit über 150 000 Stunden Ton- und Filmaufnahmen, 7,5 Kilometern Schriftgut und mehr als 2,5 Millionen Fotos zählt das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) im 65. Jahr seines Bestehens zu den großen Medienarchiven in der Bundesrepublik Deutschland. 1952 als „Lautarchiv des Deutschen Rundfunks“ gegründet, bewahrt die als Stiftung organisierte, älteste Gemeinschaftseinrichtung der ARD an seinen beiden Standorten in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg wesentliche Teile der audiovisuellen Überlieferung Deutschlands. Dazu zählt mit einem von Thomas A. Edison persönlich auf Wachswalze gesprochenen Brief aus dem Jahr 1888 auch eine der ersten Tonaufzeichnungen überhaupt, deren Intention der Erfinder pragmatisch auf den Punkt bringt: „… so other people can hear what you say”.
Weltpolitische Ereignisse sind in unserer Erinnerung
Die Geschichte einer medialen Gesellschaft kann nicht ohne die Quellen aus Funk und Fernsehen erzählt werden, die als einmalige zeitgeschichtliche Zeugnisse Teil des Kulturerbes sind. Nicht wenige weltpolitische Ereignisse sind in unserer Erinnerung mit der Berichterstattung in den Massenmedien verknüpft. Dazu zählen ganz sicher Bau und Fall der Berliner Mauer. Als zentrale Wendepunkte deutsch-deutscher Geschichte sind sie im kollektiven Gedächtnis ganz unmittelbar mit den im DRA überlieferten O-Tönen „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ (Walter Ulbricht am 15. Juni 1961) und „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort – unverzüglich …“(Günter Schabowski am 9. November 1989) verbunden. Beide Aufnahmen gehören seit 2011 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe „Memory of the World“.
Überlieferungen des Rundfunks vor 1945
Die Archivbestände, die manchmal auf verschlungenen Wegen ins DRA gelangt sind, setzen sich im Wesentlichen aus der Überlieferung des Rundfunks vor 1945 sowie dem Programmvermögen von Hörfunk und Fernsehen der DDR zusammen. So konnten 1956 im Zuge der Rekonstruktion des durch Krieg, Besatzung und deutsche Teilung in der ganzen Welt verstreuten Schallarchivs der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft rund 4 500 Tonaufnahmen aus dem Archiv der British Broadcasting Corporationin London kopiert werden. Baggerarbeiten in Oslo förderten wiederum 250 Tonbänder zu Tage, darunter Mitschnitte der für deutsche Propaganda- und Tarnzwecke ins Leben gerufenen Bigband Charlie and His Orchestra, die von 1939 bis 1945 vor allem Musik jüdischer Komponisten und amerikanischer Swing- und Jazzsänger über Kurzwelle in den alliierten Äther geschickt hatte.
Große Überlieferungslücken konnte das DRA zudem durch Übernahmen von Belegkopien der sogenannten „Ost-Aufzeichnungen“ des DDR-Hörfunk- und Fernsehprogramms schließen, die vom Gesamtdeutschen Institut und seinen Vorläufern sowie von einzelnen ARD-Rundfunkanstalten und dem ZDFzwischen 1957 und 1991 beauftragt beziehungsweise angefertigt worden waren. Einst zu funktionalen Zwecken der Systemauseinandersetzung zwischen Ost- und Westdeutschland anlegt, erlauben die im Rahmen der wechselseitigen Programmbeobachtung abgefilmten und abgehörten Mitschnitte heute eine differenzierte Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten der deutsch-deutschen Geschichte. Reziprok gab das DRA Anfang der 1990er Jahre die „West-Aufzeichnungen“ des DDR-Fernsehens an die jeweiligen Rundfunkanstalten von ARD und ZDF zurück.
Für die Wirkungs- und Rezipientenforschung stellen die aus Schriftgut, Druckerzeugnissen und Fotos zusammengesetzten Begleitmedien einen erheblichen Mehrwert dar.
Die Überlieferungen des nach dem Zweiten Weltkrieg durch die West-Alliierten eingeführten öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden von den Programmarchiven der jeweiligen Sender autark verwaltet.
Jahrzehnte umspannenden Geschichte des DRA nicht überholt
Insgesamt spiegelt sich in den Beständen des DRA – von der Edison-Walze über das Sendemanuskript bis zum Audiofile – die weit über 100-jährige Entwicklung der Ton- und Bildaufzeichnung wieder. Diese gilt es zu erhalten, zu erschließen und zugänglich zu machen. Die klassischen Kernaufgaben haben sich in der mittlerweile mehr als sechs Jahrzehnte umspannenden Geschichte des DRA längst nicht überholt. Im Gegenteil: In Zeiten der digitalen Revolution, von Big Data und Fake News sind sie aktueller denn je. Verändert haben sich indes die Rahmenbedingungen: Den Forderungen der interessierten Öffentlichkeit nach einem freien und direkten Zugriff auf die Bestände stehen Urheber- und datenschutzrechtliche Restriktionen gleichberechtigt gegenüber. Immer kürzer werdende technische Innovationszyklen gehen mit den Wünschen der Nutzerinnen und Nutzer nach neuen Recherchemöglichkeiten und einer schnelleren Verfügbarkeit der Medien einher. Diesem Bedarf Rechnung tragend wird das DRA bis Ende 2020 wesentliche Teile seiner audiovisuellen Überlieferung digitalisiert haben. Gleichzeitig tritt die Stiftung für die Authentizität und Unverfälschtheit der ihr zur Verwahrung übertragenen zeitgeschichtlichen Dokumente ein, indem sie die konservatorische Sicherung, Restaurierung und Erhaltung der analogen und digitalen Informationsträger gewährleistet.
Integration historischer Filmaufnahmen in IT-basierte Produktionsprozesse
Diesen mannigfaltigen Herausforderungen gegenüber sieht sich das DRA insbesondere durch seine Mitwirkung an innovativen Entwicklungsprojekten gut aufgestellt. So war die Stiftung etwa an dem vom Bundesministerium für Forschung und Entwicklung geförderten Bündnis „d-werft – linked film & tv services“ zur kooperativen Entwicklung eines sogenannten „Befundungssystems“ beteiligt, mit dessen Hilfe Filme während des Abspielens auf ihren physischen Erhaltungszustand hin analysiert und hinsichtlich des zu erwartenden Aufwands für ihre Digitalisierung beurteilt werden können. Die mobil einsetzbare Technologie wird zukünftig nicht nur die Langzeitarchivierung, sondern darüber hinaus auch die Integration historischer Filmaufnahmen in IT-basierte Produktionsprozesse und damit deren Wiederverwendung in neuen Film- und Fernsehformaten unterstützen.
Verfahren der inhaltsbasierten Bild- und Videoanalyse
Ein von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) gefördertes Kooperationsprojekt zielte indes darauf ab, ausgewählte Spezialbestände der DRA-Fernsehüberlieferung zu digitalisieren und mithilfe innovativer Verfahren der inhaltsbasierten Bild- und Videoanalyse durchsuchbar zu machen. War die Anwendbarkeit automatisierter Verfahren auf historische audiovisuelle Bestände vor Projektbeginn kaum erforscht, bestätigen die Ergebnisse nunmehr, dass das DRA seinen Nutzerinnen und Nutzern perspektivisch vollkommen neue Recherchetools an die Hand geben kann, durch die Motive und Kameraeinstellungen mittels Textanfragen oder anhand von Bildbeispielen gesucht und gefunden werden können.
Seit Anbeginn hat sich die ARD-Gemeinschaftseinrichtung in federführender oder mitwirkender Funktion an der sukzessiven Ablösung der in Karteikästen sortierten Findhilfen zugunsten IT-gestützter Verbundsysteme beteiligt. So gilt das Online-Recherche-Tool zeitlupe mit seinem stetig wachsenden Bestand an Termin- und Ereignisdaten heute als eine wichtige Informationsquelle für die Programmplanung. Mit aktuell weit über 1,5 Millionen Seitenaufrufen jährlich hat sich die öffentlich zugängliche ARD-Hörspieldatenbank als das zentrale Nachweisinstrument für die Überlieferungen aus den Sendern etabliert.
Qualität und Effizienz bei der Erschließung von Massendaten
Angesichts ständig wachsender Datenmengen und begrenzter Ressourcen werden moderne Textanalysesysteme die dokumentarische Arbeit in den Rundfunkarchiven zunehmend unterstützen. Data-Mining und Information Retrieval steigern zum einen die Qualität und Effizienz bei der Erschließung von Massendaten, zum anderen die computergesteuerte Suche nach komplexen Inhalten. Als Rückgrat dieser Verfahren hat sich die vom DRA entwickelte Normdatenbank und das ihr zugrunde liegende Regelwerk Mediendokumentation etabliert. Mittels definierter Ansetzungsregeln werden normierte Daten über Personen, Institutionen und Vokabulare gesammelt und gepflegt, um sie über Schnittstellen programmrelevanten ARD-Anwendungen als Metadaten zur Verfügung zu stellen.
Willensbildung und Mitbestimmung
Die beim DRA angesiedelte Zentrale Schallplattenkatalogisierung, die seit 1978 die in Deutschland neu erscheinenden Industrietonträger erfasst, steckt ihr Know-how aktuell in die Weiterentwicklung automatisierter Bemusterungsverfahren. Der vermeintliche Vertrauensverlust in unsere gesellschaftlichen Institutionen und Medien signalisiert, dass das Prinzip der freien und gleichberechtigten Willensbildung und Mitbestimmung tagtäglich als Wert erkannt, benannt und verteidigt werden muss. Gerade in diesem Kontext leistet das DRA gemeinsam mit allen anderen Gedächtnisinstitutionen einen unverzichtbaren Beitrag zur Förderung und Festigung einer partizipativen und offenen Zivilgesellschaft, zu deren wichtigsten Aufgaben die Auseinandersetzung mit dem eigenen historischen Erbe sowie dessen Bewahrung für zukünftige Generationen zählt. In diesem Sinne steht das im DRA überlieferte „Programm mit Geschichte“ sowohl Rundfunkmachern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden als auch allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern vorbehaltlich rechtlicher Einschränkungen zur Einsichtnahme und weiteren Verwendung zur Verfügung.
Gleichzeitig stellt sich das DRA der Herausforderung, seine Kernkompetenzen stetig durch neue Technologien in Richtung einer verbesserten Nutzbarmachung des von ihm verwalteten Programmvermögens weiterzuentwickeln. Oder um es mit James Whiteheads Neujahrswunsch an Thomas A. Edison aus dem Jahr 1889 zu sagen: „May I hope, that it may be devoted to further inventions in those scientific discoveries and investigations.“
Autorin:
Angelika Hörth studierte Politische Wissenschaften und Slawistik an der Universität Hamburg. Korrelierend zu ihren Aufgaben als Dokumentarin und Pressespiegel-Redakteurin beim Norddeutschen Rundfunkin Hamburg absolvierte sie eine Ausbildung zur Wissenschaftlichen Dokumentarin am Institut für Information und Dokumentation in Potsdam. 2005 übernahm sie die Leitung der Abteilung Information und Dokumentation der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) in Potsdam-Babelsberg. Seit dem 1. Oktober 2015 fungiert Angelika Hörth als standortübergreifende Geschäftsleiterin der ARD-Gemeinschaftseinrichtung. Sie ist Vorstandsmitglied und Fachgruppenvorstand Medienarchive im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare.
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