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35 JAHRE MAUERFALL
Der Osten bleibt anders
Foto © Bernd Lammel
35 Jahre Mauerfall

Der Osten bleibt anders 

35 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben wir hitzige Diskussionen über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte, schreibt der Soziologe Professor Steffen Mau in seinem neuesten Buch „Ungleich vereint“, das im Juni 2024 erschien. Steffen Mau setzt sich nicht erst in diesem Buch mit der Problematik auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, Ostdeutschland werde im Lauf der Zeit so sein wie der Westen. Im Interview mit NITRO erklärt der Wissenschaftler, warum es ihm wichtig war, dieses Buch zu schreiben, wie seit 1990 Strukturen zusammengebrochen und die Menschen ideologisch obdachlos wurden und warum wir lernen sollten, Unterschiede zu akzeptieren. 

? Professor Mau, am 17. Juni wurde ihr Buch „Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt“ veröffentlicht, und man kann sagen, es ist eingeschlagen. Warum war es Ihnen wichtig, dieses Buch zu schreiben?

! Ich hatte das Gefühl, es ist noch etwas liegengeblieben in der Debatte um den Osten. Denn das Thema Ost-West ist in den letzten zwei, drei Jahren hochgekocht. Ich war der Meinung, da ist nicht genügend Substanz, da muss man auch aus soziologischer Perspektive noch ein bisschen mehr analysieren. Nicht nur öffentliche Diskurse oder die Politik, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Als Soziologe fühle ich mich herausgefordert, meinen Beitrag zu leisten.

? Seit das Buch erschienen ist, findet man Sie in allen großen Medien. Haben Sie mit einer derartigen Resonanz gerechnet beziehungsweise haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihr Buch so viel Aufmerksamkeit bekommt? 

! Nein. Im letzten Herbst habe ich bereits mit Thomas Lux und Linus Westheuser das Buch „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ veröffentlicht. Schon dieses Buch bekam eine unglaubliche Medienaufmerksamkeit. Mir wäre es danach lieber gewesen, wieder zu meiner normalen Arbeit an der Humboldt-Universität zurückzukehren. Aber nach der Veröffentlichung meines neuen Buches, das ja an einem sehr symbolischen Datum, dem 17. Juni, erschien, bin ich im Sommersemester von einer enormen Aufmerksamkeitswelle überrascht worden. Dass das so intensiv besprochen wird und dass das Buch so viele Interviewnachfragen nach sich zieht, habe ich nicht erwartet. Es ist also, wie Sie sagten, eingeschlagen.

? Sie waren überfordert? 

! Absolut. Ich musste die allermeisten Interviewanfragen oder Einladungen zu Veranstaltungen absagen, weil es gar nicht möglich ist, alles zu realisieren.

? Wie viele Anfragen für Interviews sind es pro Woche oder pro Tag? 

! Pro Tag bekomme ich zehn Einladungen zu Veranstaltungen oder Medienanfragen. Manchmal habe ich das Bedürfnis, selbst zu antworten, aber das übersteigt meinen Zeitrahmen. Deshalb übernimmt das meine Sekretärin nach einem Blick in meinen Kalender. Und sie weiß, dass ich in diesem Jahr keine Kapazitäten für zusätzliche Termine habe.

Ich merke allerdings auch, dass es sehr viele gesellschaftliche Erwartungen gibt, ein Deutungsangebot zu machen und in einen Dialog einzutreten. Erstaunlicherweise nicht nur von Medien, sondern ich erhielt hunderte Zuschriften von Menschen, die mir ihre Sicht darlegen wollen. Das geht so weit, dass sich ein Holzexperte darüber beschwerte, dass ich die Formulierung „auf dem Holzweg sein“ in meinem Buch verwendet habe. Er war der Ansicht, ich würde dem Holz damit Unrecht tun. Es kommen also die kuriosesten Reaktionen.

? Das sind auf jeden Fall gute Nachrichten für Ihr Buch: Es wird gelesen und es löst Diskussionen aus. 

! Ja, das ist sehr erfreulich. Das Buch ist nicht im engeren Sinne ein populäres Buch, und es biedert sich dem Lesepublikum nicht an. Dieses Buch hat einen fachlichen Anspruch, und ich habe versucht, in alle Richtungen kritisch zu sein und auf der Grundlage von wissenschaftlichen Einsichten Argumente anzubieten.

? Sie widersprechen in Ihrem Buch der These, nach der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Die Zeit scheint Ihnen recht zu geben, denn auch 35 Jahre nach dem Mauerfall hatte diese Angleichung nur wenig Erfolg. Sie sagen: Der Osten bleibt anders. Können Sie erklären, warum?

! Es gab die Erwartungen, dass es ein bis zwei Generationen braucht, bis der Osten sich dem Westen angeglichen hätte und die Unterschiede mehr oder weniger ausradiert seien. Heute stellen wir fest, dass das nicht der Fall ist. Und wir haben auch wenige Gründe, zu erwarten, dass das in den nächsten fünf bis zehn Jahren so sein wird. Es ist meine These, dass wir einer Illusion aufgesessen sind, vielleicht sind wir sogar einer Chimäre hinterhergelaufen. Schon die ganze politische Rhetorik von der inneren Einheit oder von der Vollendung der Einheit war in gewisser Weise schief, denn die zahlreichen Ungleichheiten zwischen Ost und West haben sich verstetigt und werden bleiben. Nicht unbedingt immer in dem Sinne, dass alles problematisch sein muss, aber es gibt Ungleichartigkeiten, also unterschiedliche Traditionen, unterschiedliche Kulturformen, unterschiedliche Lebensweisen und auch eine unterschiedliche gesellschaftspolitische Orientierung. Das alles hat sich festgesetzt.

? Warum ist das so? 

! Schauen Sie sich international um oder einfach in Europa. Es gibt Nord- und Süditalien, Nord- und Südschweden, und es gibt in allen Ländern extrem stabile regionale Unterschiede. Die bestehen fort, obwohl sich diese Staaten jeweils um so etwas wie eine innere Einheit bemüht haben und Ungleichheiten beseitigen wollten. Da wäre es schon überraschend, wenn das in Deutschland anders wäre.

? Es gibt aber in Deutschland starke Beharrungskräfte.

! Ja, diese starken Beharrungskräfte gibt es aber nicht nur im Osten. Wir können den Spiegel ja mal in die andere Richtung halten, und dann stellen wir fest: Viele Dinge sind im Westen auch ultrastabil.

? Zum Beispiel?

! Zum Beispiel der Gender Pay Gap, also die ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen. Da bewegt sich seit 30 Jahren nur wenig. Beim gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz ab drei Jahren bewegt sich die Betreuungsquote ebenfalls nicht substanziell. Es gibt also sowohl im Osten wie im Westen offensichtlich eine Art gesellschaftlicher Trägheit, die dazu führt, dass sich die Dinge so, wie sie etabliert sind und einigermaßen funktionieren, weiter fortsetzen.

Deswegen würde ich nicht sagen, dass Ostdeutschland ein Sonderfall ist, wo alles irgendwie verholzt ist und es keine Bewegung im gesellschaftlichen Wandel gibt. Die Gesellschaft besteht sehr stark aus Kontinuität, denn es gibt viele gesellschaftliche Kontinuitäts- und Sicherheitsbedürfnisse, dass Dinge mehr oder weniger so bleiben, wie sie sind. Im Osten hat sich allerdings schon sehr viel umgestellt. Da konnte man in den 1990er- und auch den Nullerjahren eine enorme Angleichungsdynamik in vielen Bereichen sehen. Und in einigen Bereichen, zum Beispiel bei der Angleichung der Renten, wurde das politisch bereits vollzogen. In anderen Bereichen gibt eine Verstetigung von Unterschieden und sogar eine abnehmende Angleichungsdynamik, wenn nicht sogar einen Stillstand.

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