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80 Jahre Kriegsende
1945 – Die ungewollte Befreiung
(c) Bernd Lammel
80 Jahre Kriegsende

1945 – Die ungewollte Befreiung 

Im Jahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Deutschlands. Es war ein Jahr zwischen Katastrophe und Neuanfang. Menschen waren auf der Flucht, suchten in den zerstörten Städten nach Schutz. Am 8. Mai war der Krieg zu Ende, Deutschland eine Trümmerwüste, und die Menschen standen vor einer ungewissen Zukunft. Das neue Buch von Volker Heise ist eine Chronik, die das gesamte Jahr 1945 umspannt, von Silvester bis Silvester. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen und Augenzeugenberichte erlauben eine einzigartige Perspektive. Beobachtungen und Geschichten werden zu einer großen Erzählung verwoben, die unterschiedlichste Schicksale unmittelbar miteinander verbindet. Im Interview mit NITRO spricht der Dokumentarfilmer und Autor, wie es zu diesem außergewöhnlichen Buchprojekt kam, über seine unbändige Leidenschaft, in Archiven zu stöbern, und wie er methodisch vorgegangen ist, die Geschichten von Menschen im gesamten Jahr 1945 Monat für Monat in einem Buch zusammenzuführen.

? Volker Heise, Ihr Buch „1945“ erschien fast genau 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Ist es als Fortführung oder Ergänzung Ihres Dokumentarfilms „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ zu verstehen, der im Jahr 2020 erschien?

! Nein, es ist keine Fortführung. Ich hatte für den Film ein riesiges Archiv mit Texten, Tagebüchern, Briefen, Dokumenten, Erinnerungen, Plänen und Fotos aufgebaut. Beim Film musste ich mich, anders als beim Buch, auf 1945 in Berlin beschränken. Ich hatte aber schon sehr viel Material auch aus anderen Orten, deshalb hörte ich nach dem Film nicht auf zu sammeln. Ich bestellte Newsletter, schloss Abos ab. Mal schickte mir jemand Material, dann erfuhr ich, dass es jetzt die originalen Protokolle von den ersten Bergen-Belsen-Prozessen gibt, also bestellte ich sie. Und so ging es weiter und weiter und weiter. Irgendwann kommt der Tag, wo man denkt: Jetzt kommt alles auf den Dachboden – und dort war das Material zunächst auch. Dann kam der Verleger, Gunnar Schmidt, und wir sprachen über mögliche neue Projekte. Er fragte: „Was ist mit 1945?“ Und ich sagte: „Lass uns nicht drüber reden. Das ist ein riesiges Ding.“ Er argumentierte: „Vielleicht sollten wir ein Fotobuch machen. Wir arbeiten mit ganz vielen Fotos, du suchst Zitate dazu, und wir machen einen schönen Fotoband.“ Ich dachte, das ist eine richtig gute Idee, viele Fotos, wenig Text, wenig Arbeit für mich. Ein paar Wochen später kam er und sagte: „Ich habe es mir überlegt, es braucht doch mehr Text.“

Recherchen im Imperial War Museum in London

? Jetzt gibt es im Buch 1945 nur zwölf Fotos und sehr viel Text.

! Genau. Am Ende sind es 500 Seiten und zwölf Bilder geworden. 

? Zu Beginn eines jedes Monats steht ein Bild, und dann kommen Auszüge aus Tagesbüchern und Texten. 

! Deshalb ist es keine Fortführung des Films, sondern die Neuerfindung des Materials als Buch. 

? Wie lange hat der Prozess des Sortierens, des Aussuchens gedauert? Haben Sie nur aus Ihren Archiven geschöpft oder haben Sie auch in anderen Archiven gesucht, um Tagebücher und Briefe für das Buch zu finden? 

! Für den Film haben wir als Team angefangen in den National Archives in Washington, im Imperial War Museum in London, haben in Frankreich und Russland gesucht. Auch sehr viele deutsche Archive haben wir abgegrast und Privatarchive natürlich auch. Wir suchten zuerst Material, das schon veröffentlicht wurde. Was kann man einfach kaufen, weil es auf dem Markt ist? Die Bücher von Erich Kästner zum Beispiel. Manche sind vergriffen, andere schlummern irgendwo in Archiven. Die muss man finden. Das ist ein großer Mix, und es war eine lange Recherche für den Film und später, als ich allein weitergemacht habe, natürlich auch für das Buch. Für das Buch wollte ich vor allem Lücken füllen, zum Beispiel Material über Flüchtlinge finden, sowohl Displaced Persons als auch Menschen, die aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen geflohen waren. Die Transporte aus den Konzentrationslagern ins Innere des Reiches wollte ich präsenter haben, da hatte ich zu wenig Material. Zum Beispiel Materialien über Bergen-Belsen oder Mittelbau-Dora. Dafür habe ich noch einmal tiefer recherchiert. 

Konzentration auf Themen, die besonders wichtig waren

? Wie lange dauert ein solches Prozess? 

! Sortieren oder Sammeln? 

? Sammeln und Sortieren. 

! Wenn ich das Material vom Film dazu nehme, habe ich etwas sechs Jahre gesammelt. Ich arbeite aber nicht komplett am Stück, sondern habe zwischendurch andere Filme gemacht. Es gibt Phasen sehr intensiver Arbeit und Phasen, wo das Thema fast verschwindet aus dem Leben. Aber es kommt immer zurück. Seit dem Tag, an dem ich mit dem Film begonnen habe, begleitet mich das Sammeln. Es ist ein konstanter Prozess in meinem Leben, seit dem Studium. 

? Dann kam der Punkt, an dem Sie sagten: Jetzt habe ich alles für jeden Monat zusammen?

! Den gab es nicht. Ich bin nie zufrieden. Das Los des Sammlers ist: Man hat niemals alles. 

? Gab es Dinge, die Ihnen besonders wichtig waren?

! Ja, aber es gibt auch den Veröffentlichungsdruck, also sagt man: Bis dahin musst du fertig werden, du kannst jetzt nicht mehr weiterrecherchieren. Also bleiben Lücken. Ich habe mich irgendwann auch entschieden, bewusst pars pro toto zu arbeiten, also nicht alles aus einem Jahr zu erzählen, nicht jeden Luftangriff, nicht alles aus jeder Stadt. Ich musste mich auf bestimmte Punkte konzentrieren, die mir besonders wichtig waren, auf einzelne Themen, einzelne Orte, einzelne Menschen. 

Das Jahr 1945 mosaikartig zusammengebaut

? Sie haben Tagebücher durchforstet, Briefe, und es gibt Augenzeugenberichte. Heißt das, Sie haben auch Menschen getroffen? 

! Ich habe niemanden persönlich getroffen. Bis auf Kinder und Enkel von Protagonisten. Aber das war genau die Idee von „1945“. Schon beim Film stand von Anfang an die Frage: Was ist, wenn es keine Zeitzeugen gibt? Nähern wir uns dem Thema und dem Stoff trotzdem? Wie kommt man hinter seine eigene Vorstellung, hinter seine eigene Phantasie über die Zeit? Das war ein wesentlicher Punkt: Zurück zu den Quellen. So entstand die Idee, dass ich mir Tagebücher von Menschen ansehe, die damals gelebt und ihre Gedanken aufgeschrieben haben. So konnte ich es aus dem Moment heraus erzählen, auf Augenhöhe mit den Menschen. Um ein komplexeres Bild zu erhalten und sich nicht nur auf einen Einzelnen zu beschränken, kommen ganz viele zu Wort, und man baut mosaikartig das Jahr 1945 zusammen – aus verschiedenen Perspektiven, in der Hoffnung, dass es mehr ergibt als die Summe der Einzelteile. 

? Es kommen im Buch viele verschiedene Personen zu Wort. Offiziere der russischen Armee, wie zum Beispiel Konrad Wolf, der BBC-Reporter Richard Dimbleby und ganz einfache Menschen, wie Gustav Palis aus dem Volkssturm oder Brigitte Eicke. Am Ende des Buches gibt es Einträge von Erich Kästner, Erika Mann und Burton C. Andrus, dem Kommandanten des Kriegsverbrechergefängnisses in Nürnberg. Nach welchem Schema haben Sie die Menschen im Buch zu Wort kommen lassen? Wie haben Sie die Auswahl getroffen?

! Ich bin methodisch vorgegangen. Das ist so wie auf einer Pinwand: Ich habe unfassbar viele Karteizettel beschrieben. Als ich in Archiven gesessen habe, gab es um mich herum viele junge Menschen, und ich war der Einzige mit einem Bleistift und Karteikarten. Ich notiere mir, wer hat was gesagt und wo, mache mir Stichwörter, und dann denke ich mir: Okay, das könnte ein Zitat sein. 

? Wie ein großes Puzzlespiel?

! Ein großes Puzzlespiel, genau. Dann ordne ich die Karteikarten chronologisch: Januar, erste Woche, zweite Woche, dritte Woche, Tag für Tag. Anschließend hefte ich die Karteikarten an eine große Wand und überlege, wie ich all das, was hier zu mir spricht, in eine Ordnung oder eine sinnvolle Abfolge bringen kann oder in eine, die eine Aussage hat. Dann ist es oft so, dass man mal mehr bei dem einen Protagonisten ist und dann mal mehr bei einem anderen. Oder man ist mehr bei Leuten an der Front oder bei Menschen in Berlin, die die Front nur hören. Oder wenn ich denke, jetzt bin ich zu nett zu den Deutschen, dann gehe ich mal dahin, wo ihre Verbrechen aufscheinen. Das ist so ein Spiel, das eher intuitiv ist, aber natürlich gestützt auf Quellen. Ich sage deshalb auch, dass das Buch kein Sachbuch ist, es ist aber auch kein Roman, sondern es ist so ein „Sachma“, eine Erzählung, die sich auf Quellen stützt. 

Parallelität von historischen Ereignissen und Alltag

? War beim Lesen der Tagebücher und Briefe am Ende des Jahres 1945 ein wenig Optimismus zu spüren, der zu Beginn des Jahres 1945 noch nicht vorhanden war, weil noch Krieg herrschte? Wechselte die Stimmung?

! Das hing damit zusammen, wer die Menschen waren. Wer in Nürnberg oder in Lüneburg einsaß, hatte sicher keine gute Stimmung. Wer wie Adolf Eichmann auf der Flucht war, sicher auch nicht. Menschen, die ins Nazi-System verstrickt waren und daran geglaubt hatten, waren sicher auch nicht optimistisch. Ich denke, das Jahr 1945 war eine Ur-Erfahrung – wie ich sie ähnlich, aber nicht so brutal, 1989 gemacht habe.
Da krachte auch ein historisches Ereignis, nämlich der Mauerfall, in meinen Alltag. Ich wohnte zu der Zeit in Berlin direkt an der Mauer, konnte von meiner Wohnung auf den Mauerstreifen schauen. Und eines Tages war die Mauer weg. Mich hat diese Parallelität von historischen Ereignissen und Alltag überrascht. Man ist trotzdem jeden Morgen aufgestanden, hat sich die Zähne geputzt, ist einkaufen gegangen. Und gleichzeitig passierte etwas, was viel größer war als man selbst und der eigene Alltag. Das hat mich auch am Jahr 1945 fasziniert: Da passiert auf der einen Seite etwas, was riesig ist und für die einen katastrophal, für die anderen eine Befreiung, eine notwendige Befreiung. Gleichzeitig ist da dieser Alltag. Die Menschen stehen trotzdem jeden Morgen auf, müssen etwas essen. Das habe ich versucht, in diesem Buch zu erzählen: diese Kontinuität des Alltags. Jemand wie Brigitte Eicke zum Beispiel, die quasi durch das Buch hindurchgeht. Sie steht dafür, dass es immer weiter und weiter und weiter geht. Sie ist jung, will im Jahr 1945 trotzdem tanzen, trotzdem ins Kino gehen, will trotzdem ihr Leben leben. Das ist eine erstaunliche und manchmal auch erschreckende Kraft der Menschen: einfach weiterzumachen. Andere können das nicht. Viele aus Angst oder aus Scham, weil sie nicht mehr an die Welt glauben oder weil sie einfach zu erschöpft sind. 

 ? Oder weil die Welt für sie untergegangen ist. 

! Für viele war eine Welt untergegangen, sie hatten Angst vor dem, was kommen würde. Da gibt es viele Brüche und gleichzeitig Kontinuität. Ich glaube, das, was untergegangen ist, wird in diesem Weitermachen gar nicht so sehr realisiert. Das ist interessant. Keiner stellt sich in all den Tagebüchern die Frage: Was haben wir da eigentlich veranstaltet? Was war das in den letzten zwölf Jahren? Welche Verantwortung haben wir dafür? Überhaupt nicht. Da geht es tatsächlich nur ums Weiterleben.

Das vollständige Interview lesen Sie in der Printausgabe 

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